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Der Wärter war noch nicht lange tot. Aber die Zeit hatte gereicht. Er hatte sich im Umkleideraum erhängt, einem der wenigen Orte im Gefängnis, an dem es keine Überwachungskameras gab. Es war ein langer, schmaler Raum, der nun voller Leute war. Sie standen nahe, jedoch nicht zu nahe bei dem leblosen Körper, der von einem Abflussrohr an der Decke hing.

»Er heißt B.D. Cavanaugh«, sagte der Gefängnisdirektor zu Archie. »Er war seit neun Jahren hier. Keinerlei Verfehlungen in dieser Zeit.«

Sich zu erhängen war die zweitbeliebteste Selbstmordart in den Vereinigten Staaten. Nur sich erschießen war beliebter. Archie verstand nicht, was den Reiz ausmachte. Es war zu schwer zu steuern. Sicher, wenn man Glück hatte, brach man sich das Genick und war im Nu tot. Und selbst ohne Bruch konnte das Abschnüren der Halsschlagader oder ein Zusammenbruch des Nervus vagus zu einem relativ friedlichen Tod führen. Rasche Bewusstlosigkeit, gefolgt von einer massiven Koronarthrombose. Hatte man jedoch Pech, dann brach das Genick nicht und die Halsschlagadern pumpten weiter, bis man einen langsamen, qualvollen Tod durch Strangulation starb.

Der Wärter hatte kein Glück gehabt. Sein Gesicht war aufgedunsen und verfärbt, die Augen blutunterlaufen, die Zunge quoll zwischen blauen Lippen hervor, und eine Spur Urin lief an seiner braunen Uniformhose hinunter und sammelte sich, wo sein Zeh den Teppichboden berührte.

»Ist das der Kerl, der Gretchen angefallen hat?«, fragte Archie.

Im Raum roch es schwach nach Urin und Fäkalien, vermischt mit dem stechenden Mottenkugelaroma von rosa Urinal-Tabs.

»Er hatte Zugang«, sagte der Direktor. »Er arbeitete letzte Nacht in der entsprechenden Schicht. Und schauen Sie auf seine Hände.«

Die Fingerspitzen des Wärters waren blau und seine Unterarme von einem Netz feiner, roter Kratzer überzogen.

Der Blick des Direktors ging zu der Stelle, wo sich die Erektion des Wärters durch die Hose abzeichnete. Er räusperte sich. »Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«

»Es wird dadurch verursacht, dass sich Blut in der unteren Körperhälfte sammelt«, sagte Archie nüchtern. »Das Gewebe dehnt sich auf ein Maximum aus. Es geht zurück, sobald er horizontal liegt.«

»Es ist also gar keine Latte?«

»Lassen Sie einen Penisabstrich machen«, sagte Archie. »Ich brauche eine DNA zum Abgleich mit dem gefundenen Samen.«

Archie hatte sich nicht überlegt, was er empfinden würde, wenn er sich Gretchens Angreifer gegenübersah. Aber dieser baumelnde Leichnam löste kein Gefühl der Befriedigung in ihm aus. Weil er ihn nicht gegen die Wand werfen durfte? Ihn nicht verhaften konnte? Weil er nicht Gretchens weißer Ritter sein durfte?

Archie konnte ein Gefühl der Verantwortung für das, was passiert war, nicht abschütteln. Gretchen saß nicht im Frauengefängnis ein. Sie war im Isolationstrakt untergebracht, der sich im Männerteil der Anlage befand, weshalb ihre Wärter hauptsächlich Männer waren. Gretchen war schlank, aber sie war gefährlich. Sie hatte hundert verschiedene Wege gefunden, Menschen zu töten. Doch der Wärter war stark gewesen, er wog mindestens hundertzwanzig Kilo, und Archie konnte sich durchaus vorstellen, dass er sie überwältigt hatte.

»Er hatte sie in einem Würgegriff«, sagte der Direktor. »Hat ihr das Schlüsselbein angebrochen. Der Arzt meint, sie dürfte die meiste Zeit bewusstlos gewesen sein.«

»Großer Gott«, sagte Archie.

»Und dann bringt er sich selbst um?«, stieß Henry aus und schnaubte höhnisch. »Wie praktisch.« Archie warf ihm einen Blick zu. »Was?«, fauchte Henry. »Traust du ihr etwa nicht zu, dass sie das alles eingefädelt hat?«

»Sie ist ein Opfer, solange nichts anderes erwiesen ist.«

Henry stieß das Kinn in Richtung des Toten. »Kürzlich geschieden?«, fragte er den Direktor.

Der Direktor nickte. »Seine Frau hat ihn letztes Jahr verlassen.«

Henry sah Archie an. »Passt in ihr Profil.«

Gretchen fahndete per Internet nach einsamen Männern, die sie manipulieren konnte.

Sie reiste eine Weile mit ihnen umher, brachte sie dazu, für sie zu töten, und exekutierte sie dann. Sie hatte es schon mindestens drei Mal getan. Es war nicht gänzlich auszuschließen, dass sie diesen Mann irgendwie davon überzeugt hatte, für sie zu sterben – oder wegen ihr. »Hat er eine Nachricht hinterlassen?«

Der Direktor wies mit dem Kopf in Richtung Waschraum, der direkt hinter dem Umkleideraum lag. Archie und Henry folgten ihm hinein. Es gab zwei Duschen, drei Toilettenkabinen, eine Reihe Urinale und zwei Waschbecken, und über diesen einen Spiegel, auf den jemand mit einem Filzstift ein Herz gemalt hatte.

Archie merkte, dass er unbewusst die Hand an die herzförmige Narbe auf seiner Brust gelegt hatte. Die Hautwulst war unter dem Baumwollhemd zu erfühlen. Er zwang sich, die Hand in die Tasche zu stecken, nur um dort auf die Pillendose zu stoßen.

»Das ist ihre Signatur, nicht wahr?«, sagte der Gefängnisdirektor. »Ein Herz.«

»Ja«, sagte Archie. Er zog die Pillendose heraus, schüttete drei Tabletten in seine Hand und schluckte sie. Seine Hand zitterte. »Sie müssen alle ihre Wärter auswechseln. Es war ein Fehler, ihr den Kontakt mit Männern zu gestatten. Sie wird von nun an von Frauen bewacht.« Er hielt dem Direktor die Dose hin. »Tic tacs«, sagte er. »Wollen Sie eins?«

Der Direktor sah Archie verwundert an und schüttelte den Kopf.

Archie betrachtete sein Spiegelbild, das von dem aufgemalten Herz eingerahmt war. »Es war mein Fehler«, sagte er. »Ich hätte besser aufpassen sollen. Ich hätte mehr hier sein sollen.«

»Sie spielt mit dir«, sagte Henry leise.

»Ich brauchte eine Pause«, sagte Archie zu seinem Spiegelbild, bemüht, sich selbst zu überzeugen. »Aber jetzt schaffe ich es.« Er wandte sich an den Direktor. »Gehen Sie ihre Dienstbücher durch. Überprüfen Sie das Material der Überwachungskameras. Befragen Sie Ihr Personal. Ich will wissen, ob sie eine Beziehung hatten.«

Die rötliche Haut des Direktors verdunkelte sich, als er begriff, worauf Archie hinauswollte. »Sie glauben, sie hat ihn die ganze Zeit gefickt?«, fragte er.

Archie spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Es fühlte sich ein wenig wie Eifersucht an. »Hoffen Sie lieber, dass es nicht so war«, sagte er.