_11_

Susan trottete hinter Henry her. Der amtliche Leichenbeschauer war eingetroffen, unmittelbar hinter der Spurensicherung und einem runden Dutzend anderen Polizisten. Der Fundort war beleuchtet und abgeriegelt worden, und die Knochenschnipsel wurden mithilfe von Sieben von der Erde getrennt. Susan durfte nicht hinter die Absperrung, und Archie war zu beschäftigt, als dass er reden konnte, und so hatte sie beschlossen, Henry zu folgen. Nicht, dass er sie dazu eingeladen hätte.

»Hör zu«, sagte sie am Handy zu Ian. »Ich kann reinkommen. Ich kann in einer Stunde da sein.« Sie sah auf die Uhr, aber es war so dunkel, dass sie nichts erkannte, deshalb hielt sie das Handy an ihr Handgelenk und las die Uhrzeit im Schein der LCD-Anzeige ab. 22.00 Uhr. Die Ausgaben für außerhalb gingen um 23.00 Uhr in Druck, aber die Morgenausgabe für die Stadt erst ab 2.00 Uhr. Sie hatte noch genügend Zeit. Außerdem wollte sie Ian im Augenblick bei Laune halten, zumindest bis die Geschichte über Molly und Lodge erschienen war.

Henry eilte die lange Betontreppe hinauf, die aus dem Park zurück in die Stadt führte. Wollte er sie abhängen?

Sie hielt das Handy wieder ans Ohr. »Wir bringen eine Doppelseite über Lodges Tod. Acht Artikel«, sagte Ian. »Ich kann dich auf die Titelseite der Stadtausgabe bringen, in der unteren Hälfte.«

»In der unteren Hälfte?«

»Es gibt ein Feuer oben bei Sisters«, sagte Ian. »Das ist der Hauptartikel.«

Sie nahm zwei Treppenstufen auf einmal. »Drei Leichen«, sagte sie aufgebracht. »Wie kann das nicht der Aufmacher sein? Und wen interessiert ein Feuer in Central Oregon?«

»So kann nur jemand reden, der kein Ferienhaus dort oben hat«, sagte Ian und schnaubte verächtlich. »Und du weißt nicht, ob die Leichen zusammenhängen«, fügte er an. »Und sie sind niemand.«

Insekten flogen gegen die gelben Laternen entlang der Treppe. Wahrscheinlich verbrachten sie ihren gesamten Lebenszyklus auf diese Weise, dachte Susan. Wieder und wieder gegen das Gitter über den Leuchtkörpern zu klatschen. »Niemand?«, sagte sie.

Ian klang gelangweilt. »Es heißt, das erste Mädchen war eine Prostituierte. Die anderen beiden wahrscheinlich ebenfalls. Oder Obdachlose. Das interessiert niemanden, Susan. Tote Politiker steigern die Auflage. Tote Nutten nicht.«

»Lodge war ein Sexualtäter«, erinnerte Susan. Sie versuchte, eisern entschlossen zu klingen.

»Wir bringen diese Geschichte nicht, während der ganze Bundesstaat um ihn trauert.«

Manchmal wusste Susan nicht mehr, warum sie überhaupt mit Ian geschlafen hatte. »Du bist ein Heuchler, Ian«, sagte sie.

Ian ging nicht darauf ein. »Da ich dich gerade am Telefon habe«, sagte er, »die Faktenprüfer kriegen Molly Palmer nicht ans Telefon. Ständig meldet sich nur die Mailbox. Hast du noch eine andere Nummer von ihr?«

Susans Magen zog sich zusammen. »Sie ist Stripperin, Ian. Sie hat ihr Handy nicht bei sich, wenn sie nackt ist.« Sie merkte sich vor, Molly aufzustöbern, ehe ihre Sprunghaftigkeit Susan noch um den Artikel brachte.

»Ich lege jetzt auf«, sagte Ian.

Die Leitung war tot. Susan steckte das Handy in die Tasche zurück und stöhnte frustriert. So viel dazu, Ian bei Laune zu halten.

»Man nennt es ›hochriskante Lebensweise‹«, sagte Henry. Er hatte am Ende der Treppe kehrtgemacht und wartete auf sie.

»Was?«, sagte Susan und joggte die letzten Stufen hinauf. Sie beugte sich vor, um Atem zu schöpfen. Ihre Turnschuhe waren voller Schlamm. Es waren nicht die ersten, die sie sich in diesem Job ruiniert hatte …

»Prostituierte«, sagte Henry. »Süchtige. Obdachlose. Eine ›hochriskante Lebensweise‹. Deshalb suchen wir ein paar Tage lang intensiv nach dem Täter, wenn einem von ihnen eine Gabel in den Hals gestochen wurde, und dann wenden wir uns wieder den wichtigeren Fällen zu, bei denen College-Absolventen beteiligt sind.« Er ging weiter, die Straße hinauf. »Wissen Sie, wie viele schwarze Bandenmitglieder und Nutten ums Leben kommen, ohne dass es Ihrer Zeitung mehr als eine Zeile wert ist?«

»Was ist mit Heather Gerber?«, fragte Susan und zerrte ihr Notizbuch aus der Tasche, während sie zu ihm aufschloss. Heather war Gretchens erstes Opfer gewesen. Eine Ausreißerin. Ein Straßenkind. Eine Prostituierte. Sie hatten sie ebenfalls tot im Park gefunden. Der Herald hatte doch sicherlich Artikel über sie gebracht.

Henry steckte die Hände in die Taschen und ging schneller. Der Gehsteig war nass, und seine Schuhe patschten durch das stehende Wasser. »Ihrer Zeitung hätte Heather Gerber nicht gleichgültiger sein können, bis Archie die Verbindung zu den anderen Leichen herstellte und alle erkannten, dass da ein Serienmörder frei herumlief. Bis dahin war sie nur irgendeine unbekannte Tote gewesen. Dann brachte Parker eine Story über sie. Die Pflegeeltern der Kleinen lasen es. Wie sich herausstellte, war sie seit über einem Jahr verschwunden gewesen, und sie hatten es nicht einmal gemeldet. Sie haben einfach nur weiter die Schecks kassiert. Wissen Sie, wer ihr Begräbnis bezahlt hat?«

»Nein.« Der Gehsteig führte bergan. Die Straße verlief parallel zum Rand des Parks, und die Häuser stießen an den Wald. Man durfte jetzt nicht mehr so nahe am Park bauen, aber die Häuser hier waren alt. Die Lichter über den Türen ließen große Holzveranden sehen, mit Schaukelstühlen und Geranientöpfen. Die Luft roch nach Brombeeren.

»Archie hat es bezahlt.« Wie zur Erklärung fügte er an: »Sie war sein erster Mordfall.«

»Der Fall ist offiziell noch nicht gelöst, oder?«, fragte Susan.

»Gretchen war es«, sagte Henry. »Sie hat es nur noch nicht zugegeben.«

Ein Kombi parkte ein Stück weiter vorn an der Straße, ein Mann in sportlicher Kleidung lud zwei große Hunde aus und machte sich für sein abendliches Jogging in Richtung Park auf. »Ist das der Grund, warum Archie sie ständig besucht hat? Weil er diesen ersten Fall abschließen wollte?«

Henry schwieg einen Moment. »Nein.«

Susan fragte sich, wie viel Archie mit Henry über Gretchen sprach. Sie hatte seine Reaktion gesehen, als Gretchen Archies Arm bei einer Vernehmung berührt hatte, die Susan während der Arbeit an ihrem Porträt beobachten durfte. Henry war binnen einer Sekunde im Vernehmungsraum gewesen und hatte Gretchen von Archie weggezogen, als sei sie hoch infektiös. Susan hatte schreckliche Angst vor ihr gehabt, war aber gleichzeitig von dem lässigen Umgang zwischen Gretchen und Archie fasziniert gewesen. Die Beziehung der beiden hatte etwas Intimes an sich, das zumindest beunruhigend war.

Der Gehsteig war alt, von Baumwurzeln aufgeworfen, und Susan und Henry gingen vorsichtig und hielten den Blick auf den Boden gerichtet.

»Wir hätten uns nie auf den Deal mit der Verteidigung einlassen dürfen«, sagte Henry, fast wie zu sich selbst. »Wir hätten sie vom Staat Washington anklagen lassen sollen. Dann wäre sie jetzt schon tot.«

»Archie hat einunddreißig weitere Fälle abgeschlossen«, sagte Susan.

Henry blieb stehen. Sie waren bei dem Haus angekommen, einem braunen Schindelungetüm, das aussah, als wäre es in den Vierzigerjahren gebaut worden. Susan konnte sein Gesicht im Licht der Straßenlampe sehen. Er sah müde aus und zog die Schultern ein. Seine Lederjacke glänzte vom Regen. »Sie kannten ihn vorher nicht«, sagte er.

Es war schwer, sich Archie glücklich vorzustellen.

»Parker hat viel über den Fall Beauty Killer geschrieben, oder?«, fragte Susan.

»Hunderte von Artikeln im Lauf der Jahre«, sagte Henry. »Ach was, Tausende wahrscheinlich.«

Parker war alte Schule. Er hätte noch eine Schreibmaschine benutzt, wenn sie ihn gelassen hätten. Er besaß wahrscheinlich Aufzeichnungen, ganze Kartons davon. Sie mussten unschätzbar sein für jemanden, der beispielsweise eines Tages ein Buch über den Fall Beauty Killer schreiben wollte. Wenn die Molly-Palmer-Geschichte erschienen war, sollte Susan bei der Zeitung einigen Kredit haben. Vielleicht konnte sie ein Sabbatjahr nehmen.

»Erinnern Sie sich zufällig, ob er mal erwähnt hat, wo er seine Unterlagen aufbewahrt?«, fragte Susan.

Henry sah sie einen Augenblick lang an, dann zog er die Augenbrauen hoch und seufzte. »Fast hätte ich es vergessen«, sagte er. Er zog seinen Ausweis aus der Tasche und klappte ihn auf. Dann richtete er die Taschenlampe auf Susans Gesicht.

Sie wandte den Kopf ab und hob die Hand über die Augen. »Was vergessen?«, fragte sie.

»Dass Ihnen Artikel wichtiger sind als Menschen«, sagte Henry. Er schaltete die Lampe aus. »Überlassen Sie mir das Reden«, sagte er und klopfte an die Tür.

Sie warteten schweigend, während Susan innerlich kochte. Sie hatte nicht unsensibel sein wollen. Sie machte sich etwas aus Archie. Sie hatte nicht die Absicht, irgendwelchen billigen Mist zu schreiben. Den gab es bereits. Sie wollte ein echtes Buch schreiben. Ein kluges, bezwingendes, erhellendes Buch. War das so schrecklich?

»Ich wollte nicht …«, begann sie.

Henry hob die Hand. »Stopp«, sagte er.

Ein Verandalicht ging an und spritzte gelbes Licht in die Dunkelheit. Die Eingangstür ging auf, eine ältere Frau erschien. Sie trug das Haar lose und war mit einem Wollhemd bekleidet, das mit indianischen Totems verziert war.

»Ja?«, sagte sie.

Henry trat vor und zeigte seinen Dienstausweis. »Guten Tag, Madam. Ich bin Detective Sobol. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.« Er lächelte liebenswürdig. »Wohnen Sie hier?«

»Jawohl, mein Sohn«, sagte sie, und die hellblauen Augen funkelten amüsiert. »Seit mittlerweile vierundfünfzig Jahren.«

»Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Besonderes aufgefallen?«, fragte Henry und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. »Irgendwelche Aktivitäten im Wald?«

Die Falten in ihrem Gesicht wurden tiefer. »Hat das mit dem Tod des Senators zu tun?«

»Nein, Madam. Wir haben sterbliche Überreste im Wald gefunden.«

»Was für Überreste?«, fragte sie.

Henry räusperte sich. »Menschliche.«

Die Frau reckte den Hals und spähte in Richtung Wald. Dann sah sie Susan an. Susan versuchte, ebenfalls liebenswürdig zu lächeln. »Ist das Ihre Frau?«, wollte die alte Dame von Henry wissen.

Susan lachte laut auf.

»Nein, Madam«, sagte Henry. »Sie ist eine Reporterin.«

Susan hielt ihr Notizbuch hoch und wackelte zur Begrüßung mit den Fingern der anderen Hand.

Henry trat von einem Bein aufs andere und fuhr fort: »Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt? Etwas gehört? Etwas gerochen?«

Vermissen Sie Angehörige?, dachte Susan, sagte aber nichts.

Die Frau dachte darüber nach. »Bill benimmt sich in letzter Zeit merkwürdig.«

»Ist das Ihr Mann?«, fragte Henry.

»Mein Königspudel«, sagte sie.

Susan sah Henrys Mundwinkel kurz zucken. »Inwiefern merkwürdig?«, fragte er.

Die Frau runzelte die Stirn. »Er steht nur vor seiner Hundehütte. Bellt ein bisschen. Lässt mich nicht in die Nähe.«

»Lassen Sie ihn frei im Wald laufen?«, fragte Henry.

»Er springt manchmal über den Zaun«, antwortete sie. »Kommt aber immer zurück.«

»Wo ist Bill jetzt?«

Sie machte ihnen ein Zeichen, ihr zu folgen, und führte sie dann auf einem alten Ziegelpfad um das Haus herum. Sie trug Schaflederstiefel, und Susan sah, wie Henry dicht hinter ihr ging, falls sie auf den unebenen, nassen Ziegeln ausrutschte. Der Weg war mit Solarlichtern beleuchtet, deren hellblauer Schein die Sichtverhältnisse nicht wesentlich verbesserte. Doch die Frau war sicher zu Fuß und geriet nicht ins Stolpern.

Sie kamen zu einem Tor in der Zedernhecke, die den Garten umschloss, es schwang mit einem rostigen Seufzer nach innen, als die Frau es aufstieß. Hier hinten gab es kein Licht. Henry knipste seine Taschenlampe an, als die Frau in die Dunkelheit verschwand.

»Ma'am?«, rief er.

Ein Flutlicht ging an, das einen von Efeu verstopften Garten sehen ließ, und die Frau erschien auf ihrer kleinen hinteren Veranda.

»Bill«, sagte sie in Richtung Garten, »ich habe dir einen Freund mitgebracht.«

Susan hielt nach dem Pudel Ausschau. Der Efeu aus dem Park war über den Zaun gekrochen und schlängelte sich halb durch den Garten. Er war wie eine Art hartnäckige grüne Flut. Man konnte ihn zurückstutzen, aber er kroch einfach weiter voran, dreißig Zentimeter am Tag, bis er wieder alles bedeckte. Susan hörte einen Hund bellen und erkannte, dass die Hundehütte ebenfalls halb zugewachsen war. Ein großer schwarzer Pudel stand im Eingang der Hütte. Er war frisch geschoren, und man hatte ihm das Fell zu einer Reihe von Höckern und Kugeln zurechtgestutzt; er sah aus wie ein absonderlicher lebender Ziergarten.

Susan sah Henry zusammenzucken. »Ist Bill freundlich?«, fragte er.

»Wie ein Lamm«, antwortete die Frau.

Henry schüttelte den Kopf, straffte die Schultern und ging auf die Hundehütte zu.

Bill knurrte.

Henry blieb stehen. »Wie ein Lamm?«, fragte er.

»Lassen Sie sich nicht von ihm einschüchtern, junger Mann«, sagte die Frau. »Sie haben nicht zufällig eine Katze, oder?«

»Ich habe drei Katzen«, sagte Henry.

Die Frau schnalzte mit der Zunge. »Bill mag keine Katzen«, sagte sie in unheilvollem Ton.

»Susan?«, rief Henry. »Wie wär's mit ein wenig Hilfe?«

Susan hatte nie ein Haustier gehabt. Sie zögerte. »Ich kann nicht gut mit Hunden umgehen«, sagte sie.

»Kommen Sie verdammt noch mal hier rüber«, sagte Henry.

Susan ging langsam auf den Pudel zu. »Hallo, Bill«, sagte sie. »Braver Bill.« Sie streckte die Hand aus und ließ sie von dem Hund beschnuppern. »So ist es gut, Bill.«

»Sie sollten ihn wahrscheinlich lieber nicht berühren«, rief die alte Frau von der Veranda.

Susan erstarrte. Der Hund sah ihre ausgestreckte Hand an und fletschte die Zähne. Er knurrte nicht. Er machte überhaupt kein Geräusch.

»Er hat wahrscheinlich vor Ihren Haaren Angst«, sagte Henry, während er versuchte, sich so weit um das Tier herumzudrücken, dass er mit der Taschenlampe in die Hundehütte leuchten konnte. Er ging auf Hände und Knie und schaffte es, sich halb in die Hütte zu zwängen. Als er wieder herauskam, setzte er sich neben den Hund auf den Boden und tippte eine Nummer in sein Handy.

»Archie«, sagte er, »ich bin's. Die Blonde …« Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Fehlt der ein Arm?«

Susan hörte Archies Stimme durchs Telefon. »Ja.«

Henry schaute noch einmal über die Schulter in die Hundehütte. Dann sah er Susan an. Der Hund knurrte und beäugte sie beide misstrauisch. »Ich habe ihn gefunden«, sagte Henry.