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Du lebst noch«, sagte Henry. »Und sie ist entkommen.«

Genau über Archies Krankenhausbett war eine Sprinklerdüse. Es war das Erste, was er sah, als er die Augen aufschlug. Das zweite war Henry, der vor ihm stand. Dann Debbie, die auf der anderen Seite des Betts in einem Sessel saß, eine aufgeschlagene Zeitschrift im Schoß.

Oh, Gott. Debbie.

»Sie ist ins Feuer geflohen«, sagte Henry. »Da war eine Menge Rauch.« Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Wir durchsuchen das Gebiet immer noch. Das Feuer könnte sie erwischt haben. Aber das glaube ich erst, wenn wir ihre Überreste gefunden haben.«

Archie schloss die Augen wieder und rollte sich zur Seite. Seine Haut juckte vor Schweiß, und alles tat ihm weh. Er wechselte die Stellung, um eine erträgliche Position zu finden. Bei der Bewegung krampften sich seine Eingeweide zusammen. Seine Hände zitterten so heftig, dass er sie zwischen den Knien einklemmte. Er öffnete die Augen. Selbst das Licht schmerzte. »Was ist los mit mir?«, fragte er kraftlos.

»Entzug«, sagte Henry. »Du bist auf einem Anti-Narkotikum namens Naloxon. Du hattest eine Überdosis im Körper. Das Naloxon blockiert deine Opioid-Rezeptoren. Cold Turkey, mein Freund.«

Archie durchforstete sein Gedächtnis nach Hinweisen darauf, was passiert war, aber er fand nichts. Die Bettlaken waren kalt und nass von seinem Schweiß. Seine letzte Erinnerung war, wie ihn Gretchen im Arm gehalten hatte. Wie ein Stromschlag pulsierte Schmerz auf breiter Front durch seinen Körper, und er krümmte sich weiter in eine embryonale Stellung. Sie hatten ihn zu früh gefunden. Aber er verstand nicht, wie sie entkommen konnte. Dann spürte er den Schmerz in seiner Kehle und fuhr mit zittriger Hand um den Verband an seinem Hals. Er wusste nicht, was passiert war. Aber er wusste eines: Sie war entkommen. Es war alles umsonst gewesen.

Er fing an zu lachen.

»Sie hat dich als Geisel benutzt«, sagte Henry. »Sie hat dir mit dem Naloxon das Leben gerettet. Dann hat sie dir die Kehle durchgeschnitten.«

»Ich habe mit ihr geschlafen«, sagte Archie. Es war die halbe Wahrheit.

Die Zeitschrift fiel aus Debbies Schoß und klatschte auf den Linoleumboden.

Henry beugte sich über Archie und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sprich das nie wieder laut aus«, sagte er.

»Ich dachte nur, ihr beide solltet es wissen«, sagte Archie. Er schluckte schwer, was einen pochenden Schmerz in seinem Hals verursachte. »Ich bekomme wohl keine Schmerzmittel für meinen Hals, nehme ich an«, sagte er.

Debbie hatte die Hände zu Fäusten geballt, ihre Knöchel traten weiß hervor. Sie schien sich gerade so weit zu beherrschen, dass sie ihn nicht mit bloßen Händen erwürgte. Er konnte es ihr nicht verübeln. Er wünschte, sie würde es versuchen. Er wünschte, sie würde ein Kissen auf seinen Kopf drücken und ihn ersticken. Es wäre das Humanste gewesen, was sie tun konnte.

»Es ist nicht echt«, sagte sie. »Was immer du mit ihr zu haben glaubst.«

Das Reden fiel ihm schwer, er musste sich konzentrieren. Jeder Muskel in seinem Körper fühlte sich an, als litte er unter Sauerstoffmangel und zog sich schmerzhaft in Krämpfen zusammen. Er hatte sich im Lauf der letzten Jahre gelegentlich vorgestellt, wie ein Entzug wohl sein würde.

Es war schlimmer.

»Ich dachte, ich könnte sie fangen«, sagte er hilflos.

Eine Schwester erschien in einem pfirsichfarbenen Kittel. Sie regulierte etwas an dem Tropf, an dem Archie hing. »Das wird Ihnen helfen, zu schlafen«, sagte sie, und um ihre Augen bildeten sich freundliche Falten.

Archie nickte dankbar.

Henry fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Vielleicht weihst du uns das nächste Mal in deine Pläne ein.«

Sie wussten beide, Henry hätte ihn davon abhalten können.

»Du hast mich gehen lassen«, sagte Archie. »Du hast mich allein zur Toilette gehen lassen. Das war untypisch für dich.«

Debbie wandte den Kopf und sah Henry an.

Henry warf ihr einen Blick zu und schaute dann wieder Archie an. »Ich würde niemals zulassen, dass du dich selbst als Köder anbietest«, sagte er. »Du kannst von Glück reden, dass du noch lebst.«

Glück? Wozu war die ganze Sache gut gewesen?

»Habt ihr das Geständnis gefunden?«, fragte Archie.

»Ja«, antwortete Henry.

Das wenigstens hatte er geschafft.

»Du kannst diesen einen Fall abschließen«, sagte Henry. »Eine vierzehnjährige Ausreißerin ohne Familie. Und du hast ihn abgeschlossen. War es das wert?«

Archie schloss die Augen und lächelte. Er spürte, wie das Schlafmittel in seine Blutbahn gelangte. Es war eine kleine Erleichterung. »Ja«, sagte er.

Er musste weggedöst sein, denn als Archie das nächste Mal zu sich kam, stand Henry auf der anderen Seite des Betts. Debbie war gegangen.

Archie beugte sich aus dem Bett und würgte. Henry hielt eine rosafarbene Bettpfanne aus Plastik vor ihn hin, in die Archie sich übergab. Sein ganzer Körper wurde dabei geschüttelt. Als er fertig war, legte er sich schwer atmend ins Bett zurück.

Henry verschwand mit der Bettpfanne im Bad. Archie hörte die Toilettenspülung und den Wasserhahn, dann kam Henry mit der leeren Bettpfanne zurück und stellte sie auf das Tablett neben dem Bett.

»Bist du jetzt bald mal fertig?«, fragte Henry.

Archie wusste nicht, wovon Henry sprach.

»Du kotzt seit einer Stunde«, sagte Henry. »Weißt du das nicht?«

Archie krümmte sich zur Seite. »Nein.«

»Rosenberg hat dich besucht«, sagte Henry. »Fergus auch«, sagte er. »Weißt du das noch?«

Archie schüttelte den Kopf. Er war zugedeckt und fror dennoch. Er zog die Decke bis zum Hals. Seine Arme und Beine zitterten heftig. Er hatte Gliederschmerzen.

»Er sagte, wenn du zwölf Stunden mit dem Naloxon durchhältst, können sie dir weitere Schmerzmittel geben. Und dich dann langsam entwöhnen.«

»Wie lange ist das noch?«, fragte Archie.

Henry schaute auf seine Armbanduhr und zog die Augenbrauen hoch. »Sieben Stunden«, sagte er.

Archie fühlte neue Galle in seiner Kehle aufsteigen. Er drehte sich auf die Seite und zog die Knie an die Brust. »Red weiter mit mir.«

Henry setzte sich. »Susan war bei mir«, sagte Henry. »Als wir dich gefunden haben.«

Archie krümmte sich. Er hatte Susan nicht in Gefahr bringen wollen. Aber als er ihr den Hinweis auf Heather Gerber gab, hatte er gewusst, dass sie die Sache durchziehen würde, falls sie ihn verstand. Sie hätte Henry die Spur niemals allein verfolgen lassen. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre, könnte er nicht damit leben. »Alles in Ordnung mit ihr?«, fragte er.

»Sie wird mit dir sprechen wollen«, sagte Henry. »Ich habe ihr erlaubt, über alles zu schreiben, vorausgesetzt, sie lässt gewisse Einzelheiten aus.«

Henry berichtete Archie nun, wie Susan den Kohlenmonoxid-Anschlag überlebt hatte, und von Bennett, der ein Stockwerk über ihm immer noch im Koma lag. Dann erzählte er, wie Susan die anderen Leichen im Park identifiziert hatte.

Archie dachte an John Bannon und Buddy Anderson. »Ich muss mit ihr reden. Aber zuerst«, sagte er und sein Magen zog sich zusammen, »brauche ich diese Bettpfanne wieder.«

Ärzte und Schwestern kamen und gingen. Sein Hals war mit fünfunddreißig Stichen genäht worden. Gretchen hatte die Luftröhre und die Halsschlagader verfehlt. Sie fuhren fort, ihn voll Naloxon zu pumpen.

Debbie war wieder da. Sie hatte die Kinder nicht mitgebracht, und er hatte nicht nach ihnen gefragt. Es war besser, wenn sie ihn nicht in diesem Zustand sahen. Sie hatten bereits zu viel gesehen.

»Ist alles draußen?«, fragte sie.

Er schloss die Augen. »Nein«, sagte er.

»Was willst du, Archie?«

Was er wollte? Er wollte sterben. So hatte sein Plan ausgesehen.

Er wandte den Kopf ab. »Schlafen«, sagte er.

Archie sah eine Gestalt in der Tür. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es ein Kind war. Zuerst dachte er, es könnte Ben sein. Er lächelte und versuchte, sich aufzusetzen. Er wollte, dass es Ben war.

Aber es war nicht Ben. Es war der Junge aus dem Park. Archie machte ihm ein Zeichen, hereinzukommen, und der Junge trat ins Zimmer. Er trug dieselben Sachen wie damals im Wald.

»Hallo«, sagte der Junge und hob linkisch eine Hand.

»Erinnerst du dich an mich?«, fragte Archie. »Aus dem Wald?«

Der Junge wusste nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Erst verschränkte er die dürren Arme, dann steckte er die Hände in die Taschen. »Kann ich mein Nest zurückhaben?«, fragte er.

»Das ist ein Beweismittel«, erklärte Archie.

»Ach so«, sagte der Junge.

Archie überlegte in seinem benebelten Zustand, was für ein enormer Zufall es war, dass der Junge hier war. War er gekommen, um Archie zu besuchen? »Was treibst du hier?«, fragte Archie.

Der Junge zuckte die Achseln. »Meine Mom arbeitet hier«, sagte er.

Archie dachte darüber nach. Es klang plausibel. »Ich möchte, dass mein Partner dich kennenlernt«, sagte er.

Der Junge wich zurück. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich muss gehen.« Er senkte die Stimme. »Sie sollten auch gehen. Meine Mom sagt, Krankenhäuser sind gefährlich.« Er sah sich im Zimmer um. »Man holt sich leicht eine Infektion.«

»Hallo«, sagte Susan. Archie hatte geträumt. Er sah zu der Wanduhr hinauf. Er war die ganze Zeit zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein hin und her gewechselt. Mittags war dann endlich Fergus gekommen und hatte ihm Morphium gegeben. Er hatte es ihm über den Infusionsschlauch verabreicht, wie es Gretchen während der letzten Tage seiner Gefangenschaft getan hatte.

»Sind Sie wach?«, fragte Susan.

Archie sah sich benommen nach dem Kind aus dem Park um. »Wo ist der Junge?«, fragte er.

Susan runzelte die Stirn. »Hier ist kein Junge«, sagte sie.

Archie rieb sich das Gesicht und sah Susan an. Er wusste von Henry, dass sie sich die Nase gebrochen hatte, aber er war auf den Anblick dennoch nicht vorbereitet. Sie trug einen Verband und hatte zwei blaue Augen, die wahrscheinlich über Nacht gekommen waren. »Alles okay?«, fragte er.

»Ich muss mit Ihnen reden«, sagte sie. »Über Davis und Nixon. Über Molly Palmer.«

»Wer sind Davis und Nixon gleich noch?«, fragte Archie.

»Die Leichen im Park«, erwiderte Susan ungeduldig. »Henry sagte, er hat es Ihnen erzählt.«

»Ach ja, richtig«, sagte Archie.

»Aber dazu kommen wir noch«, fuhr Susan fort. Sie schlug die Beine im Sessel unter. »Da ist etwas, das Sie zuerst wissen müssen. Heute Morgen wurde ein neuer Senator ernannt, der Lodges Amtszeit zu Ende führen soll.« Ihre Wangen röteten sich. »Es ist der Bürgermeister. Bob Anderson.«

»Buddy?«, sagte Archie.

»Ich bin zu ihm gefahren und habe mit ihm geredet«, fuhr Susan fort. »Ich habe ihm erzählt, der Herald würde die Geschichte über Lodge endlich bringen, und ich würde enthüllen, dass er in öffentlichen Aussagen gelogen hatte, als er behauptete, nichts von dem Missbrauch einer Minderjährigen zu wissen. Das ist Behinderung der Justiz. Ich habe ihm erzählt, Henry würde den Fall Nixon/Davis neu aufrollen, und alles würde aufgelöst werden.«

Archies Hirn war wie benebelt. Er bemühte sich, zu folgen. »Der Herald bringt die Geschichte über Lodge?«

Susan schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe gelogen.«

»Warum erzählen Sie mir das alles?«, fragte Archie.

»Weil Buddy sagte, er würde sich erklären. Alles ausspucken. Was er wusste, und wann er es wusste.« Sie legte eine dramatische Pause ein. »Aber erst, nachdem er mit Ihnen geredet hat.«