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Durchsucht das Haus«, bellte Henry. »Den Garten. Alles.« Archie hörte, wie sich Leute durchs Haus bewegten. Türen wurden geöffnet. Zimmer für durchsucht erklärt. Das alles passierte nicht wirklich. Der saure Geschmack von Erbrochenem in seinem Mund führte dazu, dass sich ihm der Magen erneut umdrehte. Sie wusste, wo er wohnte. Sie hatten das Haus während seiner Gefangenschaft verdammt noch mal oft genug in den Nachrichten gezeigt. Sie konnte ihn finden. Himmel, er hätte wegbleiben sollen. Er spürte eine Hand auf der Schulter, zuckte erschrocken zusammen und öffnete die Augen. Es war Claire. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass sie gekommen war.
Ihr Gesichtsausdruck war ruhig, beherrscht, aber ihre Augen huschten hin und her und nahmen jedes Detail im Zimmer wahr. Er sah, wie sie das Schlafsofa bemerkte, Parkers Kartons über den Beauty-Killer-Fall, die makabre Collage von Gretchens Opfern im Schrank. Sie hatte ihre Dienstwaffe in der Hand. Es war eine große, präzise Waffe, und Claire richtete sie auf den Teppich, aber ihr Arm war gestreckt, mit einer leichten Beuge im Ellenbogen, sodass sie sofort feuern konnte, falls es sein musste. »Wir finden sie«, sagte sie.
Archie wandte sich ab. Susan erschien mit einem Handtuch aus dem Gäste-WC in der Tür. Sie durchquerte mit rosa leuchtendem Gesicht das Zimmer, kniete nieder und fing an, den Fleck vom Erbrochenen auf dem Boden aufzuwischen.
»Lassen Sie es«, sagte Archie. »Das macht nichts.«
Aber Susan presste weiter das graue Handtuch in den Teppich. Ihre Hände zitterten. »Schon in Ordnung«, sagte sie. Er sah, wie sie im Zimmer umherblickte, die vielen Waffen, die Hektik der Polizisten in sich aufnahm. Sie drückte das Handtuch fester in die Fasern. »Schon in Ordnung«, sagte sie wieder, kaum vernehmbar.
»Susan«, sagte Archie lauter. »Lassen Sie es.«
Sie sah zu ihm hinauf, nahm die Hände vom Handtuch und nickte.
»Was ist mit Debbie und den Kindern?«, wandte sich Archie an Henry.
»Ich habe Einheiten losgeschickt, die sie abholen«, sagte Henry.
Archie nickte, sein Herzschlag verlangsamte sich allmählich. »Was ist passiert?«
»Wir haben nicht die leiseste Ahnung«, erwiderte Henry. Sein Gesicht rötete sich, und er hatte eine Hand im Nacken. »Sie haben unmittelbar südlich der 205 zum Tanken gehalten. Gretchen war praktisch an Händen und Füßen gefesselt. Zwei Deputys des Sheriffs fuhren mit ihr. Ein Kassierer der Tankstelle bemerkte, dass sich der Wagen geraume Zeit nicht von der Zapfsäule fortbewegt hatte und ging nachschauen. Er fand eine weibliche Deputy tot vor. Gretchen und der männliche Deputy waren verschwunden.«
Archie schüttelte den Kopf. Sie hatte die ganze Sache geplant, verdammt noch mal. Kein Zweifel, sie hatte den männlichen Deputy überzeugt, ihr zu helfen. Jetzt war der Mann sicher tot. Sogar in ihrem jetzigen Zustand war Gretchen gefährlich. Wenn sie überhaupt so verletzt war, wie sie behauptete. »Mist«, sagte Archie. Sie waren die größten Volltrottel im ganzen verfluchten Universum. Er setzte sich auf den Rand seines Schreibtischs und fing leise zu lachen an.
»Findest du das komisch?«, fragte Henry, dem nicht nach Lachen zumute war.
»Sie hatte es geplant«, erklärte Archie. »Sie wollte verlegt werden. Verstehst du nicht? Der Überfall im Gefängnis. Sie hat nicht mich manipuliert.« Er zeigte mit dem Finger auf Henry, Henry, der alles für ihn tun würde, der eine Gefangene verlegen, der das Identifizierungsprojekt beenden würde, wenn er glaubte, dass es Archie aus dem seelischen Gleichgewicht brachte. »Sie hat dich manipuliert.«
Henry sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, und Archie konnte erkennen, dass sein Freund langsam begriff.
Henry fuhr sich mit der Hand wütend über den kahlen Schädel. »Sie wusste, wie du reagieren würdest«, sagte er. »Und sie wusste, was ich dann tun würde.«
»Natürlich wusste sie es«, sagte Archie.
»Genug«, sagte Claire. »Wir müssen uns um deinen Schutz kümmern.«
Aber Archie rührte sich nicht. »Wie hat sie die Deputy des Sheriffs getötet? Sie tötet normalerweise nicht schnell. Wie hat sie es gemacht?«
Claire sah Henry an. »Sie hat ihr die Kehle durchgeschnitten«, sagte sie.
»Sie hatte ein Messer?«, fragte Archie.
»Das wissen wir nicht«, sagte Henry.
Susan, die auf dem Teppich gesessen hatte, stand auf. Ihre Hände zitterten nicht mehr, und sie zog an einer Strähne ihres Haars. »Ich will ja nicht den Eindruck erwecken, als ging es mir nur um meinen Vorteil«, sagte sie, »aber wurden die Medien schon informiert?«
»Wir lassen vorerst nichts verlauten«, sagte Henry. »Der Bürgermeister befürchtet eine Panik.«
»Sie wird jemanden töten«, sagte Archie. Er sah von Henry zu Claire, wollte sie dazu bringen, dass sie verstanden. »Sie liebt es, Menschen zu töten. Sie hatte fast drei Jahre keine Gelegenheit, jemanden langsam zu töten, so wie sie es gern hat. Wir müssen die Leute warnen.«
Claire sah auf die Uhr. »Wir müssen los«, sagte sie zu Henry.
»Nein«, sagte Archie, schüttelte den Kopf und blieb entschlossen auf dem Schreibtisch sitzen. »Sie muss mich finden können.«
»Das ist das exakte Gegenteil von dem, was passieren muss«, sagte Claire.
»Wollt ihr sie fangen?«, fragte Archie.
»Sie ist wahrscheinlich inzwischen dabei, das Land zu verlassen«, sagte Henry.
Archies Handy läutete. Er holte es aus der Tasche und schaute auf das Display. ›Unbekannter Anrufer‹ stand dort. »Nein«, sagte Archie, »ist sie nicht.«
»Ja?«, sagte er ins Telefon.
»Hallo, Liebling«, gurrte Gretchens Stimme aus dem Gerät.
Erleichterung erfasste ihn wie eine Woge, die alle Angst und Übelkeit fortspülte. Er rutschte vom Schreibtisch und sank auf den Boden. Seine Finger, die das Handy hielten, waren kalt, aber sein Körper fühlte sich heiß an, er schwitzte im Nacken. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er keine Angst vor ihr hatte.
Er hatte Angst davor, sie nie mehr zu sehen.
»Schön, von Ihnen zu hören«, sagte er.