10
Aas
Die Rückfahrt verlief schweigend, und Adam setzte Esther an einem Taxistand ab, weil sie zu Anders’ Haus wollte, während es ihn dazu drängte, einfach nur umherzufahren. Und die vornehmen Hills wollte er jetzt um keinen Preis sehen. Er konzentrierte sich auf das Schnurren des Motors, achtete darauf, wie der Wagen auf der Straße lag, und ließ seine Aufmerksamkeit nur allzu gern von den unzähligen Reklametafeln einfangen, die die Stadt in der Dämmerung in buntes Licht tauchten.Was auch immer sich zwischen Esther und ihm abgespielt hatte, er konnte sich jetzt unmöglich damit auseinandersetzen. Er musste seinen Geist dazu bringen, sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Etwas Naheliegendem wie der Aufgabe, die er übernommen hatte, obwohl sie - zu seiner eigenen Verwunderung - keinerlei Reiz auf ihn ausübte.
»Dann wirst du dich eben dazu zwingen«, versprach er sich selbst, als er in eine schmale Sackgasse fuhr und den Motor abstellte.
Esthers Liste war Zeile um Zeile mit Informationen bedruckt. Informationen, die ihm davon erzählten, was auch Anders bereits herausgefunden hatte: Einer von ihnen schwelgte im Blutrausch. Weder war er in der Lage, den Opfern gerade so viel abzuverlangen, dass sie lebendig davonkriechen konnten und der Dämon trotzdem zufrieden war. Noch versteckte er die blutleeren Überreste vor neugierigen Augen.
Allerdings gelang es Adam, noch etwas anderes herauszulesen - und wenn Anders es ebenfalls bemerkt haben sollte, so hatte er es Esther gegenüber zumindest mit keinem Wort erwähnt. Außer dem Blutdienst gab es noch einen weiteren Nenner: Wer auch immer die Opfer auf so unterschiedliche Weise zur Schau gestellt hatte, war ein Meister auf diesem Gebiet.
Der Einzige unter ihresgleichen, der das Opfern um seiner selbst willen liebte, war allerdings zurzeit nicht in der Stadt, soweit Adam wusste.Außerdem war Lakas ein Pfuscher auf diesem Gebiet, nach allem, was er damals in Paris aufgeschnappt hatte. Den Anblick des aufgebrochenen Brustkorbs, den Truss ihm stolz präsentiert hatte, hatte er nicht vergessen. Nein, Lakas war zu ungeschickt, so viel stand fest.
Er warf die Liste auf den Beifahrersitz, stieg aus und schlug die Tür mit mehr Kraft zu, als notwendig war. Nur mit Mühe konnte er dem Bedürfnis widerstehen, vor Anspannung die schmale Straße auf und ab zu rennen, obwohl es in ihm summte wie in einem Hornissennest. Gegen seinen Willen sah er durch das Seitenfenster nochmals auf die Liste. So langsam breitete sich doch noch Jagdfieber aus.
In L.A. war also ein Meister der Opferung unterwegs, und niemand außer ihm wollte dessen Spuren richtig gelesen haben. Zwar war Adam sich der Einzigartigkeit seiner Gabe bewusst, aber für seinen Geschmack lag dieser Hinweis auf den Unbekannten zu deutlich auf der Hand. Bei Anders mochte es noch angehen, dass er darüber hinwegsah, aber Rischka war eine gewitzte Frau. Sie hätte von selbst darauf kommen müssen, dafür brauchte sie ihn eigentlich nicht. Oder … es steckte mehr dahinter, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.
Plötzlich gefiel Adam die Aussicht auf die bevorstehende Jagd besser als erwartet.
Einmal angenommen, Rischka wusste mehr darüber, warum hatte sie dann ausgerechnet ihn in die Stadt gerufen? Es musste ihr schließlich klar sein, dass er den Unbekannten ohne großen Aufwand finden würde.
Dann kam Adam ein Gedanke, der das Ganze unendlich viel interessanter machte: Es ging Rischka nicht darum, dass er bloß den Übeltäter stellte. Sie kannte seine Gabe gut genug, um zu wissen, dass er die Spur mühelos würde lesen können. Sie führte etwas anderes im Schilde. Ja, das klang eindeutig nach der Frau, die er auf dem Hausboot an der Seine kennengelernt hatte. Rischka verfolgte immer eigene Ziele. Nun galt es herauszufinden, warum sie Anders’ Problem vorgeschoben hatte, um ihn hierherzulotsen. Und warum sie Esther die Sache mit dem blutigen Hinterhof in den Kopf gesetzt hatte, obwohl diese Fährte laut Anders doch eine Sackgasse war … Genau damit würde er anfangen, entschied er.
Adam verschränkte die Hände hinter dem Nacken und atmete tief durch. Die Sackgasse stank nach den Abfällen, die sich an den Hausmauern türmten, aber das kümmerte ihn nicht. Auch das wütende Gebrüll eines Mannes in einem der Apartments oder der einsetzende Regen störten ihn nicht. Er war gerade dabei, einen Grund dafür zu finden, warum es sich lohnte, in Los Angeles zu bleiben. Einen anderen Grund als zwei sturmgraue Augen, die ihn mit Missachtung straften, weil sie nicht mehr als einen Dämon in ihm sahen.
Erneut führte Adam sich jedes Detail der Opferungen vor Augen, nur um mit jedem Moment mehr Ehrfurcht zu empfinden. Von ihnen ging eine dunkle Magie aus, die seine Sinne aufrührte, ohne dass er sich dagegen wehren konnte.
Blut, säuselte der Dämon verträumt und aalte sich in der Erinnerung an Opferungen, die Adam ihm dargebracht hatte. Blut, Blut, sang er leise. Wie eine Beschwörungsformel raunte er das Wort, das seine ganze Existenz umfangen hielt. Ein Singsang, den Adam im Verlauf der gemeinsamen Jahre erst zu hassen und dann auszublenden gelernt hatte - was er auch jetzt tat. Sollte der Dämon ruhig seinen Träumen nachhängen, solange es ihm gelang, seine Jagdinstinkte unter Kontrolle zu halten.Was ihm in dieser Situation allerdings nur schwer glückte.
Unwillkürlich musste er an das Geschwisterpaar denken, das er vor einem Menschenleben in Paris auseinandergebracht hatte. Was hätten sie gemeinsam doch bloß für ein dämonisches Dreieck ergeben, dachte Adam mit einer aufsteigenden Erregung, ekelte sich aber im nächsten Moment vor sich selbst. Mit Truss’ Liebe zum Töten hatte er kein Problem gehabt, da er für die Auswahl der Opfer verantwortlich gewesen war und keinem von ihnen eine Träne nachweinte. Auch wenn er bloß ein Mal Zeuge von einem Blutdienst geworden war, der von Lakas geleistet wurde, so reichten ihm die Geschichten, die Truss ihm mit sehnsüchtigen Augen erzählt hatte, um zu wissen, wie sehr er diese Gabe verabscheute. Das Jagen der Opfer war schon grausam genug, danach sollte eigentlich nur noch der Tod warten.
Passend zu den düsteren Bildern, die ihm vor den Augen tanzten, hörte Adam den spitzen Aufschrei einer Frau. Zunächst gab er nur ein widerwilliges Grollen von sich, weil er seinen Gedankengang nicht unterbrechen wollte. Dann ging der Schrei jedoch in ein Betteln und schließlich in ein beschwörendes Flüstern über, dem er sich nicht länger entziehen konnte. Das zornige Geschrei eines Mannes, das er schon zuvor gehört hatte, setzte erneut ein, gefolgt von einer zuschlagenden Tür und dem Trommeln kräftiger Fäuste dagegen.
Adam legte den Kopf in den Nacken, um zu dem Fenster aufzuschauen, durch das der Lärm drang. Er musste blinzeln, da ihm Regentropfen in die Augen schlugen - er hatte ganz vergessen, dass es regnete. Zwar mochte das Fenster groß genug für ihn sein, aber in einer Höhe von gut dreieinhalb Metern alles andere als einfach zu erreichen.
Der Dämon hielt unvermittelt in seinem Singsang inne.
Dann brach die Tür mit einem lauten Dröhnen aus dem Rahmen, und die Frau schrie erneut.
Nun mach schon, forderte der Dämon ihn auf.
Hastig streifte Adam sein Jackett ab, stemmte sich mit dem Fuß gegen die Stoßstange seines Wagens, ohne auf deren Ächzen zu achten, und nutzte den Schwung, um den Fenstersims zu erreichen. Mit unmenschlicher Kraft und Geschmeidigkeit zog er sich hoch und trat das Glas ein, ehe er ins Innere glitt.
Ein schäbiges, karg eingerichtetes Wohnzimmer, das durch die aus den Angeln hängende Tür kaum elender aussah. Mit ein paar schnellen Schritten durchquerte Adam den Raum und fand sich im Badezimmer wieder, in dem ein großer, schwerer Mann gerade den Kopf einer Frau unter den laufenden Wasserhahn hielt, als wolle er sie ertränken. Verzweifelt wehrte die Frau sich, doch es gelang ihr nicht, sich zu befreien, und ihre Bewegungen verrieten bereits eine bedrohliche Erschöpfung.
Ohne länger abzuwarten, drehte Adam dem Mann den Arm auf den Rücken und riss ihn mit Gewalt von der Wanne fort.
Benommen richtete die Frau sich auf, wobei ihre Hand auf dem nassen Emailgrund wegrutschte und sie das Gleichgewicht verlor. Trotzdem weigerte sie sich, die andere Hand, in der sie einen schmalen Streifen Papier hielt, zu Hilfe zu nehmen. Es reichte jedoch, damit Adam einen Blick auf ihr Gesicht werfen konnte. Blutergüsse und Platzwunden, bestimmt nicht zum ersten Mal.
Der Mann hatte seine Überraschtheit überwunden und fing ihn wüst zu beschimpfen an. »Wer immer du auch bist, ich bringe dich um, du Gott verdammter Hurensohn! Ich werde deinen Scheißschädel in die Toilette rammen, ich werde …«
»Halt’s Maul«, knurrte Adam ihn genervt an.
Für ihn war es in diesem Moment viel wichtiger, einen weiteren Blick auf die misshandelte Frau zu erhaschen, unschlüssig, was er tun sollte. Mit bebenden Schultern richtete sie sich auf und wischte sich das Haar fort, das ihr wie nasser Seetang in der Stirn klebte. An ihrer Hand blinkte ein Ehering auf.
»Lassen Sie Otis bitte los«, sagte sie mit einem schweren russischen Akzent. »Die Neuigkeit mit dem Baby war zu viel für ihn.«
Adam schluckte.
Otis nutzte den Augenblick, um Adam mit seiner gesamten Körpermasse einige Schritte abzudrängen, bis er mit dem Rücken hart gegen die Wand knallte. Mit einem Schlag wich ihm sämtliche Luft aus den Lungen, trotzdem gab Adam den Griff nicht auf.
»Lass los, oder ich zerdrücke dich wie eine Fliege an der Wand«, warnte Otis und stemmte sich bereits nach hinten, um seine Drohung wahrzumachen.
Doch Adam war schneller: Er riss Otis’ Arm ein Stück nach oben, bis der seinen Widerstand aufgab. Dann umrundete er den vor Schmerzen grunzenden Mann und keilte ihm in den Magen. Als Otis auf die Knie zu sinken drohte, packte Adam ihm ins wirr abstehende Haar und schlug ihn mit der Stirn mehrmals auf den Waschbeckenrand, bis sich ein Sprung im Porzellan auftat, in den sogleich blutige Schlieren einsickerten.
Im Hintergrund schluchzte die Frau wie ein kleines Kind, aber Adam hatte in diesem Augenblick nur Aufmerksamkeit für eine andere Stimme.
Meins, hauchte der Dämon beim Anblick des Blutes.
»Du willst ihn?« Ein kaltes Lächeln breitete sich auf Adams Gesicht aus. »Du kannst ihn haben. Nichts lieber als das.«
Mit festem Griff packte er den Mann vorn am Hemd, bevor der endgültig in sich zusammensank. Während er nach dem Rasiermesser auf der Ablage griff, sah er im Spiegel die Frau an. Ihr Gesicht war nicht mehr als eine mit dunkelroten Flecken übersäte Maske des Entsetzens. Unschlüssig setzte sie einen Schritt auf Adam zu und streckte die Hand nach ihm aus. Er hätte nicht sagen können, ob sie auf ihn einschlagen oder ihn einfach nur berühren wollte, weil sie ihn für einen herbeigebeteten Racheengel hielt.
Unterdessen begann Otis, sich wieder zu regen, was Adam mehr als lieb war. Der Dämon mochte es nicht, wenn seine Opfer bewusstlos waren, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte, ihnen das Leben zu nehmen. Und in diesem Fall war Adam ganz seiner Meinung.
»Mach, dass du rauskommst«, sagte er zu der Frau. »Und komm erst wieder, wenn die Polizei bereits eingetroffen ist. Dann erzählst du ihnen einfach von einem Raubüberfall, der außer Kontrolle geraten ist. Witwen weisen sie nicht aus, vor allem keine schwangeren.«
Die Frau rang ihre Hände, und einen Moment lang befürchtete Adam, sie könnte zusammenbrechen. Da straffte sie jedoch ihre Schultern und hielt auf die ramponierte Tür zu.
»Danke«, flüsterte sie, ohne ihn dabei anzusehen.
Adam wog noch einmal das Rasiermesser in seiner Hand.
Otis blinzelte ihn durch tränende Augen an, während seine Lippen eine weitere Verwünschung ausstoßen wollten. Allerdings kam Adam ihm zuvor. »Fütterungszeit«, sagte er, zwang den Kopf des Mannes in den Nacken und setzte die Klinge an dessen Halsschlagader an.
Es brauchte nur eine rasche Bewegung, und der Dämon frohlockte in einer Stimmenvielfalt, die kein Orchester der Welt übertreffen konnte.
Nachtglanz - Heitmann, T: Nachtglanz
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