XVIII

Francisco spricht

Jetzt, am Kamin in Bordeaux, mit Leocadia am anderen Ende des Salons, die lachend eine im warmen Schein des Feuers orangerot schimmernde Karaffe auf das Tischchen stellt, mit alten und neuen Freunden, mit Moratin und Brugada, die uns ständig besuchen, erscheinen die vergangenen Monate wie ein Spuk, wie Ungeheuer der schlafenden Vernunft. Und dennoch: Ich, Francisco Goya, ein alter Mann von fast achtzig Jahren, habe mich wie ein junger Spund ins Ausland abgesetzt, mit einer Postkutsche! Ich wusste: Gottes Mühlen mahlen langsam, aber schließlich schnappen sie dich doch und zerreiben dich zu Pulver; vielleicht haben die Inquisitoren mich im Moment aufgegeben, aber eh man sich’s versieht, sind sie wieder da. Und dann gibt’s kein Erbarmen. Das Haus des Tauben habe ich auf mein Söhnchen, auf Mariano überschrieben, ein paar Monate habe ich mich im Hospital del Buen Suceso bei Pater José Duaso versteckt – wie auch immer, aber einen Jesuiten, einen Kaplan des Königs, rührt keiner an –, und als wäre nichts geschehen, bat ich die Höchste Majestät um Erlaubnis für die Reise zu den heißen Quellen in Plombières, denn mal plagt mich der Arm, mal das Bein, dann die Wassersucht … Und da der König gerade eine Amnestie erlassen hatte, um alle Liberalen loszuwerden, und die Kanzleien plötzlich haufenweise die Erlaubnis erteilten, das Königreich zu verlassen, als würden sie Bonbons in die Menge werfen, überquerte ich im Handumdrehen die Pyrenäen. Danach dachte ich natürlich nicht daran, meinen Hintern in warmen Quellen zu baden: Zuerst kam Paris. Marianito muss unbedingt dorthin fahren, das ist der richtige Ort für einen modebewussten jungen Herrn. Was für Reitstiefel es da gibt, was für Flinten bei den Büchsenmachern – die reinsten Juwelen! Meine früheren Französischstunden nützen mir gar nichts, niemand versteht mich hier, offensichtlich hat mich ein Trottel unterrichtet, denn ich weiß fast nichts mehr; aber es gibt genug Leute, mit denen ich Spanisch reden kann, manchmal habe ich den Eindruck, es gibt mehr Spanier hier als Franzosen – Juristen, Bankiers, Maler … Ich habe mich mit der armen Gräfin von Chinchón getroffen, die von Godoy weiterhin mit Pepita Tudo betrogen wird. Nach einem Vierteljahrhundert! Manche Dinge auf dieser Welt ändern sich, wie man sieht, nie. Der Wurstmacher ist durch ganz Europa gestreift, und man kann ihn jetzt in den Tuillerien oder Tüllerien sehen, wie er sich in der Sonne wärmt und die spielenden Kinder anstarrt … Angeblich schreibt er an einem Tagebuch – aber wer will schon etwas darüber lesen, wie er Fürst geworden ist, da doch sein einziges Verdienst war, seine Wurst unter den verwelkten Rock der alten Königin zu packen? Alle haben auf mich eingeredet, ich solle mir ein Bild mit einer Katastrophe auf See ansehen, gemalt von einem jungen Burschen, der übrigens kurz vor meiner Ankunft gestorben ist; aber angeblich ist es groß und dunkel, also würde ich sowieso nichts sehen, selbst wenn ich eine Brille auf die andere setzte. Außerdem sind schon genug Katastrophen auf See gemalt worden! Dafür habe ich die Arbeit eines Herrn Martín gesehen, eines unvergleichlichen Miniaturenmalers – was für wunderschöne Sachen. Er ist taub und stumm von Geburt an und damit viermal mehr geschädigt als ich, der ich nur taub bin und das auch nur die Hälfte meines Lebens. Ich hielt mir die dünnen Täfelchen aus Elfenbein direkt unter die Nase und dachte: He, Paco, wenn du viermal mehr geschädigt wärst, würdest du dich nicht auch vor einer großen Leinwand fürchten? Meine karierte Mütze ist ihm aufgefallen, überhaupt hat man sich in Paris sehr über sie gewundert, ich weiß gar nicht warum. Eine ganz normale Mütze.

All das ist gar nicht der Erinnerung wert, was zählt, ist das Hier und Jetzt: der Augenblick, in dem ich zum ersten Mal seit vielen Monaten Leocadia wiedersah, die unbändigen Locken, die vor ihr nur eine Frau auf der Welt hatte! Und mein Marienkäferchen, das Haus in Bordeaux, die Ruhe nach diesen Monaten der Ungewissheit; an der Grenze dachte ich, ich mach mir in die Hosen, ich sah mich schon in dem großen Gerichtssaal, die Hände gefesselt, auf dem Kopf die spitze Coroza, auf der all meine Sünden, selbst die geheimsten, aufgeführt sind … Und jetzt? Wenn es gutgeht, werde ich neunundneunzig Jahre, wie Tizian – bin gespannt, ob es mir gelingt, ihn zu übertreffen?

Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman
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