Ja, jetzt erinnere ich mich an alles: an die Luft, den Hunger, das Feuer, den Krieg. Nichts ist mir entgangen, nichts blieb mir erspart, denn auch wenn ich es nicht selbst gesehen habe, so habe ich es doch mit geschlossenen Augen gesehen, tiefer drin, mit einem zweiten Augenpaar, das jeder von uns hat, auch wenn er es zu verbergen oder auszustechen versucht. Beine – Beine, gegen die die Haustür stieß, wenn ich im Morgengrauen hinausging, wozu, weiß ich nicht mehr; ein klopfendes Geräusch, als würde Holz gegen Holz stoßen, denn sie waren dünn wie Stäbe, wie Stelzen, wie Stangen; viele solche Beine und Arme gab es damals zu sehen, Hände wie Reisigbündel, Gesichter wie eng mit Haut bezogene Kerne; und der Körper über diesen Beinen – ausgemergelt, in Lumpen gewickelt; der Kopf des Menschen gesenkt, die Augen offen; ich blieb stehen, überrascht, und versuchte zu schauen, wie er schaute, auf das, worauf er schaute, und ich sah ein Stück Brot, zwischen seine Finger geklemmt, ein Stück Brot, von einem Barmherzigen gegeben, vielleicht sogar von unserer Köchin, ein Stück Brot in einer Hand verschlossen, die es nicht zum Mund führen kann – aber jetzt kriecht zu der geschlossenen Hand ein mageres Kind, wie ein Hund, wie ein Hund mit gebrochenem Rückgrat, und greift nach dem Brot, gierig, reißt es weg, als hätte es plötzlich für einen Moment Kraft bekommen, schlingt es hinunter und erstarrt. Es wird verdauen. Weitergehen kann es nicht. Ja, all das habe ich gesehen. Ich habe brennende Städte gesehen und eine Frau mit an Pflöcke gebundenen Füßen, wie eine aufgeschlitzte Sau; fünf, zehn, fünfzehn Männer hatten sich auf sie gelegt, bevor der letzte ihr mit einem Säbel von der Brust bis zum Unterleib fuhr. Ich habe gesehen, was Metall mit dem Körper macht, was eine Granate und ein Bajonett mit dem Körper machen, ein geschliffenes Messer, eine Heugabel, die gusseiserne Spitze eines Zauns, auf die man einen gefesselten Gefangenen spießt. Aber ich habe beide Augenpaare verschlossen, ich zog es vor, mich nicht mit einem solchen Anblick zu vergiften – lebte ich doch in der Illusion, man könne die Vergiftung vermeiden.
Und jetzt sehe ich all das wieder, sehe es wie auf dem Präsentierteller: fremde Heere, die das Land verwüsten, Menschen, die Säcke tragen, voll von abgeschnittenen französischen Ohren und abgeschnittenen französischen Fingern mit Ringen, ich sehe an Scheunentoren Gekreuzigte und Bäume, deren Äste unter dem Gewicht der Gehängten brechen; ich sehe Pferde, deren Körper im Zusammenprall mit Metall ebenso geringe Chancen haben wie die Körper der Menschen, und ich sehe Gewehrläufe, fett von schwarzer Schmiere, von Knochenöl, Beinschwarz. Für all das hast du mir die Augen geöffnet, als du mich mit dem Segel emportrugst, im sich bäumenden Wind.
Ich kenne, ich erkenne dich nicht; dein Gesicht ist von dem dicken roten Mantel verdeckt, in den du von den Füßen bis zur Nase gehüllt bist – hier, in der Höhe, schützt uns kein Baum, keine Mauer vor dem eisigen Wind, der über diese unwirtliche Gegend weht, der Blätter davonträgt, Kleiderfetzen, Rauch und uns Luftreisende. Ich sehe dein Haar, deine Augen und die Stirn, aber wer du bist, steht nicht dort, dein Name steht nicht auf der Stirn – du kannst ein Dämon sein oder eine Göttin, du kannst eine Allegorie sein, die sich in einem lebendigen, warmen, in ein scharlachrotes Tuch gewickelten Leib verkörpert, jedenfalls bist du nichts Gewöhnliches, woher könntest du sonst fliegen? Das ist nicht der Flug einer Dorfhexe, die mit verwelkten, mit dem Speck eines Gehängten geschmierten Schenkeln einen Schürhaken oder Besenstiel umklammert, o nein – das ist ein ganz anderer Flug. Ich? Mich? Ausgerechnet mich nimmst du mit auf diese sichere Hochebene, auf diesen verrückten Berg über der Stadt, die sich gegen jede Armee verteidigt, der Stadt mit der Kathedrale, den Türmen, den Speichern, voll von Getreide, getrocknetem Fleisch und Obst? Ausgerechnet mich trägst du über die pfeifenden Kugeln hinweg dorthin, damit ich am Ende meines Lebens endlich etwas Nützliches tun kann? Vielleicht nicht einmal Nützliches, sondern Schönes? Asmodäus, in einer Frau verkörpert? Minerva? Kunst? Oh, entführe, entführe mich, es ist so schön, entführt zu werden!