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Archie erinnerte sich nicht, die kugelsichere Weste angezogen zu haben, die im Kofferraum des Autos lag, aber er musste es getan haben, denn er und Henry trugen beide eine, als sie auf das Schulgebäude zugingen. Er mochte es normalerweise nicht, wie diese Westen auf seine wunden Rippen drückten, aber heute bemerkte er es gar nicht.

Bei einer Simulation eines Überfalls auf eine Schule sichert die Polizei das Gelände zunächst nur. Sie geht erst hinein, wenn der Täter lokalisiert und die Lage einschätzbar ist. In Schulen gibt es naturgemäß Hunderte potenzieller Geiseln, und man will nicht, dass Kinder erschossen werden, weil die Polizei überstürzt gehandelt hat. Natürlich geht man bei den Übungen davon aus, dass es sich bei dem Täter ebenfalls um einen Schüler handelt. Jugendliche sind unberechenbar. Bewaffnete Jugendliche sind extrem unberechenbar. Und niemand will einen Jugendlichen erschießen müssen, nicht mal einen mit einer Waffe. Also sichert man, schätzt die Lage ein, wartet.

Dieses Verfahren berücksichtigte allerdings Gretchen Lowell nicht. Sie war berechenbar: Sie würde töten, bis jemand sie aufhielt.

»Wir gehen rein«, sagte Archie.

»Ja«, sagte Henry.

Die Streifenbeamten aus Hillsboro, die auf den Notruf reagiert hatten, hatten mit einer Frau im Sekretariat der Schule Kontakt aufgenommen. Sie hatte Angst, war aber ruhig. In der Schule war es still. Alle vorgesehenen Maßnahmen waren ergriffen.

Auf einer Tafel über dem Eingang stand: ›Bei der Bildung geht es nicht darum, einen Kübel zu füllen, sondern darum, ein Feuer zu entfachen‹.

»Yeats«, sagte Archie.

»Was?«, sagte Henry.

»Nichts.«

Sie zogen ihre Waffen und betraten die Schule, gefolgt von sechs nervösen Ortspolizisten mit roten Köpfen.

Die Eingangstüren öffneten sich zu einem breiten Flur mit Teppichboden. Ein lebensgroßer Pappmaschee-Tiger, das Maskottchen der Schule, stand auf halber Strecke, mit Blick zur Tür. Er war burgunderrot, mit orangefarbenen Streifen. Auf einem Schild stand: ›Bitte nicht auf mich steigen‹.

Archie war schon x-mal in dieser Schule gewesen. Ben war in der zweiten Klasse, Sara in der ersten. Beide Kinder waren bereits im Kindergarten hier gewesen. Es hatte Elternsprechtage gegeben und Kunstausstellungen, Benefizveranstaltungen, Elternbeiratssitzungen und Basketballspiele, er hatte die Kinder hingebracht und abgeholt.

Das stimmte nicht.

Debbie war x-mal in der Schule gewesen. Archies Arbeit verhinderte, dass er viel dort war. Er musste früh beginnen und kam spät nach Hause, deshalb brachte Debbie die Kinder hin. Debbie holte sie ab. Debbie ging zu den Elternbeiratssitzungen. Archie gab sich Mühe. Er nahm an möglichst vielen Veranstaltungen teil. Er hatte nie einen Elternsprechtag versäumt. Aber er hatte sich nicht genügend bemüht. Er würde sich mehr anstrengen, gelobte er sich. Wenn sie noch lebten, würde er sich mehr anstrengen.

»Ben ist in Raum sechs«, sagte Archie zu Henry. »Diese Richtung.« Er deutete an dem Tiger vorbei. »Am Ende des Flurs. Ich hole Sara.« Er drehte sich zu den Streifenbeamten um. »Der Rest von Ihnen geht paarweise und sichert möglichst große Bereiche der Schule.«

Die Beamten standen einen Moment reglos da und sahen einander an. Die einzige Frau unter ihnen räusperte sich. Sie war sehr jung, wahrscheinlich erst seit ein, zwei Jahren Polizistin. »Was sollen wir tun, wenn wir sie finden?«, fragte sie.

»Erschießt sie«, antwortete Henry.

»Nein«, sagte Archie rasch. »Sie ist gefährlich. Lasst euch auf keine Auseinandersetzung mit ihr ein. Wenn ihr sie seht, ruft mich über Funk.« Er berührte das Walkie-Talkie an seiner Hüfte.

Henry deutete auf zwei Streifenbeamte, die junge Frau und einen Mann in mittleren Jahren. »Ihr beide geht mit ihm«, sagte er. »Und wenn ihr sie seht, erschießt sie.«

Sie trennten sich, und Archie führte sein kleines Aufgebot von dem grinsenden Tiger fort, links den Flur hinab; in der entgegengesetzten Richtung machte sich Henry auf den Weg zu Bens Klassenzimmer. Sara war in Raum zwei. Es war nicht weit. Gleich hinter den Papierschaubildern von Wasserbällen, Segelbooten und Sonne an der Wand. Bis zu den Sommerferien waren es nur noch wenige Tage, und Sara bettelte bereits, dass sie in ein Reitercamp wollte. Sie kamen an ihre Klassenzimmertür. Ein Stück weiter im Flur sah Archie einen Trinkbrunnen an der Wand. Ein Spiderman-Rucksack lag unbeaufsichtigt daneben auf dem Boden.

Gott, war es still.

Archie versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. Er klopfte zweimal mit der Faust daran. »Hier ist die Polizei«, sagte er, und seine Stimme klang erschreckend laut in der Stille. »Sie müssen die Tür aufmachen.«

Er hörte Bewegung im Innern, und die Tür ging auf. Mrs. Hardy, Saras Erstklassleiterin, stand im Eingang. Sie war seit dreißig Jahren Lehrerin, und ihr rotes Haar hatte erst kürzlich begonnen, leicht grau zu werden. Sie hielt eine Lesefibel an die Brust gedrückt.

Archie ließ seine Waffe ein wenig sinken, behielt den Finger aber am Abzugsbügel. Sein Schwerpunkt lag vorn auf den Fußballen. Er war entspannt. So hatte er es gelernt. Ruhig atmen. Wer entspannt ist, schießt besser. Wenn man nicht an seine Kinder dachte. Wenn man entspannt blieb.

»Ich bin Detective Sheridan«, sagte Archie und sah an der Lehrerin vorbei. »Meine Tochter Sara, wo ist sie?«

»Ich weiß, wer Sie sind, Mr. Sheridan«, sagte Mrs. Hardy. Sie trat zur Seite und schaltete das Licht im Klassenzimmer ein.

Archie konnte die Kinder in einem Kreis in der Mitte des Raumes sitzen sehen. Sie rührten sich nicht und sahen ihn aus blassen Gesichtern an. Er entdeckte Sara nicht und ging weiter auf die Kinder zu. »Sara?«, rief er. Die panische Angst, die er die ganze Zeit unterdrückt hatte, erfasste ihn nun. Sein Herz raste. Er spürte, wie ihm heiß wurde. Seine Kehle schnürte sich zu. Er machte noch einen Schritt auf die Kinder zu.

Bleib entspannt.

Er fühlte Mrs. Hardys Hand auf seinem Ellbogen. »Der Direktor ist gekommen und hat sie abgeholt«, sagte er. »Damit sie in Sicherheit ist.«

Archie entfuhr ein Seufzer der Erleichterung.

Mrs. Hardy verstärkte ihren Griff an seinem Arm. »Sie machen den Kindern Angst, Mr. Sheridan«, sagte sie.

Er sah sich selbst in diesem Moment. Kugelsichere Weste. Waffe in der Hand. Streifenpolizisten an der Tür. Die Klassenkameraden seiner Tochter starrten ihn an, ein paar Unterlippen bebten bereits. Sie hatten nicht Angst wegen der Stilllegung der Schule. Oder vor Gretchen Lowell.

Sie hatten vor ihm Angst.

Er ließ die Waffe sinken.

»War sonst jemand hier?«, fragte er die Lehrerin. »Eine blonde Frau?« Archie suchte nach einem anderen Wort, um sie zu beschreiben, aber ihm fiel keines ein. »Schön?«

»Nein«, sagte sie.

Archie trat einen Schritt zurück in Richtung Tür. »Es tut mir leid«, sagte er dümmlich.

Ein kleiner Junge trat vor und streckte die Hand aus. »Darf ich die Waffe halten?«, fragte er.

Großer Gott, dachte Archie. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Alles in Ordnung, Kinder. Tut mir leid.«

Die Streifenpolizisten folgten ihm in den Flur, wo Archie auf der Stelle seine kugelsichere Weste abstreifte und auf den Boden warf. Sie landete mit einem dumpfen Knall auf dem Teppich.

»Was tun Sie da?«, fragte der ältere Beamte.

»Das ist eine Schule hier«, sagte Archie. »Wir sind verdammt noch mal in einer Schule.«

Henry kam mit gezogener Waffe um die Ecke. Sein Blick huschte den Flur auf und ab, Schweiß stand auf seinem rasierten Schädel. »Der Direktor hat Ben abgeholt«, sagte er.

»Sara ebenfalls«, sagte Archie. »Zu seinem Büro geht es hier entlang.« Archie schob seine Waffe in das Holster und wandte sich an die Streifenbeamten. »Stecken Sie Ihre Waffen weg. Gehen Sie von Zimmer zu Zimmer.« Sie sahen ihn verständnislos an. »Beruhigt sie!«

Der Ältere sah die Frau an. »Aber was, wenn die Mörderin noch hier ist?«

»Sie will mich«, sagte Archie. »Oder meine Kinder.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Gehen Sie.«

Archie begann, zum Büro des Direktors zu traben, Henry folgte einen Schritt hinter ihm. »Sie verarscht uns«, sagte er im Laufen. »Die ganze Geschichte hier ist irgendwie faul.«

An der Tür zum Direktorat hing ein Poster, das einen Frosch zeigte, der Slogan dazu lautete: ›Wer lernt, macht große Sprünge‹. Archie schlug mit der Faust dreimal in das Froschgesicht. »Polizei«, rief er. »Bitte machen Sie die Tür auf.«

Die Tür ging auf, und die Sekretärin erschien. Ihre Augen waren groß hinter den dicken Gläsern.

»Ben und Sara Sheridan?«, fragte Archie.

Sie wies mit einem Kopfnicken auf eine Tür, die mit ›Direktor‹ beschriftet war.

Archie erreichte die Tür genau in dem Moment, in dem sie geöffnet wurde. Er hatte Direktor Hill nur einmal bei einer Spendengala getroffen. Er war ein Schwarzer, Mitte vierzig. Man hatte ihn aus Philadelphia rekrutiert, und alle waren ganz aus dem Häuschen gewesen, weil er einmal ein Jahr lang in einem hochklassigen Baseballteam gespielt hatte. Er kam mit einem schweren, hölzernen Schläger in der Hand an die Tür. Den anderen Arm hatte er um Saras Schulter gelegt. Ben stand neben ihr.

Archie sank in die Knie, und beide Kinder flogen in seine Arme.

»Was zum Teufel ist eigentlich los?«, fragte Direktor Hill und ließ die Spitze seines Schlägers auf den Teppich sinken.

Archie drückte die Kinder an sich, atmete den Duft ihrer Haare ein, schmeckte ihre Haut mit seinen Küssen. »Alles ist gut«, sagte er zu ihnen. »Jetzt ist alles gut, ich verspreche es.«

Aus dem Augenwinkel sah er den Baseballschläger zu Boden fallen, und als er aufblickte, hob Direktor Hill beide Hände und trat einen Schritt zurück, die Augen auf einen Punkt hinter Archie gerichtet.

Archie hörte die Waffe einen Sekundenbruchteil, bevor sie ihm in den Nacken gedrückt wurde. Ein einzelnes metallisches Klicken. Das Geräusch einer Halbautomatik, die entsichert wird.

»Kinder loslassen«, befahl eine Stimme. »Sofort.«