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Der pochende Schmerz in Archies Unterleib war wieder da. Es regnete unaufhörlich. Alle sahen verschmiert aus. Ihre Schuhe saugten sich am Boden fest. Alle waren durchnässt. Archie fühlte bei jedem Schritt den kalten Matsch in seinen Socken. Die schlammverkrustete Hose schlug ihm an die Waden. Das Haar klebte ihm auf der Stirn. Wenigstens hatte er die Geistesgegenwart gehabt, das Buch hinter einem Baumstamm zu verstecken. Das Letzte was er gebrauchen konnte, war, dass Henry ihn mit einem verschlammten Exemplar von Das letzte Opfer durch den Wald spazieren sah.

Archie konzentrierte sich auf den kleinen Lichtkreis, den seine Taschenlampe auf den Waldboden warf, und richtete seine Gedanken auf die aktuelle Aufgabe.

Es ging langsam voran. So weit das Auge reichte, war alles einen Meter hoch von Efeu und Winden bedeckt. Archie fing auf einer Seite an und ließ den Lampenstrahl dann langsam, Zentimeter für Zentimeter über das Blätterdach wandern, anschließend ging es in die andere Richtung. Henry war links von ihm, ein Streifenpolizist rechts. Ein weiterer Streifenbeamter und vier freiwillige Helfer arbeiteten auf einer Linie in die entgegengesetzte Richtung. Selbst der Ornithologe hatte eine Taschenlampe bekommen. Bisher hatten sie einen halb von Ameisen gefressenen toten Vogel gefunden, eine leere Mineralwasserflasche und Hundekot.

Susan hatte sich ebenfalls eine Taschenlampe geben lassen, aber sie hielt sie mit den Zähnen, damit sie wie rasend in ihr Notizbuch kritzeln konnte. Archie wollte, dass sie einen Artikel schrieb. Er hatte noch immer keine Spur, die zur Identität seiner unbekannten Toten führte, und die Berichterstattung in den lokalen Medien hatte sich bisher auf einen einzigen Absatz im Lokalteil des Herald beschränkt. Er brauchte Presseberichte, je mehr, desto besser.

Links. Vor. Rechts. Danach kniete Archie im Schlamm und Dreck und zog Efeu und Winden beiseite, um zu sehen, was darunter war. Die nassen Ranken waren schwer und unangenehm zu bewegen, und Archies Hände sahen bald aus, als wäre er lebendig begraben gewesen und hätte sich mit bloßen Händen wieder ans Licht gearbeitet.

»Das ist lächerlich«, hörte er Henry sagen.

Es stimmte. Sie konnten morgen früh wiederkommen. Falls eine Leiche hier draußen lag, würde sie in zwölf Stunden auch noch da sein. Aber Archie musste es wissen. Wenn hier eine tote Frau lag, musste er sie finden. Er würde die ganze Nacht nach ihr suchen. Es war auf jeden Fall leichter, als nach Hause zu fahren.

Er richtete die Taschenlampe auf seine Armbanduhr. Sie suchten seit fast einer Stunde.

Ein Hund bellte. Archie blickte auf und sah eine dunkle Gestalt und den Schatten eines Tiers auf dem Weg. Er schwenke den Strahl auf den Hund hinunter. Das Licht reflektierte silbern von seinen Augen.

»Er heißt Cody«, sagte die Hundeführerin. »Ich bin Ellen. Wer von Ihnen ist Sheridan?«

»Ich«, sagte Archie.

Sie kletterte zu ihm herauf, der Hund blieb respektvoll einen halben Meter hinter ihr. Alle richteten die Lampen auf den Weg der Frau, um ihr zu helfen, und Archie erhielt einen besseren Blick auf sie. Die Frau war groß und leicht rundlich, mit einem langen Oberkörper und einem breiten, männlichen Gang. Sie trug das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und war richtig angezogen für das Wetter, mit hohen Gummistiefeln, einer gelben Regenhose und einer gesteppten Daunenjacke. Ach, Juni in Portland.

Als sie Archie erreicht hatte, streckte sie ihm die Hand entgegen, und er schüttelte sie. »Okay«, sagte sie. »Es läuft folgendermaßen: Ich lasse Cody von der Leine. Er läuft herum und sucht nach einer Duftspur. Wenn er etwas findet, kauert er nieder, und zwar so.« Sie sah zu dem Hund hinunter und sagte: »Cody, mach Meldung.« Der Hund sank zu Boden und jaulte. Ellen blickte auf. »Ich lobe ihn, und dann können Sie kommen und nachsehen, was er gefunden hat.«

Archie hatte schon früher mit Leichenspürhunden gearbeitet. Einmal hatte Gretchen einen Mann verstümmelt und sein Herz und seine Milz in einem Schuhkarton mit rotem Schleifchen auf einem Motelbett in North Portland zurückgelassen. An dem Karton war ein Geschenkanhänger befestigt, adressiert an Detective Archie Sheridan. Das Motelpersonal hatte sofort die Polizei gerufen. Gretchen hatte die Organe in Plastikfolie gewickelt, aber die war undicht gewesen, und der Karton war von Blut durchweicht. Archie öffnete den Karton und ließ dann einen Hund kommen, der andere Leichenteile suchen sollte. Es hatte funktioniert. Der Hund fand die Zunge des Mannes in der Eismaschine, seinen Penis in dem Kasten für die Zimmerschlüssel und den Rest von ihm in der Mülltonne des Restaurants nebenan.

»Angenommen es gibt Überreste«, sagte Henry. »Wie lange wird das dauern?«

»Es können Minuten sein«, sagte Ellen. »Oder Tage.«

»Tage«, sagte Henry.

»Vielleicht länger«, sagte Ellen. Sie bückte sich und löste die Leine des Hunds. »Los, Cody.«

Der Hund senkte die Nase auf den Boden und begann durch die Vegetation zu pflügen.

Susan trat vor und nahm ihre Taschenlampe aus dem Mund. »Wie lange sind Sie schon beim Such- und Rettungsdienst«, fragte sie Ellen.

»Gar nicht«, sagte Ellen.

»Sie ist eine Freiwillige«, erklärte Archie. »Wir haben kein Geld für die Finanzierung einer Hundestaffel. Deshalb machen Leute wie Ellen ein paar Kurse mit ihren Hunden und melden sich freiwillig.«

»Ich arbeite in einem Baumarkt«, sagte Ellen.

»Wir haben vor ein paar Tagen eine Leiche knapp einen halben Kilometer weiter unten am Bach gefunden«, sagte Archie. »Wird ihn das ablenken?«

»Haben Sie die Überreste entfernt?«, fragte Ellen.

»Ja.«

»Dann sollte es kein Problem sein«, sagte Ellen. »Da«, rief sie plötzlich. Sie schwenkte ihre Taschenlampe zu Cody, der nur ein kleines Stück von der Stelle entfernt kauerte, wo Archie und Henry gerade gesucht hatten. »Braver Junge«, sagte Ellen. Sie trat hinter Cody, leinte ihn wieder an und rieb ihm kräftig das Fell.

Der Bereich, den Cody anzeigte, war von Ranken bedeckt. Archie ging hin und sank auf Hände und Knie. »Leuchtet hierher«, sagte er zu den anderen. Einer nach dem anderen stellten sie sich rings um ihn auf, Susan, der Ornithologe, Ellen, Henry, die Streifenpolizisten, die Männer des Such- und Rettungsdienstes, alle richteten sie ihre Lampe auf die Stelle, wo der Hund gerade gekauert war, bis ihre zehn gelben Lichtkreise zu einem einzigen verschmolzen. Archie drückte die Efeu- und Windenranken mit den Händen beiseite. Er begann langsam, methodisch und bemüht, keine unnötige Zerstörung anzurichten, bis er zuletzt an den Ranken zog, sie aus der Erde riss und beiseitewarf. Als er den Fleck gerodet hatte, setzte er sich auf die Fersen zurück.

Susan beugte sich vor. »Da ist nichts«, sagte sie.

Archie drehte den Kopf zu dem Hund. »Sollen wir graben, alter Junge?«, fragte er und kraulte das Tier mit seiner schlammigen Hand hinter den Ohren. »Liegt sie unter der Erde?«

Cody richtete den Kopf auf und sah Archie an, dann sah er auf den nun kahlen Fleck Erde.

»Ich hole die Schaufeln«, sagte einer der Freiwilligen des Rettungsdienstes und stapfte geräuschvoll los.

Archie betrachtete den Schlamm. Er war grob, voller Kiesel und Erde. Archie hob einen Kiesel auf und rollte ihn zwischen den Fingern. Er war leicht und porös. Er berührte ihn mit der Zunge.

»Wieso stecken Sie den Stein in den Mund«, fragte Susan.

»Es ist kein Stein«, erwiderte Archie. Steine waren kompakt und würden nicht an Speichel kleben bleiben. Das hier war porös. »Es ist Knochen.«

Cody winselte und zerrte an seiner Leine.

Archie sah den Hund an. Alles, was Knochen derart klein häckselte, würde keine Haare übrig lassen, wie sie in dem Nest waren. Es gab noch eine Leiche. »Lassen Sie ihn los«, sagte er zu Ellen.

Sie löste Codys Leine, und der Hund sauste mit gesenkter Nase los, bis er sich rund zehn Meter weiter oben am Hang wieder niederkauerte.

Archie griff nach seiner Taschenlampe und krabbelte dem Tier nach; er nahm die anderen hinter sich, deren Lampen im Dunkeln auf und ab tanzten, kaum wahr. Der Hang war hier dicht von Farnen bestanden, die in ihrer gewaltigen Größe fast urzeitlich wirkten. Er zog sich nach oben, indem er jeweils eine ganze Hand voll Farnwedel packte. Ihre winzigen Samen klebten an seinen Händen. Als er bei Cody war, kniete er neben ihm nieder, und der Hund schleckte ihm das Gesicht ab. Dann winselte das Tier wieder und stieß mit der Nase an einen großen Farn neben einer durch die Hanglage krumm gewachsenen Zeder. Archie streckte die Hand aus, drückte einen Farnwedel zur Seite und leuchtete mit der Taschenlampe darunter.

»Siehst du etwas?«, rief Henry hinter ihm.

»Ja«, sagte Archie.

Das Skelett war nicht vollständig, aber es war eindeutig menschlich. Er sah einen Fuß, von einem Rest dunkler, lederartiger Haut bedeckt. Die Wadenknochen waren vom Knöchel aufwärts kahl genagt, was den Fuß merkwürdig aussehen ließ, als steckte ein grotesker Schuh an ihm. Er schwenkte die Lampe weiter unter den Farn und sah, was von einem eingefallenen Ledergesicht übrig war, schwarze Lippen, die rissige Haut einer Wange, eine Augenhöhle, ein halb eingedrückter Schädel. Und daran, noch im vertrockneten Gewebe der Kopfhaut verwurzelt, ein Gestrüpp blonden Haars.

»Na also«, sagte Archie leise.

Susan und Henry tauchten links und rechts von ihm auf. Susan sank neben ihm auf die Erde, ihr Bein berührte seines. Er gewöhnte sich allmählich daran, sie um sich zu haben.

»Drei Leichen im Umkreis von ein paar hundert Metern«, sagte sie und drückte den Kugelschreiber gegen das Notizbuch. »Hängen sie zusammen?«

»Vielleicht«, sagte Archie. »Vielleicht auch nicht.« Er blickte in den dunklen Wald hinauf. Es hatte aufgehört zu regnen, die Wolkendecke war aufgerissen und gab den Blick auf eine helle Mondsichel frei. In der Ferne, am Waldrand, konnte er das Licht eines Hauses sehen.

»Stell fest, wer da wohnt«, sagte er zu Henry. »Und dann stell fest, ob es dort eine Holzhäckselmaschine gibt.«