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Susan trank einen Schluck kalten Kaffee aus der Tasse auf ihrem Schreibtisch. Er war sechs Stunden alt und schmeckte nach Rinde, aber es war ihr egal. Sie lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Es war vier Uhr morgens, und im fünften Stock des Herald herrschte Hochbetrieb. Gerüchten zufolge war Howard Jenkins persönlich unten in seinem Büro. Selbst die Praktikanten waren gekommen. Gretchen Lowell macht sich mit Archie Sheridan aus dem Staub? Das war eine Bombenmeldung, und all die üblichen Verdächtigen wollten dabei sein. Wen kümmerte es, dass ein Feuer in der Mitte Oregons wütete, ein kleines Flugzeug vor der Küste vermisst wurde, dazu die übliche Sammlung weiterer schlechter Nachrichten. Gretchens Verkaufserfolge am Kiosk hätten selbst Hearst vor Neid erblassen lassen. So viel Getriebe hatte beim Herald seit Archie Sheridans Entführung nicht mehr geherrscht. Der ersten. »Macht mal jemand neuen Kaffee«, sagte Susan.
Niemand im Raum rührte sich.
Susan knüllte ein Blatt Papier zusammen und warf es auf Derek, der drei Schreibtische entfernt im Internet surfte.
»Hey!«, sagte er und rieb sich das Ohr, das sie getroffen hatte.
»Setz noch mal Kaffee auf«, sagte Susan.
Derek stand auf und schlurfte in Richtung Pausenraum.
Susan war die ganze Nacht im Herald gewesen. Sie hatte darauf bestanden, dass man sie zur Arbeit fahren ließ, allerdings mit der Abmachung, dass sie zum Schlafen in den Arlington Club zurückkehrte. Gretchen Lowell befand sich auf der Flucht. Susan war mit Sicherheit das Letzte, worüber sich die Mörderin Gedanken machte. Bliss war dagegen im Arlington geblieben. Sie fühle sich immer noch gefährdet, sagte sie. Susan war sich allerdings ziemlich sicher, dass sie nur Gefallen am Zimmerservice gefunden hatte.
Susan saß an ihrem Laptop. Das L und das S der Tastatur waren abgenutzt. Abdrücke ihrer Handballen hatten eine schwarze Schmutzspur auf der weißen Handablage hinterlassen. Sie verfügte über einen Desktop-PC in der Redaktion, aber sie benutzte ihn nicht. Es war ein Pentium II. Parker, der zu den ranghöchsten Redaktionsmitglieder gehört hatte, hatte einen Pentium III, und alle warteten nur auf einen Augenblick, um einen Vorstoß auf das Gerät zu unternehmen.
Der Herald hatte die Nachricht von Archies Verschwinden acht Minuten bevor Charlene Wood in der Gasse live auf Sendung ging auf seiner Website gemeldet. Das war immerhin etwas. Es war die längste Zeit, die Susan Ian wegen der Lodge-Story in Ruhe gelassen hatte. Stattdessen hatte sie einen längeren persönlichen Bericht von den Ereignissen in der Gasse verfasst. Ian stand auf diese Masche der New York Times, wo der Reporter immer in der dritten Person von sich selbst spricht, etwa: »Dieser Reporterin zufolge war der Wagen silbern.« Oder: »Die Reporterin wurde Zeugin der Ereignisse, als sie gerade im Freien eine Zigarette rauchte.«
Susan fand, sie klang wie ein Arschloch, wenn sie das machte. Deshalb überging sie Ian und schrieb den Artikel in der ersten Person. Das mit dem Rauchen ließ sie weg.
Sie war mit Henry übereingekommen, nichts davon zu erwähnen, dass Archie freiwillig in den Wagen gestiegen war. Vorläufig. Die veröffentlichte Geschichte legte den Schluss nahe, dass Gretchen ihn wieder gewaltsam entführt hatte. Was möglich gewesen wäre. Sie hätte eine Waffe haben können. Susan konnte es nicht sehen. Es war nicht gelogen. Es schöpfte nur nicht alle Szenarien aus. Und das tat die Presse weiß Gott ständig.
Ian kam zu ihr und setzte sich auf ihren Schreibtisch. Er saß zu nahe. Er hatte es immer getan, als sie miteinander geschlafen hatten, und da hatte es ihr gefallen. Es war ein Gefühl von Verruchtheit gewesen. Sie hatte geglaubt, es sei ihr kleines Geheimnis. Jetzt fragte sie sich, ob nicht die ganze Redaktion Bescheid gewusst hatte. Wahrscheinlich.
»Um sechs ist eine Pressekonferenz«, sagte Ian. Er trug Jeans und ein T-Shirt. »Willst du sie machen?«
»Ja«, sagte Susan. Versuchte er sie nur abzulenken?
»Dann fahr nach Hause.«
Susan wollte nicht nach Hause fahren. Und ganz bestimmt wollte sie nicht in den Arlington Club zurück. »Ich warte auf eine Quelle«, sagte sie.
»Fahr nach Hause, Susan«, sagte Ian freundlich. »Ruh dich ein wenig aus. Geh unter die Dusche. Zieh dir frische Sachen an. Sei um sechs im Justizpalast.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass dir Archie Sheridan wichtig ist.«
Susan erstarrte, als ihr klar wurde, was er dachte. »Ich schlafe nicht mit ihm«, sagte sie rasch.
Ian hob beide Hände. »Geht mich nichts an.«
»Nein«, sagte Susan. Sie schüttelte den Kopf. »Mach nichts Geschmackloses draus.« Sie mochte es nicht, dass er auf diese Weise von Archie dachte, als wäre er nur ein weiterer Mann, in den sie sich unpassenderweise verknallt hatte. »Er ist ein Freund.« Sie langte unter den Schreibtisch und zog das Netzkabel ihres Laptops mit einem Ruck heraus. »Es ist nicht so, wie es mit uns war.«
Derek erschien mit einer Tasse in jeder Hand. In einer steckte ein Plastiklöffel, und sie enthielt so viel Milch, dass es wie Nesquick aussah. Der andere Kaffee war schwarz. Er gab ihr den schwarzen.
»Schwarz und ohne Zucker, richtig?«, sagte er.