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Der Schmerz in Archies Seite war so anhaltend geworden, dass er ihn beinahe ausblenden konnte, wie das Ticken einer Uhr. Beinahe. Aber dann holte er Luft, und der Schmerz erblühte zu einem heftigen Stechen, und er musste sich abstützen, um nicht zusammenzuzucken. Also nahm er noch mehr Tabletten. Es war ihm dabei sehr wohl klar, dass genau die chemischen Stoffe, die ihm den Schmerz bereiteten, das Einzige waren, was ihm Erleichterung verschaffte.
Man hatte ihnen eine Suite mit zwei Schlafzimmern gegeben. Sie war babybreigelb gestrichen. Kürbis hatte Debbie den Farbton genannt. Sie war jetzt bei den Kindern und brachte sie zu Bett in ihrem neuen, babybreigelben Schlafzimmer. Sie hatte Angst. Und nicht nur das. Sie war außerdem wütend.
»Willst du fernsehen?«, fragte Claire. Sie war direkt aus dem Krankenhaus gekommen, saß seit über einer Stunde hier und tat, als würde sie interessiert einen Bildband über Portlands Brücken betrachten, den sie in der Suite gefunden hatte.
»Du musst nicht hierbleiben«, sagte Archie.
»Ich bin deine Bewacherin«, sagte Claire.
Drei Leichen im Park. Gretchen auf freiem Fuß. Und seine Leute passten fleißig auf ihn auf, statt ihre Arbeit zu machen. »Im Flur steht ein Uniformierter«, sagte Archie.
Claire blätterte in ihrem Buch um. »Ich bin wilder als er. Wusstest du, dass die Hawthorne Bridge 1910 gebaut wurde?«
Es klopfte, und Claire sprang auf und ging zur Tür.
»Ich bin's«, hörten sie Henry sagen. Claire öffnete die Tür, und Henry rollte einen großen Koffer herein. Er stellte ihn an die Wand und rieb sich die Schulter.
»Hast du alles gefunden?«, fragte Archie. Sowohl er als auch Henry wussten, dass er die Pillen meinte.
»Ich habe ein paar Klamotten für die Kinder, dich und Debbie gepackt. Wir können mit einem von euch in den nächsten Tagen vorbeifahren, um mehr zu holen. Die Toilettenartikel«, fügte er an, »sind in der Außentasche.«
»Was ist mit Susan?«
»Ich hab sie gerade untergebracht«, sagte Henry. »Mit ihrer Mutter.« Er rieb sich erneut die Schulter. »Ich musste fünfmal fahren, bis ich ihren ganzen Kram oben hatte.«
»Was gibt es Neues?«, fragte Archie.
Henry lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. »Sie haben die Verbrecherjagd des Jahrhunderts angekurbelt. Fünf Dienste. Wir, die Polizei von Oregon, FBI, Küstenwache und die Nationalgarde.«
»Wer leitet den Einsatz des FBI?«, fragte Archie.
»Sanchez.« Auf dem Kaffeetisch standen ein paar Reste von thailändischem Essen.
»Pad Kee Mao?«, fragte Henry Claire.
»Mit Tofu«, erwiderte Claire.
»Du weißt doch, dass ich Hühnchen mag«, sagte Henry.
»Ich habe für mich bestellt«, erwiderte Claire.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht esse.« Henry nahm sich eine Portion Nudeln und zwei gebrauchte Essstäbchen, um sich eine Ladung in den Mund zu schaufeln. »Sanchez kommt später vorbei«, sagte er kauend. »Er arrangiert alles draußen. Ihr Bild ist in allen Medien. Die ganze Welt weiß, wie sie aussieht. Wir kriegen sie.«
»Was ist mit dem Herz?«, fragte Archie. Er bekam das Bild des Herzens nicht aus dem Kopf, das in der Essensbox gelegen hatte.
Henry wischte sich Fett vom Schnauzbart. »Sie glauben, dass es männlich ist.«
Claire sah von dem Buch auf. »Woher wissen sie das?«
»Es hatte einen kleinen Penis«, sagte Henry.
Niemand lachte.
»Ich versuche nur, die Stimmung aufzuhellen«, verteidigte sich Henry.
Archie sah, wie Claire ihm einen tadelnden Blick zuwarf.
Henry blickte zu Boden und aß noch etwas. Diesmal schluckte er hinunter, ehe er sprach. »Wie geht es den Kindern?«, fragte er Archie.
Es war eine Frage, die Archie nicht beantworten konnte. Die Kinder waren den ganzen Nachmittag an Debbie gehangen. Sara hatte nicht einmal allein auf die Toilette gehen wollen. Mit ihm dagegen hatten sie kaum gesprochen.
Archie räusperte sich. »Ich muss mich wieder an die Arbeit machen«, sagte er. »Susan hat unsere erste unbekannte Tote im Park als Molly Palmer identifiziert.«
Henrys Essstäbchen verharrten reglos über dem Pappkarton. »Ach, du lieber Himmel.«
»Ja«, sagte Archie, schloss die Augen und rieb sich den Nasenrücken. »Behaltet es vorläufig für euch.«
»Wer ist Molly Palmer?«, fragte Claire.
Es klopfte wieder an der Tür, dreimal, zögerlich, in gleichmäßigen Abständen. »Officer Bennett, Sir«, sagte eine Stimme.
Henry öffnete die Tür, und Bennett schaute herein. Er war nicht so schmutzig wie nach seiner Rutschpartie in die Schlucht am Fundort von Molly Palmers Leiche, aber er hatte immer noch diesen erschrockenen, ängstlichen Gesichtsausdruck. Er sah Archie an. »Susan Ward möchte Sie sprechen, Sir.«
»Soll reinkommen«, sagte Archie.
Susan trat in den Raum. Ihr türkisfarbenes Haar war nass und gerade nach hinten, hinter die Ohren gekämmt, was sie viel jünger aussehen ließ. Sie trug eine Trainingshose und ein Sweatshirt der University of Oregon, und sie schleppte einen schweren Karton.
»Geht es Ihnen und Ihrer Mutter gut?«, fragte Archie.
Susan antwortete nicht. Sie trug einfach den Karton herein und stellte ihn vor Archie auf das Kaffeetischchen.
»Was ist das?«, fragte Archie.
»Alle meine Notizen und Bänder über Lodge«, sagte Susan. »Jemand hat ihn getötet. Jemand hat ihn und Parker getötet. Und Molly. Und wahrscheinlich diese blonde Frau im Park.« Sie ließ den Blick durch den Raum mit den drei anderen Polizisten wandern. »Finden Sie heraus, wer.«