XXI
Mariano spricht
Mutter klagte halblaut, während der ganzen Fahrt. Über die Passagiere, über den Kutscher, über die Schlaglöcher. Halblaut, flüsternd, tuschel-tuschel. Tag für Tag. Sie hörte nur auf, wenn sie sich ins Bett legte, aber auch danach vernahm ich durch die Trennwand, wie sie im Schlaf brummte. Wir kamen am späten Nachmittag des achtundzwanzigsten an, um rechtzeitig zum Geburtstag dazusein. Dem zweiundachtzigsten. Man weiß ja, wie Großvater ist – er freute sich mehr über uns als über die Geschenke. Und mehr über das, was er für uns vorbereitet hatte, als über das, was er von uns bekam. Was er bekommen sollte, denn wir haben es ja nicht mehr geschafft. Am ersten Tag trafen wir Brugada und Molina an, den Großvater seit einiger Zeit malte; das unvollendete Bild steht übrigens noch auf der Staffelei, von einem dünnen Leinentuch verhüllt. Wir hörten zu, wie Rosario auf dem Flügel lustige Stücke spielte, die sie gerade gelernt hatte – und es war so nett, dass Großvater, der zuvor Molina »wenigstens für zehn Minuten« ins Atelier schleppen wollte, um das Porträt zu beenden oder zumindest eine neue Schicht Schatten aufzutragen und ein bisschen am Rock zu arbeiten, beschloss, doch zu bleiben und noch ein bisschen Rosario »zu lauschen«, obwohl er ja keinen einzigen Ton hören konnte; es genügte ihm, zu schauen, wie sie die Finger auf den Tasten bewegte, wie sie bei schwierigeren Passagen die Zunge herausstreckte; dabei amüsierte er sich besser, als wenn er den besten Toreros seiner Jugend zugesehen hätte.
Am neunundzwanzigsten aßen wir noch zusammen zu Mittag, mit Doña Leocadia und der kleinen Rosario, im Festtagskleidchen, am selben Tisch, was Mama einige Nerven kostete; es fehlte nur Giullermo, der für zwei Tage weggefahren war. Nach dem Essen half ich Großvater in den Salon, aber er sagte, aus lauter Freude über unsere Ankunft habe er einen Riesenappetit bekommen und sich schrecklich überfressen, genauer gesagt, »sich den Ranzen so vollgestopft«, dass er sich hinlegen müsse.
Tags darauf, an Großvaters Geburtstag, wurde ich von Schreien geweckt – Doña Leocadia kam ins Zimmer gestürzt, ganz zerzaust, mit rotem Gesicht vor lauter Weinen und Aufregung, und begann umständlich zu erklären, dass er um fünf Uhr morgens aufgewacht sei und kein Wort habe sagen können; er schleppte sich aus dem Bett und fiel hin wie vom Blitz getroffen, die eine Körperhälfte völlig gefühllos; sie rief das Dienstmädchen, zerrte ihn mit deren Hilfe wieder ins Bett und schickte nach dem Arzt.
Aus der Geburtstagsfeier wurde natürlich nichts – der Köchin sagte man, sie solle sich um das Essen kümmern, damit nicht alles kaputtgeht, was man für das Festmahl vorbereitet hatte; und als alle nachdenklich dasaßen und sich dann wieder nervös unterhielten, in schnellen, abgerissenen Sätzen, kam aus der Küche bald der Geruch der Marinaden, bald das gleichmäßige Hacken des Messers auf dem Brett, bald Rufe wie: »Gieß das da rein, na gieß es schon drauf!«, worauf Mutter nur mit den Augen rollte und zischte: »Gott sei uns gnädig!« Ich schloss mich im Zimmer ein und betrachtete gedankenlos das letzte Geschenk von Großvater: ein schönes vergoldetes Taschenmesser aus englischem Stahl, das er extra für mich aus Paris mitgebracht hatte. Ich habe es bis heute.
Einige Stunden später konnte er wieder sprechen, aber seine Stimme war ganz schwach. Eine zweiwöchige Agonie begann. Mutter hielt Wache an seinem Bett, auf unglaubliche Art; bereit, auf jeden Wink zu reagieren, jedem Atemzug lauschend, schlief sie nur ein paar Stunden am Tag und ertrug alle Unannehmlichkeiten mit stoischer Gelassenheit, als hätte sie nicht kurz zuvor über jeden Floh, jedes Jucken, jedes Holpern zwischen Madrid und Bordeaux gejammert; eine wahre Allegorie der Fürsorge, ganz nach dem Geschmack von Mengs; erst gegen Ende begriff ich, worum es ihr ging. Sie war bemüht, niemanden ins Schlafzimmer zu lassen; die Kunde von der schweren Krankheit hatte sich schon herumgesprochen, und die Leute kamen, um sich vom »Meister« zu verabschieden; brüsk wurden sie abgefertigt; nur für Doña Leocadia machte Mutter eine Ausnahme – als wäre sie selbst hier Hausherrin und nicht Gast –, aber auch das tat sie mit größtem, unverhohlenem Unwillen. Und natürlich für die alten Freunde, Molina und Brugada, wobei letzterer gar nicht so alt ist, nur zwei Jahre älter als ich. Selbst wenn die Köchin von sich aus, ohne dass man sie gebeten hatte, einfach aus Freundlichkeit, Großvater Wasser bringen wollte, trat Mutter aus dem Zimmer, schloss die Tür hinter sich, nahm ihr das Glas ab und ging erst wieder zurück, wenn die Köchin hinuntertrabte. Und auch da öffnete sie die Tür nur einen Spalt, so dass man nichts sehen konnte, nur die linke Hälfte des großen Schranks. Und sagte kein Wort dabei.
Auch er sprach nicht viel; hin und wieder gab er ein undeutliches Stammeln von sich, manchmal konnte man den einen oder anderen Ausdruck verstehen; als sein Atem schwächer wurde, hielt Brugada ihm den Kopf, wenn er gerade in der Nähe war. Er wäre vermutlich am liebsten die ganze Zeit dort geblieben, aber Mutter gab ihm zu verstehen, sie wünsche das nicht – nicht direkt, sondern sie antwortete einfach nicht, reagierte genervt oder gab sich verschlossen. Rosario ließ sie gar nicht über die Schwelle, nach dem Motto, das sei »kein Ort für Kinder«. Mit mir wollte sie es genauso machen, aber dafür war es einige Jahre zu spät; daher schaute ich immer bei Großvater vorbei, wenn ich von der Stadt kam – wie lange kann man schließlich bei einem Kranken sitzen, wo man von morgens bis abends auf Zehenspitzen gehen und flüstern muss, und das unbedingt mit Leidensmiene; ich muss zugeben, zwei Nächte habe ich mir anderweitig um die Ohren geschlagen, aber ich denke nicht, dass Großvater etwas dagegen gehabt hätte – schließlich war ich an dem Abend da, als er die Hand wieder bewegen und man ein paar Mal verstehen konnte, was er sagte; ich stand neben Mutter, die ihm gerade eine kalte Kompresse auf die Stirn legte, und hörte ganz genau: »Ich möchte ein Vermächtnis für Leocadia und Rosario machen«, und Mutter sagte mit der beruhigenden Stimme, mit der sie seit dem ersten Tag der Krankheit mit ihm sprach, mit der Engelsstimme, der zuckersüßen Stimme der Mengsschen Alegorie: »Das habt Ihr schon gemacht, Vater, ruhig, ganz ruhig, pst.« Er schlug die Augen auf, sah sie verwirrt an, überrascht, als könne er nicht glauben, dass er sich so irrte, und sie wiederholte: »Ja, es ist alles gut, jaaaa …« Erst da schloss er die Lider und fiel in einen leichten, nervösen Schlaf. »Ihr habt Glück, Mutter, dass Doña Leocadia gerade nicht da ist …«, brummte ich, und sie sah mich nur mit böse zusammengekniffenen Augen an und wandte sich wieder zum Bett.
Als er starb, war ich nicht zu Hause; ich kam gerade aus der Stadt zurück, spielt jetzt keine Rolle woher, es war kurz nach zwei, und ich begriff schon an der Schwelle, dass es vorbei war, da hing etwas in der Luft. Doña Leocadia – seltsam, dass gerade sie es war, wenn ich jetzt daran denke – kam zuerst auf mich zu und sagte, die Nase hochziehend: »Er ist einfach eingeschlafen … Sogar der Doktor war erstaunt, wieviel … wieviel Kraft er hatte … Sie sagen, dass er nicht gelitten hat« – hier versagte ihr die Stimme –, »aber das stimmt nicht … das stimmt nicht.« Und sie ging, irgendwie seltsam, als ob sie stolperte auf dem glatten Fußboden.