XXXV
Javier spricht
Und dennoch schmerzte mich dieser kleine Tod. Und steckte in mir, wenn ich aufwachte und wenn ich mich schlafen legte, in diesem unregelmäßigen Rhythmus von Arbeit, Essen, plötzlichem Einnicken und jähem Erwachen, wenn ich mich fühlte, als packte mich etwas an den Haaren und zöge mich zu den Farben und Pinseln; in jedem einzelnen dieser Augenblicke pulsierte dieser kleine Tod in meinem Körper wie ein eiternder Spreißel oder ein Kugelsplitter.
Um Trauer ging es dabei nicht – ich hatte mich noch gar nicht an ihn gewöhnen können, und dass er als zweiten Vornamen den meinen trug, bedeutete mir nicht viel; es ging eher um das Bewusstsein, dass er sich vor all dem drückte, dass er entwischte, in den Tod platschte wie ein weißer Kiesel in schwarzes, stehendes Wasser; ich beneidete ihn einfach, weil ich selbst nicht darauf gekommen bin, als ich war wie er: klein wie eine Larve, rosig, sabbernd, blindlings die Finger bewegend, allem mit dem Blick folgend.
Wieviel einfacher wäre mein Leben gewesen: ein paar Tage, Wochen, vielleicht Monate, der Arbeit der Därme gewidmet. Nicht einmal meine Familie hätte ich gekannt, wäre taub gewesen für die Worte meiner Angehörigen, und sie wären taub für mein Gebrabbel gewesen. Keine Ehefrauen, Väter, keine eigenen Kinder, keine Romanzen und keine Bilder, kein Besitzen, Kaufen und Verkaufen; ja – ein kurzlebiger Darm sein, der verdaut, verdaut und verreckt. Und mit mir wären auch Mariano und Marianito verschwunden und noch einige andere Menschen, die mein unbedachtes Am-Leben-Bleiben zum Auf-die-Welt-Kommen verurteilte.
Ich malte, und während ich malte, beneidete ich ihn. Was wäre gewesen, dachte ich, wenn es mir so ergangen wäre wie ihm. Statt an der Wand zu stehen und mit breitem Pinsel Farbe aufzutragen, wäre ich damit beschäftigt gewesen, reglos in einem kleinen Sarg zu liegen. In meinem butterweichen Fleisch hätten Engerlinge gewimmelt, Taußendfüßler wären durch meine Augenhöhlen gekrochen, Asseln über meine feinen Knochen gelaufen. Niemand hätte sich darum gekümmert, wem ich ähnlich sei, ich hätte die Ähnlichkeit der Eltern und Großeltern nicht auf die Kinder und Enkel übertragen – wäre ich doch nur all den anderen sich zersetzenden Körpern ähnlich gewesen, allen meinen Brüdern und Schwestern: Antonio, Eusebio, Vincento, Francisco, Hermengilda, María de Pilar, die sich mit Bleiweiß überfressen haben wie mit giftigen Bonbons.
Nicht, dass ich jeden Tag malen würde. Ich muss ja nicht davon leben. Ich habe auch freie Tage. Sie beginnen wie die arbeitsamen mit dem Aufstehen und enden mit dem Zu-Bett-Gehen. Kein Rumliegen im Nest, kein Starren auf die Wand. Ich habe schon genug auf Wände gestarrt – sowohl früher, damals, auf ein Stückchen abblätternden geweißten Putz über dem Ehebett des glücklichen Brautpaars Javier und Gumersinda, als auch jetzt, da ich mir aus der Nähe ansehe, was gleich unter der Farbe verschwinden wird: die glatten und rauhen Teile, die Narben, die Poren, in die das glänzende, nasse Grün eindringen, die es verkleben wird. Was also tue ich, wenn ich nicht im Bett liege und auf die Wand glotze? Ich könnte wie ein alter Mann die Erde bepflanzen, mich um die Artischocken kümmern, Vögel und Hasen jagen. Mariano wäre entzückt, wenn ich mich mit dem Garten befassen, die Gärtner und Arbeiter anschreien, Gräben buddeln und bewässern lassen würde, einen Brunnen bauen, Spaliere anlegen.
Aber ich gehe nur spazieren. Im Gehen ist viel unverbindliche Freude, sogar wenn es so warm ist wie in letzter Zeit und man doch etwas ins Schnaufen und Schwitzen gerät. Vielleicht verstehe ich ja nicht die Gelüste des Alten und des Jungen, sich die Erde untertan zu machen, dieses Umgestalten, Pflanzen, Züchten, aber ich verstehe die Freude, um sein eigenes Stückchen Erde herumzugehen. Um mein Stückchen – ich habe ein Papier dafür. Einem Fremden kann ich sagen: Verlasse mein Grundstück. Du trittst es nieder, das will ich nicht. Ich kann mit einem Stöckchen in der Hand darauf herumspazieren, mit diesem Stöckchen wedeln und die Wäscherinnen am Manzanares betrachten, die Felder, die Stadt in der Ferne, die in der Sonne leuchtet wie ein glühendes Stück Kalk.
An solchen Tagen kommt niemand. Überhaupt kommt niemand, auch nicht an arbeitsamen Tagen, und wenn einer kommt, so steht ohnehin Felipe an der Tür und sagt, der Herr sei nicht da oder der Herr sei beschäftigt, und der Fall ist erledigt; dann kann ich weitermalen, es sei denn, es ist Mariano oder Gumersinda – bei ihnen muss ich mich fügen. Mich von der Wand losreißen, die Leiter heruntersteigen, den Pinsel weglegen, die Hände abklopfen. Aufpassen, dass sie keine frische Stelle berühren, sie am besten gar nicht in den neuen Flügel lassen, weder ins Parterre noch ins Obergeschoss. Aber an freien Tagen muss ich niemanden unverrichteter Dinge wegschicken, keine Menschenseele, als würden alle an jenem Tag Urlaub von Javier Goya machen, als würde er Urlaub von der Welt machen und die Welt von ihm. Dann kann ich über die Hügel und Felder gehen, mir Eidechsen ansehen, trocknende Gräser. Steine. Jeder zweite Stein hat ein Gesicht; natürlich schämen sich die Menschen, das zuzugeben: Als Kinder haben sie es gesehen, aber später schämten sie sich dafür. Die restlichen Steine haben auch Gesichter, nur versteckte – ähnlich wie die menschlichen, nicht alle sind offen. Deshalb habe ich mich so gewundert, dass dieser Mann ausgerechnet an einem freien Tag zu mir kam, nach meinem Vormittagsspaziergang, nach dem Essen, als ich gerade vom Tisch aufstand und mich zur Siesta anschickte.
Außer Atem trat er ein, stellte sich nicht einmal vor, zog nur ein großes Paket unter dem Arm hervor. »Das sind die Briefe!«, sagte er, als brächte er mir einen Beweis, als verkündete er eine endgültige Wahrheit. Also fragte ich, was für Briefe, welche Briefe, wessen Briefe. »Was heißt welche? Was heißt wessen? Die Ihres Vaters an meinen Onkel!« Und er sieht mich an, zwinkert mit den Augen. Denn er hat soeben etwas verkündet. »Verzeihen Sie«, sage ich und wische die Hände an der Serviette ab, »mit wem habe ich das Vergnügen?« Und er wieder in diesem Verkünderton, wie ein Herold, wie die Tirana auf der Theaterbühne: »Ich bin Francisco Zapater y Gómez, der Neffe von Martín Zapater!«
In der Tat, ich erinnere mich, da war ein Zapater, vor etwa dreißig Jahren ist er gestorben, er ist manchmal zu uns gekommen und mit dem Alten auf die Jagd gegangen. Sie fuhren für ein paar Tage hierhin oder dorthin, schossen ein bisschen herum und gingen dann wieder nach Hause, der eine nach Madrid, der andere nach Saragossa.
»Das heißt, Sie haben Ihre gar nicht gelesen?«, fragt er und blinzelt wieder, erstaunt. »Was heißt da welche« gibt er auf meine erneute Frage zurück, »die Briefe meines Onkels an Ihren Vater natürlich. Die müssen irgendwo sein. Entweder hier oder in Madrid; ich weiß, dass Sie in Madrid auch ein Haus haben, da war ich schon, Ihre Frau hat mich hierher geschickt. Ich habe meine, das heißt, die von Ihrem Vater, und Sie haben Ihre, das heißt, die von meinem Onkel. Es sei denn, er hätte sie vernichtet. Kann er sie vernichtet haben? Bevor er gestorben ist? Vielleicht hat er sie vernichtet? Oder vielleicht haben Sie sie vernichtet? Meine sind hier. Aber was soll man mit ihnen machen? Vernichten?«
Er war ein äußerst lebhafter Mensch und redete sehr schnell, ungeschickt zudem, er zitterte, zwinkerte, spuckte ein bisschen, wie eine Kirmespuppe, die auf der Bühne herumzappelt; ich konnte den Blick nicht von ihm wenden – er warf die Arme in die Luft, dann duckte er sich, streckte die Finger von sich, ballte sie zur Faust … So viel Bewegung hatte das Haus seit Marianos Hochzeit nicht mehr gesehen.
»Vernichten« sage ich, »wieso denn?« Aber er versteht offensichtlich nicht, macht den Mund auf, schließt ihn wieder, rudert mit den Armen, krümmt und richtet sich wieder auf: »Haben Sie nicht gelesen? Ha, dann lesen Sie mal, bitte, erledigen wir das unter Männern!« Und er packt die Briefe aus, sucht einen bestimmten, man merkt, er kennt sie hervorragend, hat sie mehrmals durchgesehen. »Bitte sehr! Bitte! Und noch der hier! Und dieser! Bitte!« Er breitete sie vor mir aus, bedeckte damit den ganzen Tisch, an dem ich gerade gegessen hatte, rings um den Teller, das Glas, die Schüssel mit dem Viertel Hühnchen. Mit dem Finger zeigte er auf einzelne Ausschnitte. Mit einem der Briefe hatte er einen großen Tropfen Olivenöl zugedeckt, der jetzt, von dem Papier aufgesaugt, zu einem großen runden Fleck wurde.