Javier spricht
Nicht, dass er mir nicht auch erlaubt hätte, so bei ihm zu sitzen. Doch, das hat er. Natürlich nur, wenn er überhaupt in Madrid war, wenn er gute Laune hatte und mir zumindest einen Hauch von Aufmerksamkeit schenkte; denn es kam ja vor, dass er den ganzen Tag malte wie ein Verrückter, wobei er, vor sich hin brummend, ein Schimpfwort ans andere reihte und dann in der Nacht weiterarbeitete, auf dem Kopf den Zylinder, an dem er einige Kerzen befestigt hatte, und zwar immer solche von bester Qualität, die ein möglichst helles, fast weißes Licht gaben; wenn er davon keine mehr hatte, schlug er Krach, weckte Mutter und die Dienstmädchen und schickte jemanden in den Laden, der dann so lange an die Tür hämmern musste, bis der Besitzer aufstand, öffnete und Herrn de Goya, dem bekannten Choleriker, Kerzen von der besten Sorte verkaufte. Aber er war ja auch oft weg – er bekam hier einen Auftrag, dort einen Auftrag, malte einen Minister in seinem Gutshaus, eine Gräfin in ihrem Palast oder ein großes Bild für eine Kirche, die er natürlich mit eigenen Augen sehen musste, um zu wissen, wie das Licht einfällt, welchen Ton der Stein, aus dem die Wände sind, in der Sonne hat, aus welcher Entfernung und in welchem Winkel man das Bild anschauen würde und welche Perspektive er daher wählen musste. Wochenlang war er oft verschwunden, egal, ob zur Arbeit oder zur Jagd mit seinem Schulfreund Zapater … Mutter informierte er nur kurz; im Übrigen, selbst wenn sie gewusst hätte, was er manchmal über sich und die Alba sagte, selbst wenn er ihr gesagt hätte: »Ich fahre zur Herzogin und werde mich amüsieren«, hätte sie nur die Augen niedergeschlagen, denn das war das einzige, was sie konnte. Und sich unter ihn legen, wenn es Zeit für die nächste Schwangerschaft, für die nächste Fehlgeburt war.
Als ich neun Jahre alt war, blieb er einmal sehr lange weg – nicht, dass das vorher nicht passiert wäre, aber diesmal kehrte er später zurück, als er angekündigt hatte; es kamen Briefe aus Cádiz, aber von fremder Hand geschrieben – denn schon damals erkannte ich seine schiefe, etwas humpelnde Schrift mit den langen Schnurrbärten des s und des y; Mutter saß tagelang in ihrem Zimmer oder kam, in einem plötzlichen Anfall, zu mir gelaufen und begann mich zu herzen und zu küssen, heftig und übertrieben, so dass ich mich so schnell wie möglich von diesen gestärkten Manschetten und steifen Spitzen losreißen wollte; wenn ich in diesem Gerangel ab und zu einen Blick auf sie warf, bemerkte ich, dass ihre Augen vom Weinen ganz geschwollen waren, von einem dünnen roten Strich umrahmt, blutunterlaufen, das Weiße war ganz rosa; ihre Züge waren grob geworden vor Verzweiflung, so wie es manchmal während der Schwangerschaft vorkam; sie sah erbärmlich aus, und wenn ich sie ansah, brachte ich es nicht mehr fertig, mich ihr zu entziehen, erstarrte wie ein im Netz gefangener Spatz, wenn man ihn in die Hand nimmt, und wartete, bis sie dieses aufdringliche Bedürfnis nach Zärtlichkeit befriedigt hatte. Meistens aber gelang es mir, mich dem Anblick ihres Gesichts zu entziehen, ich zappelte und wand mich wie ein Wilder, nur um sie nicht ansehen zu müssen – dann konnte ich mich losreißen und in die Küche oder auf den Patio entkommen.
Er kam furchtbar ausgemergelt zurück, der Kutscher und der Diener hatten ihn untergehakt und schleppten ihn ins Haus; seine Hautfarbe war bläulich, grünlich, er sah aus wie aus schmutzigem Wachs geformt, furchtbar abgemagert, um den Kopf hatte er ein weißes Tuch; aber das Seltsamste war das Schweigen, das die Situation begleitete. Keine freudigen Rufe, keine Begrüßung, keine Anordnungen; wenn Mutter etwas sagen musste, tat sie es flüsternd, als fürchtete sie, die erhabene Stille zu stören. Jedes Rascheln des Kleides, jedes Klopfen des Absatzes schien zu laut.
Am Abend, als das Dienstmädchen mich ins Bett brachte, sagte sie zu mir: »Du Ärmster, jetzt hast du einen völlig tauben Vater.«
Danach lag er mehrere Monate im Bett; sein Gesicht wurde wieder voller, er zeichnete wieder in sein Heft, er fing an zu nörgeln – wie das bei Männern ist, wenn sie gesund werden. Ständig rief er nach etwas oder ärgerte sich, dass er nicht malen konnte; und weil er taub war, war er furchtbar laut; sein mächtiges Organ war im ganzen Haus zu hören, vom Geschäft Don Felicianos im Parterre, wo die Glasfläschchen mit den Parfüms erzitterten und leise klirrten, bis zum Dachboden, wo seine Stimme die zum Trocknen aufgehängten Laken in Bewegung versetzte. »Javieeer«, brüllte er, »Javieeer, komm zu Papa!« Und ich floh, so gut ich konnte, wie ich vorher aus den Umarmungen meiner Mutter geflohen war.
Ein Gebrechen bedeutet Fremdheit. Der Mensch, der einen Arm verloren hat, ist nicht einfach derselbe Mensch wie vorher, nur ohne Arm. Er ist ein Mensch, der anstelle des Arms das Fehlen des Arms hat, einen ganz neuen Körperteil, den man nicht anschauen darf, über den man nicht spricht. Denn so, wie im Körper anstatt des Arms das Fehlen des Arms gewachsen ist, so ist auch in der Seele statt etwas das Fehlen von etwas gewachsen, eine schmerzhafte, eiternde, empfindliche Stelle. Und diejenigen, die einen ihrer Sinne verlieren, verlieren unvergleichlich mehr – eine ganze Welt, die nur mittels dieses Sinnes zugänglich ist; ja, mehr noch: nicht nur die Melodie der Zarzuela, nicht nur die Art, wie La Tirana auf der Bühne die Worte aussprach, mit diesem im Ohr kitzelnden Gluckern, diesem Gurren, sondern auch das flüsternde Geräusch, das durch den Saal ging, die Rufe, die aus den hinteren Reihen hallten, den Applaus, diese gemeinsame Welle von Lauten, mit der alle vereint ihr für die Laute dankten, die sie von der Rampe herunterschickte – wie zwei gegenüberliegende Meere: Hunderte Zuschauerkehlen gegen ihre eine, unübertroffene Kehle. Und die Sainetes, über die er früher so gelacht hat, all die Szenen mit den schlitzohrigen Orangenverkäufern und den tapferen Majos, mit den neunmalklugen Ärzten und den schlauen Gassenjungen, die immer kriegen, was sie wollen – ach, er hatte die Lieder auswendig gelernt und trällerte sie bei der Arbeit, sogar noch nach Jahren, als er sich selbst nicht mehr hörte und furchtbar falsch sang; all das hatte er verloren, genau wie das Ausgehen, für das er sich früher immer so feinmachte, sich in schammerierte Jäckchen und goldbestickte Hosen zwängte, auf die er so stolz war (obwohl er schon lange nicht mehr die Taille eines Toreros hatte, was Mutter nie zu erwähnen versäumte) … Und dann die Noten, die er seinem geliebten Zapater schickte, die Noten der Sainetes und Seguidillas, wieviel Mühe kostete das, wieviel Lauferei zu den Läden und Ständen, um die neuesten Schlager zu bekommen! Er packte alles zusammen und brachte es zur Postkutsche nach Saragossa, und auf dem Rückweg sagte er: »Das ist mein letzter Abschied von der Musik, soll Martín seine Freude daran haben, von heute ab werde ich nicht mehr zu den Orten gehen, wo ich diese Lieder hören kann … Ich habe mir gesagt, verdammt, irgendwelche Prinzipien muss ich schließlich haben, ich muss ja schließlich, verdammt, die Würde bewahren, die einem Mann geziemt!« Und das hat er während des ganzen Rückwegs gebrummt, bis nach Hause, und abends ging er dann doch weg, mit einem seiner bestickten Majo-Jäckchen bekleidet, und lachte Tränen unter seinesgleichen. Seit er das Gehör verloren hat, hat er nie wieder eine Majo-Jacke angezogen, nicht einmal zum Scherz, als wären das die Kleider eines Toten.