Javier spricht

Die Pinsel waren aufs schönste geordnet; die Farben waren alle eingetrocknet, aber die Pigmente, die ich im Atelier gefunden hatte, glänzten jungfräulich rein, wie vor dreißig Jahren. Ich befahl Felipe, den Tisch zu decken, danach schickte ich ihn mit einer Einkaufsliste in die Stadt zu Don Millares, dessen Vater und Großvater dem alten Eber – und zuvor schon Mengs und Tiepolo – Farben, Öl und Leinwand geliefert hatten, und ging ins Obergeschoss etwas essen.

Ich setzte mich ans Fenster, so dass ich den schmalen Streifen des Manzanares sah, das benachbarte Gut direkt am Ufer, die Wäscherinnen, die auf den Steinen saßen wie eine Schar Hennen, und über ihnen – die Stadt, ihre Türme und Kuppeln, die in der Sonne des frühen Nachmittags schimmerten wie die Knochen eines Riesen, von Gewürm bewohnt. Gewürm, das mit Kutschen fährt, Gewürm, das kauft und verkauft, das sich in ganzen Strömen über die Erde wälzt, verstohlen in seinen Höhlen verschwindet, dunkle Gänge baut für seine widerlichen Unternehmungen; eine Leiche, bewohnt von Pläne schmiedenden Larven, eine Bruchbude voller Kakerlaken.

Hier in der Nähe erstreckte sich unser Land, das der Dachs mit dieser Hartnäckigkeit bewirtschaftet hatte: ein kleiner Weinberg, Spaliere von Kirsch- und Apfelbäumen, Beete, in denen früher prächtiger Lauch und riesige Artischocken wuchsen; wie war doch alles verfallen mit den Jahren, in denen keiner sich um Ernte oder Bewässerung kümmerte; hier und da ragten aus der verbrannten Erde Stangen, an denen sich einst etwas gerankt, etwas seine grünen Fangarme ausgestreckt hatte; jetzt hingen da nur noch Knäuel von vertrockneten Stengeln und Blättern. Die Obstbaumspaliere waren gelichtet: Hier war ein Baum vom Wind abgebrochen, dort einer von den Hasen angenagt, die bisweilen direkt ans Haus herankamen, an anderer Stelle hatte Felipe oder einer seiner Vorgänger so lange zu gießen vergessen, bis der Baum spantrocken war, wie Asche. Nur die Pappeln hielten sich irgendwie, und selbst bei fast stehender Luft konnte man ihr leichtes, silbriges Wogen sehen. Mariano hatte eigentlich etwas Neues dort gestalten wollen – zuerst wollte er alles planieren und einen englischen Park anlegen, dann den ursprünglichen Garten aus der Zeit seines Großvaters wiederherstellen, später eine malerische künstliche Ruine errichten; unbeständig und unruhig wie er war, konnte er sich nicht entschließen. Entsprechend sah es aus: Irgendwo am Rand lag ein Häufchen Erde, anderswo waren neue Bäumchen gepflanzt, an der Stelle alter, die eingegangen waren und hatten entfernt werden müssen; aber auch die neuen wurden vergessen und vom gleichen Schicksal ereilt. In der Nähe des Schuppens lagen Steine auf einem Haufen, aus einem heruntergekommenen Kloster, zwei Säulen und ein paar bearbeitete Felsbrocken, die allmählich in die Erde wuchsen. Alles wild durcheinander, ohne Sinn und Verstand. Großer Appetit und erbärmlicher Wille – daraus sind wir gemacht.

Jetzt, dachte ich, ein Artischockenherz betrachtend, müssen wir sogar die Artischocken kaufen. Mitten in der Saison. Dabei hat es früher so viele davon gegeben. Und was für prächtige. Und auch eine Käserei wollten wir ja noch einrichten, das wäre was gewesen; wäre der alte Dachs in Spanien geblieben, hätte er diesen Ort total verändert. Was für ein Glück, dass es anders kam. Ich liebte diese Atmosphäre von Verlassenheit und Vernachlässigung: den schiefen Schuppen, die lückenhaften Spaliere, die mickrigen Trauben. Ich stellte den Stuhl vom Tisch weg und schaute, den Kopf in die Hände gestützt, immer schläfriger auf diese mutig nicht bestellte Einöde, dieses Denkmal der Untätigkeit; man hatte die Aufgabe boshaften Gärtnern anvertraut: dem Wind und der Hitze. Was für ein herrliches Elend.

Erst Felipe weckte mich auf, der mit fürchterlichem Lärm Kisten, Schachteln und Flaschen, die ich bei Millares bestellt hatte, vom Wagen lud und über die Schwelle zerrte; ich schlug die Augen auf, drehte den steif gewordenen Hals, wischte mir den Mund ab, an dem ich noch einen Rest Olivenöl spürte, und sprang auf. »Javier«, sagte ich mir, »die Arbeit ruft.«

Obwohl ich damals noch nicht die geringste Ahnung hatte, was mich erwartete.

In der Ecke des Saals im Parterre blieb ich stehen, hielt mich fest und schob das Sofa von der Wand weg, damit es nicht verspritzt würde; auf den Boden legte ich alte Lappen aus dem Atelier des Ebers, der sich natürlich nie darum scherte, ob er etwas verschmutzte, versaute oder versudelte; er spritzte alles voll, hielt in einer Hand drei Pinsel, mit dem einen malte er, mit den beiden anderen blieb er mal an den eigenen Kleidern, mal an einem daneben trocknenden Bild hängen; Mutter ließ ihn mit dem Pinsel nie aus der Werkstatt; so hatten sie es abgemacht, und er hielt sich – o Wunder – bis zu ihrem Tod an diese Vereinbarung; erst danach wurde er so dreist, die Staffeleien hinzustellen oder seine Radierwerkstatt einzurichten, wo es ihm beliebte; später, als wir das Haus für die Jungen umbauten, mussten wir alles reinigen. Nicht einmal diese Weiss schaffte es, ihn im Zaum zu halten, auch in Bordeaux war alles voller Flecken. Alles dreckig.

Ich zog den Rock aus, krempelte die Hemdsärmel hoch. Auf dem Hof mischte ich in einem kleinen Zuber Wasser mit Gips; ich weiß nicht, was der Alte dem Putz zugegeben hat, unter die Fresken – er hatte seine Rezeptur; ich jedenfalls gab ziemlich viel Bleiweiß zu, das gleiche Bleiweiß, das nach Meinung meines Onkels so viele Jungen und Mädchen der Familie Goya vergiftet und ihre potentiellen Brüder und Schwestern in Krüppel und glitschige Fetzen verwandelt hat, die im blutigen Bett landeten; ich wollte eine helle, leuchtende Grundierung. Mit Felipes Hilfe trug ich den Zuber hinein – er war schwer jetzt, voll von mattem Weiß, das nach feuchter Erde roch; und dann tauchte ich die große Kelle ein und verputzte, als wäre das die einfachste Sache der Welt, von einem Ende zum anderen den breiten Streifen aus goldenem, mit kleinen Blümchen bedruckten Perkal. Und dann den zweiten. Möbel verstellen, und weiter ging’s. Ich arbeitete wie ein Verrückter, und das war ja erst der Anfang, noch gar nichts. Blanke weiße Flächen, unter denen sich immer noch das unsichtbare feine Muster abzeichnete. Rosenknöspchen.

Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman
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