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Als Archie aufwachte, lag er rücklings auf einem Bett. Es war dunkel, aber die Tür stand offen, und aus einem Flur, wie es schien, fiel Licht in den Raum. Ein Ventilator drehte sich an der Decke, die Halterung war locker, sodass er bei jeder Umdrehung leicht gegen die Decke schlug. Die Decke und die Wände waren aus Zedernholz, wie in einer Hütte. Es gab eine Kommode, das gerahmte Bild eines alten Rodeoplakats und ein Fenster mit geschlossener Jalousie. Er war allein, aber er roch ein Feuer. Sie musste irgendwo in der Nähe sein.

Er hatte eine Zeit lang geschlafen. Er merkte es daran, dass ihm der ganze Körper wehtat, dass er fror und zittrig war. Er brauchte weitere Tabletten. Er stellte die Füße mit den Socken daran auf den Teppich. Sie hatte ihm die Schuhe ausgezogen, er sah sie ordentlich neben dem Bett stehen und bückte sich nach ihnen, um sie anzuziehen. Sein Kopf pochte schmerzhaft, und er musste einen Moment innehalten, ehe er sich wieder bewegen konnte. Dann schlüpfte er in die Schuhe, band sie zu und setzte sich auf. Er legte die Hand an die Hüfte, seine leere Waffe war noch da. Er blickte sich nach den Pillenflaschen aus dem Wagen um, sah sie aber weder auf der Kommode noch auf dem Nachttisch. Die Schranktür war auch aus Zedernholz. Er öffnete sie und fand den Schrank voller Kleidungsstücke. Er fragte sich, wem sie wohl gehörten, bis er erkannte, dass die Sachen alle neu waren. Sie hatte sie für ihn gekauft. Entweder sie plante, dass er eine Weile hier sein würde, oder sie wollte nur, dass er das glaubte. Cordhosen. Braune Hosen. Blaue Hemden, weiße Hemden, Pullover und ein paar Professorensakkos. Es sah genauso aus wie in seinem Schrank zu Hause. Berechenbarkeit war immer einer seiner Fehler gewesen.

Er ging zum Fenster und öffnete die Jalousie. Es dämmerte, oder der Morgen brach an. Er sah nur Bäume. Ponderosa-Kiefern. Sie wuchsen nicht westlich der Berge. Sie hatte ihn nach Osten gebracht. Ins Hochland. Vielleicht waren sie noch in Oregon, vielleicht nicht mehr.

Er hörte Musik. Klassische. Sie war sehr leise, kam aber eindeutig von irgendwoher aus dem Haus. Er warf einen Blick zum Fenster zurück. Er könnte es öffnen. Hinausklettern. Fortgehen. Sie waren möglicherweise meilenweit von allem entfernt, aber er konnte es trotzdem schaffen. Er konnte seinen Plan immer noch aufgeben, konnte sie immer noch verlassen. Versuchen, nach Hause zu kommen.

Er dachte noch einen Moment darüber nach, dann drehte er sich zu dem Licht um, das durch die offene Tür fiel, und ging in den Flur hinaus. Es gab mehrere Türen. Der Boden war mit grauem Teppichboden ausgelegt, die Sorte gesprenkelte Industrieware, die man in Miet- oder Ferienhäusern verwendet. Die Musik kam vom Ende des Flurs, wo sich dieser zu einem Wohnbereich öffnete.

Er ging darauf zu.

Eine Fensterreihe im Wohnzimmer ging auf eine Veranda und weitere Bäume hinaus. Das Licht war eine Spur schwächer geworden. Es war Abend, nicht Morgen. Eine Treppe mit einem schmiedeeisernen Geländer führte zu einer Galerie über dem Wohnraum hinauf. Es gab eine Ledersitzecke und einen Kamin mit einer riesigen steinernen Umfassung. Ein Feuer knisterte im Kamin. Gretchen saß in einem Ledersessel davor, mit einem Laptop auf dem Schoß. Sie trug ihr Haar offen und kein Make-up, und der Schein des Feuers ließ ihre makellose Haut engelsgleich erscheinen.

Sie blickte zu ihm auf und lächelte. »Deine Pillen sind in der Küche«, sagte sie. Sie neigte den Kopf nach links, und er folgte ihrem Blick, wo er eine Stufe erhöht eine offene Küche sah.

Die Pillenflaschen standen aufgereiht neben der Spüle auf der Anrichte. Er ging hinüber und öffnete mehrere Küchenschränke, bis er ein Glas fand. Er füllte es mit Wasser und nahm vier Vicodin. Dann überlegte er und nahm eine weitere.

»Willst du einen Drink?«, hörte er sie fragen.

Er drehte sich um und sah, dass sie nun neben einer kleinen Bar aus Rattan stand. Sie trug einen grauen Kaschmirpullover und eine passende graue Hose, und sie lief in Strümpfen. Sie hielt eine Flasche in die Höhe.

Das war alles nicht real. Es geschah nicht wirklich. »Sicher«, sagte er.

»Ist Scotch okay?«

»Klar«, sagte er. Er bewegte sich nicht, er hatte die Hände im Rücken und hielt sich am Rand der Anrichte fest.

Er sah ihr zu, wie sie den Drink eingoss, erst löffelte sie Eis aus dem Behälter, dann schüttete sie den Whiskey darüber, kein Wasser. Ihr glänzendes blondes Haar fiel ihr über die Schultern und schwang leicht hin und her, wenn sie sich bewegte.

Sie drehte sich zu ihm um und hielt ihm das Glas hin.

Er blieb noch einen Moment stehen, ehe er sich von der Anrichte abstieß, zu ihr ging und das Glas nahm. Als er es nahm, berührten sich ihre Finger. Bei dem Kontakt wurde ihm schwindlig und für einen Moment schwarz vor den Augen, aber er achtete darauf, sich nichts anmerken zu lassen. Er prostete ihr zu und trank den Whiskey dann in mehreren Schlucken. Er kannte sich nicht besonders gut aus mit Scotch, aber er ließ sich angenehm trinken und schmeckte teuer. Als er ausgetrunken hatte, gab er ihr das Glas zurück, in dem jetzt nur noch Eis war.

Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Ich muss duschen«, sagte er.

»Den Flur entlang, die zweite Tür links«, sagte sie. »Du wirst alles finden, was du brauchst.«

»Meine Zurechnungsfähigkeit?«, fragte er.

Sie beugte sich vor, wie um ihn zu küssen, aber stattdessen brachte sie den Mund nahe an sein Ohr, ihre Wange war nur Millimeter von seiner entfernt. Ihr Geruch machte ihn benommen. Ihr Atem war warm, dennoch lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken.

»Um die ist es schon lange geschehen, Liebling«, flüsterte sie.

Er hatte geduscht und Sachen aus dem Schrank angezogen. Eine braune Cordhose und ein blaues Hemd. Ein Unterhemd. Unterhose. Socken. Alles passte perfekt. Die Wirkung der Pillen hatte unter der Dusche eingesetzt, die Gliederschmerzen und der Schmerz in seiner Leber hatten nachgelassen und waren durch ein weißes Rauschen ersetzt worden, das sich weich und tröstlich vertraut anfühlte. Es war nicht mehr so wie am Anfang, keine Euphorie mehr. Aber die Pillen dämpften seine Empfindungen so weit, dass er sich fast wohl fühlte.

Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, war es draußen vollkommen dunkel.

Gretchen war auf die Ledercouch umgezogen. Das Feuer war ein wenig heruntergebrannt, tauchte den Raum aber nach wie vor in einen warmen, orangefarbenen Schein. Archie nahm in dem Sessel Platz, in dem Gretchen zuvor gesessen hatte. Der Laptop war nicht mehr zu sehen.

»Willst du noch einen Drink?«, fragte sie.

»Warum nicht?«, sagte Archie.

Sie stand auf, ging zwischen Couch und Sessel hindurch und streifte dabei mit den Fingerspitzen seinen Arm. Er zwang sich, den Blick geradeaus zu richten, sie nicht anzusehen. Er hörte sie hinter sich Eis in das Glas geben, den Scotch einschenken. Die Flüssigkeit knisterte auf dem Eis. Das Eis klirrte an das Gefäß. Sie kam zurück, reichte ihm das Glas und setzte sich auf die Lehne seines Sessels. Sein ganzer Körper spannte sich an. Er konnte es nicht verbergen; seine Hand schloss sich fest um das Glas, seine Knie wurden starr.

Sie lachte leichthin, streckte den Arm über die ganze Breite des Sesselrückens und lehnte sich an ihn. Er spürte die Kaschmirwolle ihres Pullovers seinen Nacken kitzeln. Das Glas blieb wie erstarrt in seiner Hand.

»Je mehr du trinkst, desto schneller wird es gehen«, sagte sie.

Er konzentrierte sich auf das Glas. Es war schweres Kristall mit Silberrand. Er trank einen Schluck von dem Scotch, langsam diesmal, ließ den Alkohol auf seiner Zunge verweilen, kostete den Geschmack aus.

»Das Leberversagen«, fuhr sie fort. »Deshalb bist du hier, nicht wahr?«

Er fühlte, wie sich sein Körper ein wenig entspannte, und er prostete ihr zu. »Auf meine Gesundheit«, sagte er.

Sie griff nach seiner freien Hand und drehte sie in ihren Händen hin und her. Die Nagelbette waren weiß, die Haut eine Spur zu gelb. »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte sie.

Er brauchte genügend Zeit. Einige Tage vielleicht. »Wie lange?«, fragte er.

»Ein paar Tage, ein paar Wochen«, sagte sie. Sie langte über ihn hinweg nach dem Glas in seiner Hand, ihre Brüste streiften seine Brust, ihr bleicher Hals lag an seinem Kinn. Dann setzte sie sich wieder aufrecht. Sie roch anders als er sie in Erinnerung hatte. Nach einer anderen Blume. Rosen. Vielleicht hatte sie nie nach Flieder gerochen. Vielleicht hatte er es sich nur eingebildet. Er lächelte darüber, während sie einen Schluck aus seinem Whiskeyglas trank.

»Du riechst gut«, sagte er.

Sie hielt ihm das Glas hin, und er nahm es.

»Vielleicht geht es auch schneller«, sagte sie. »Das hängt davon ab, wie effektiv du dich vergiftest.«

Er sah auf das kostbare Glas in seiner Hand. Solche Gläser fand man nicht in Mietshäusern. Ein privates Ferienhaus also. Sie hatte es gemietet. Oder die Familie umgebracht. Sein Magen zog sich zusammen. Darüber durfte er jetzt nicht nachdenken.

Das Glas. Wenn alles gut ging, würde sein Team es später finden. Mit den Fingerabdrücken von ihnen beiden darauf. Saufkumpane. »Hast du wirklich als Schwester in der Notaufnahme gearbeitet?«, fragte er.

Gretchen neigte den Kopf und lächelte, dann knöpfte sie den dritten Knopf von oben an seinem Hemd auf und schob die Hand hinein. Ihre Finger über dem Unterhemd fanden rasch die Narbe, wo sie ihn aufgeschnitten hatte, um seine Milz zu entfernen. Sie zog die Augenbraue hoch. »Zweifelst du an meinen medizinischen Fähigkeiten?«

Archie spürte seinen Atem schneller gehen, seine Brust hob und senkte sich. Er trank noch einen Schluck. »Übung macht den Meister«, sagte er.

Sie behielt die Hand in seinem Hemd und legte ihr rechtes Bein über sein linkes, sodass sich ihre Oberschenkel berührten.

Er überlegte krampfhaft, was er sagen könnte, und plötzlich fiel ihm der Laptop ein. »Woran hast du vorhin gearbeitet?«, fragte er.

Seine Frage schien sie nicht zu überraschen. Er wusste, sie hatte darauf gewartet, dass er fragte. »An einem Geschenk für dich.«

»Deine Autobiografie?«, fragte er.

»Etwas Ähnliches. Du wirst einfach abwarten müssen.« Sie streckte die Hand aus und strich ihm eine Haarsträhne hinters Ohr. »Denkst du noch an mich?«, flüsterte sie.

Archie konnte kaum sprechen. »Ja.«

Sie brachte ihr Gesicht genau vor seines, ihre Augen funkelten im Feuerschein des Kamins. »Glaubst du, Henry ahnt etwas?«

Er trank seinen Scotch leer und stellte das Glas auf die Armlehne des Sessels. »Nein«, sagte er. Es war ein merkwürdiges Gefühl, darüber zu sprechen. Er hatte das Geheimnis so lange bewahrt. War ihr im Gefängnis gegenübergesessen, wissend, was sie wusste, und wovon sie nichts sagte. Es nagte an ihm. »Henry hat eine zu hohe Meinung von mir, um etwas zu ahnen.«

»Er hat dich nie danach gefragt, warum es immer so spät wurde?«, sagte sie lächelnd. »Wieso ich deine Handynummer hatte?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Er hat dich nie gefragt, aus welchem Grund du an dem Abend, an dem ich dich entführt habe, tatsächlich zu mir gekommen bist?«

Archie zuckte kraftlos die Schultern. »Ich brauchte psychiatrischen Beistand wegen der jüngsten Leiche.«

»Und wenn eins zum andern führte«, sagte sie, ehe sich ihre Stimme verlor.

»Ich hatte meine Frau nie betrogen«, sagte Archie. »Ich liebte meine Familie.« Wie oft hatte er sich das in den letzten drei Jahren vorgesagt? Und noch immer konnte er ihnen nicht in die Augen sehen. Er war überzeugt, dass sein Sohn es wusste. Niemand sonst ahnte etwas. Aber Ben wusste, dass Archie sie verraten hatte.

Gretchens Atem war ein federleichter Hauch an seiner Wange. »Du warst überarbeitet, Liebling«, sagte sie. »Du brauchtest ein Ventil.« Sie bewegte ihren Mund genau über sein Ohr, ein Schauder lief ihm bei ihren Worten über den Rücken, dann nahm sie sein Ohrläppchen in den Mund und biss hinein. Der Schmerz war angenehm, etwas, das er spüren konnte. Sie saugte einen Moment an seinem Ohrläppchen, und er fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte.

»Viele Männer haben Affären«, sagte sie.

Archie versuchte zu lächeln. »Nur dass sich meine als die Person herausstellte, die ich jagen sollte.«

Gretchens Stimme war voller Anteilnahme. »Wenn man sündigt, geht es selten ohne Komplikationen ab«, sagte sie.

Sie beugte sich über ihn und küsste ihn. Ihre Zungen trafen sich, und er schmeckte den Scotch. In diesem Moment gab es nur sie, die Hitze ihres Mundes, ihre warme Hand, die noch immer an seinem Rippenbogen lag. Sicherlich konnte sie sein Herz fühlen, seinen Puls, seine Erektion, die an ihr Bein drückte.

Sie löste die Lippen von seinen und zog den Kopf ein Stück zurück, sodass sie sich in die Augen blicken konnten. »Würdest du es ungeschehen machen, wenn du könntest? Jene erste Nacht, in der du zu mir nach Hause gekommen bist?«

Es war 2.00 Uhr nachts gewesen. Er war von einem Tatort gekommen. Er hätte nach Hause zu seiner Frau fahren können, aber stattdessen war er zu Gretchen gefahren. Er hatte es geplant. Er hatte auf der Fahrt zu ihr darüber nachgedacht. Und als Gretchen in ihrem Nachthemd die Tür öffnete, hatte er einen Schritt ins Haus gemacht, und dann hatte er sie geküsst.

Er war es gewesen. Er hatte die Affäre begonnen.

Er hatte alles selbst herbeigeführt.

Und er hatte jeden Moment ausgekostet. Und später dann, als sie ihn folterte, hatte er nicht umhin gekonnt, zu denken, dass er es verdient hatte. Dass ihn nun seine Strafe ereilte, und wenigstens würde er sterben und Debbie würde nie die Wahrheit erfahren.

»Warum hast du es getan?«, fragte er Gretchen.

Sie lächelte. »Aus Liebe.«

Er war sich nicht sicher, ob Gretchen überhaupt wusste, wovon er redete. Von der Affäre? Der Folter? Der Tatsache, dass sie sich gestellt und ihm das Leben gerettet hatte? Er forschte in ihren blauen Augen. »Ich würde alles ungeschehen machen«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte dich nie kennengelernt.« Er meinte es ernst. Er meinte es so ernst wie noch nie etwas in seinem Leben. »Ich würde alles dafür geben, um es rückgängig zu machen.«

Sie neigte den Kopf, das blonde Haar wellte sich über der Schulter, und Archie glaubte, einen kurzen Blick auf ihre wahre Persönlichkeit zu erhaschen, ein Aufblitzen von etwas Echtem, von Trauer und Verzweiflung.

Wusste sie, warum er hier war, was er vorhatte?

»Willst du mich jetzt ficken?«, fragte sie.

Er zog sie an sich und küsste sie. »Ja«, sagte er.