XXIV

Javier spricht

Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt habe. Damals in Madrid, als ich den Wind von den Pyrenäen auf dem Gesicht spüren wollte. Was hätte er bringen sollen? Ich glaubte, Freiheit sei FREIHEIT – ein Erdbeben, das Täler auftürmt und Berge zu Staub zermalmt, ich glaubte, dort, wo sie auftrete, bleibe nichts, wie es war; indessen kehrten wir aus Bordeaux zurück, waren mit den Papieren beschäftigt, mit der Vollstreckung des Testaments, der Auszahlung des Geldes an all die Schmarotzer, denen Vater – noch auf Mutters Bitte – jeweils ein paar Realen hinterlassen hatte, Krankenhäusern, Pilgerhäusern in Jerusalem und so weiter, und schlugen uns mit Leocadia und ihren Vorwürfen herum … Und plötzlich stellte sich heraus, dass ein Jahr, ein ganzes Jahr vergangen und ich kein freierer Mensch geworden war, kein bisschen.

Natürlich hatte ich mehr Geld – aber war ich denn vorher arm gewesen? Mit einem solchen Vater? Die Geschäfte liefen gut, und wenn sie eine Zeitlang schlechter liefen, gab es schließlich einen ganzen Berg von Bildern, die man verkaufen konnte. Ein echter Goya aus sicherster Quelle. Und für den Notfall das, was ich aus der Teilung des Vermögens vor seiner Flucht aus Spanien erhalten hatte: Coreggio, Velázques, Radierungen von Rembrandt, alles, was das Herz begehrt. Wenn er wenigstens auf seine alten Tage aufgehört hätte – aber nein, er schleppte seinen Karren weiter wie ein Muli, wie ein Zugpferd, brachte dies und jenes zustande, Graphiken, Porträts, Zeichnungen, Miniaturen; blind wie ein Maulwurf war er, stocktaub, schwach wie ein Tintenfisch, aber er saß da und fummelte, malte und wischte, malte noch einmal, als könnte das, was in dieser Birne steckte und dort verschlossen war, nur durch die Finger einen Ausgang finden, nur heraus auf ein Papier, auf einen lithographischen Stein, auf ein Plättchen Elfenbein, auf ein Blatt des Notizbuchs; und wie es ihn umtrieb, wie er schauen wollte, seine halbblinden Augen mit Anblicken füttern. Von allem. Von Bettlern, von Rollschuhfahrern, von Verrückten. In Bordeaux noch, als er kaum mehr gehen konnte, mit drei Brillen, ließ er sich ins Irrenhaus fahren, verbrachte dort einen ganzen Tag und zeichnete ununterbrochen, solange das Licht reichte. Und wenn es nichts Interessantes zu sehen gab, träumte er. Sogar im Schlaf arbeitete er, phantasierte und übertrug diese Phantasien dann auf Papier. Dieser Mensch war eine Fabrik für Escudos, Realen und Dublonen, eine kleine Münzprägeanstalt mit ständigem Zugang zu Erz. Mit Geld gab es nie Probleme, seit ich mich erinnern kann – vielleicht im Krieg, als der König vertrieben wurde und niemand ihm sein Gehalt zahlte; aber selbst damals hat er gemalt, den Adjutanten von König Flasche, so einen französischen General, wie hieß er noch gleich … und diese ekelhafte Allegorie von Madrid, von der er sagte, sie habe, mit Verlaub, eine … ich sage nicht was, aus Marmor, und die später so oft überarbeitet wurde, jedes Mal, wenn jemand die Stadt eroberte; und danach Wellington, auf dem Pferd, oh, auf einem sehr misslungenen Pferd, oje – und wie misslungen. Und wie er sich aufregte wegen diesem Pferd, wie er mit dem Glas nach dem Dienstmädchen warf! Na ja, für Pferde hatte er einfach kein Händchen.

Ich dachte, ich würde frei sein, doch er hing weiterhin über mir, wie eine große Leiche, in Spiritus konserviert – weit weg von hier verfaulte er auf dem Kartäuser-Friedhof, neben meinem schon stärker zersetzten Schwiegervater, aber über mir hing er heil, unangetastet, wie zu Lebzeiten. Mit offenen Augen und dieser Verachtung, dieser Enttäuschung im Blick. Vielleicht kam es daher, dass ich ihn nicht tot gesehen hatte, vielleicht hätte ich doch früher fahren und schauen sollen, wie er den letzten heiseren, pfeifenden Atemzug von sich gibt? Vielleicht hätte ich dann Ruhe gehabt? Oder wenn ich mit eigenen Augen gesehen hätte, wie sie ihn, als es vorbei war, in die Franziskanerkutte mit dem Schlitz auf dem Rücken hüllten – wie man das mit Toten macht – und in den Sarg legten, wie die feuchte Frühlingserde, berstend vor Leben, gegen den Deckel schlug?

Und erst gut ein Jahr nach seinem Tod, eines Tages, als wir aus der Stadt hinausgefahren waren, in die Quinta del Sordo, als ich mit Gumersinda beim Essen saß, in dem Zimmer im ersten Stock … nein, Moment, nein, damals gab es ja dieses Stockwerk noch gar nicht. Im Parterre. Wir hatten den Tisch aufstellen und servieren lassen, was wir aus Madrid mitgebracht und was wir von einem Bauernburschen bekommen hatten; eine einfache, ländliche Mahlzeit: kaltes Hähnchen, Oliven, Gazpacho … ja, es muss ein Hähnchen gewesen sein, denn ich weiß noch, dass mir in den Sinn kam … Ja, ich erinnere mich genau an den Moment: Ich biss einen Flügel ab, schaute Gumersinda an, nein, nicht Gumersinda, sondern die Wand hinter ihr, die mit gelbem Perkal mit einem feinen goldenen Muster verkleidete Wand, und sie führte gerade das Glas zum Mund … Und da erinnerte ich mich, dass es damals ja auch so gewesen war, als der Alte nach Bordeaux abreiste: Leocadia waren wir schon los, sie war als erste gefahren, um ein Nest für sie beide zu finden und es entsprechend einzurichten, es gemütlich zu machen, mit Seide und Kissen auszulegen, tüttel-tüttel, als würde ihn so etwas interessieren; und sofort war es angenehmer hier, ruhiger, man konnte sogar einigermaßen normal mit ihm reden oder ihm zumindest zuhören, was er über Bilder murmelte, zusehen, wie er mit dünnem Stichel eine Linie auf der Kupferplatte zog; die Quinta del Sordo hatte er schon auf Marianito überschrieben, es war alles in der Schwebe. Sogar seine Gegenwart, die sich sonst immer über alle Häuser ergoss, in denen er wohnte, die jedes Staubkorn in der Ecke, jedes Haar des Sesselbezugs durchdrang, war schwächer jetzt, wie gedämpftes Licht. Und ich erinnerte mich, dass ich damals auch die nahende Freiheit ahnte, als müssten sich alle Dämme und Schleusen öffnen, die den großen, rauschenden Fluss in mir im Zaum hielten, der seit so vielen Jahren im Untergrund verborgen, eingemauert war. Er reiste ab – und nichts geschah.

Aber ich musste Marianos Hochzeit ausrichten, und ich vergaß das alles.

Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman
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