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Susan stand am Ende des Flurs und beobachtete eine Biene, die gegen ein zur Straße hinausgehendes Fenster flog. Draußen sah sie Leute Waren vom Markt nach Hause tragen, Hunde spazieren führen, Rad fahren, auf der Suche nach Parkplätzen kreisen. Die Biene klatschte wieder gegen die Scheibe. Der dürre Polizist mit den großen Ohren vom Abend zuvor saß unter dem Gemälde eines hässlichen alten Mannes in einem Sessel. Er blickte auf und lächelte. »Das macht sie seit einer Stunde«, sagte er. »Die Biene. Es ist ein altes Fenster.« Er kratzte sich an einem seiner großen Ohren. »Bienen orientieren sich an UV-Strahlen. Neue Fenster haben UV-Schutz. Aber bei alten geht die UV-Strahlung einfach durchs Glas. Deshalb sieht die Biene es nicht.«

Susan streckte die Hand aus. »Susan«, sagte sie.

»Todd Bennett«, sagte der Polizist. »Sie können mich Bennett nennen«, fügte er an. »Alle tun es.«

»Sie wissen eine Menge über Bienen, Bennett«, sagte Susan und klappte ihr Handy auf.

»Ich weiß eine Menge über Fenster«, sagte Bennett.

Susan war nicht in der Stimmung, über Glas zu reden oder über Bienen. Sie war nicht einmal in der Stimmung, über feministische Liedermacherinnen und Punkvorreiterinnen der Siebzigerjahre zu sprechen, und das war sie sonst fast immer.

Sie wählte eine Nummer beim Herald.

Ian nahm das Telefon an seinem Schreibtisch ab. »Featureredaktion«, sagte er. Beim Klang seiner Stimme bekam Susan eine Gänsehaut. Sie konnte ihn nachgerade schmecken, seine Haut, seine Seife. Schlaf nicht mit Leuten, mit denen du arbeitest, hatte ihre Mutter ihr geraten. Tatsächlich hatte sie gesagt: »Scheiß nicht dorthin, wo du schläfst«, aber Susan hatte gewusst, was sie meinte.

Susan versuchte, sich diesbezüglich zu bessern. Es war einer der Gründe, warum sie die Sache mit Derek abgebrochen hatte.

Susan drehte sich von Bennett fort und sprach leise. »Ian«, sagte sie, »wann bringst du die Geschichte über Lodge und Molly Parker?«

Ian zögerte. »Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«

Die Biene klatschte abermals gegen die Fensterscheibe. »So?«

»Die Menschen trauern immer noch«, sagte Ian.

Susan hätte lachen mögen oder ihm vielleicht den Handballen in den Schwertfortsatz seines Brustbeins rammen und diesen in sein Herz treiben. »Du Scheißkerl«, sagte sie. »Du wirst sie überhaupt nicht bringen, oder?«

Seine Stimme wurde sanfter. »Hab Geduld, Baby.«

»Nenn mich nicht Baby«, zischte sie. Die Biene bereitete sich auf einen neuen Ausbruchsversuch vor. Sie schwirrte mit den Flügeln. »Ich biete sie woanders an. Irgendwer wird sie bringen.«

»Du hast einen Vertrag mit uns«, sagte Ian. »Wenn du ihn brichst, bist du deinen Job los. Wir sind die einzige Tageszeitung in der Stadt.« Er lachte, und Susan beschloss, dass sie ihn vielleicht lieber blenden sollte, damit er bis ans Ende seiner Tage bereuen konnte, ihr in die Quere gekommen zu sein. »Für wen willst du arbeiten?«, fuhr Ian fröhlich fort. »Für ein Anzeigenblatt?«

»Du lässt also zu, dass sie die Story killen? Einfach so?«

»Er ist tot. Welche Rolle spielt es noch? Du bist brillant. Die Lodge-Geschichte ist vorbei. Alle wollen jetzt Gretchen Lowell. Und du bist mittendrin.«

»Ich sitze in dem verdammten Arlington fest«, sagte Susan lauter als sie beabsichtigt hatte. Die Biene klatschte erneut gegen das Fenster. »Gib es auf«, sagte Susan. »Sch!«

»Was?«, fragte Ian.

Susan legte die Hand vors Gesicht. »Ich habe mit einer Biene geredet«, sagte sie.

»Ach so«, sagte Ian. Er schnalzte leise mit der Zunge. »Ich berichte über die Großfahndung. Aber wir richten einen Blog für dich auf der Website ein. Du kannst ein tägliches Update vom Arlington aus verfassen.«

»Einen Blog?« Susan war die Website des Herald völlig egal. Sie schielte zu Bennett hinüber. Er las in einem Heft des Portland Monthly. Das Titelbild zeigte ein Foto von Oregons Hochlandwüste und eine Schlagzeile, die lautete: Die besten exotischen Reiseziele. Vielleicht las er einen Artikel über Fenster.

Gretchen Lowell hin oder her, Susan musste hier raus. Sie würde keinen Blog schreiben. Nicht wenn sie die Lodge-Geschichte einstampften. Das zumindest schuldete sie Molly Palmer.

»Hör zu, Baby«, sagte Ian. Sie hörte das vertraute Klappern seiner Tastatur. »Ich muss Texte über die Schulbelagerung fertig bekommen.«

Die Biene war verschwunden. Vielleicht war sie tot. Vielleicht hatte sie es aufgegeben und war zu irgendeinem vor Pollen überfließenden Paradies davongeflogen. Susan wusste es nicht. »Weißt du noch, wie ich mal gesagt habe, dass dein Penis Durchschnittsgröße hat?«, sagte sie zu Ian. »Das war gelogen.«

Sie klappte ihr Handy zu. Sie vermisste Parker. Parker würde wissen, was zu tun war. Parker würde es schaffen, dass die Geschichte veröffentlicht wurde. Parker würde sie auf die Titelseite bekommen. Sie ließ das Handy in ihre Handtasche fallen und ging zu ihrem Zimmer zurück, direkt an Bennett vorbei, der, wie sie bemerkte, keinen Augenkontakt zu ihr herstellte, was bedeutete, dass er jedes Wort ihrer Unterhaltung mitgehört hatte. Er saß direkt gegenüber von Archies Suite, Nummer 602. Und neben dem Zimmer von Susan und Bliss, Nummer 603. Archie und seine Familie hatten eine Suite. Sie und Bliss teilten sich ein Zimmer. Zwei Doppelbetten. Ein Schreibtisch. Ein Fernsehgerät. Und ein Bad ohne Wanne.

Susan hätte jetzt gern gebadet. Mehr als alles andere in der Welt. Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und dort, in dem freien Raum zwischen den Betten und der Wand, stand ihre sechsundfünfzigjährige Mutter mit geschlossenen Beinen und erhobenen Armen, die Handflächen zusammengelegt. Ihre von Leberflecken gesprenkelte Haut war um die Mitte und an den Oberarmen blass und schwammig. Ihre Brüste schwangen zur Seite, als sie sich vorbeugte und ihre Zehen berührte. Die gebleichten Rastazöpfe schlugen wie ein Bündel Seile auf den Teppich.

Susan schloss rasch die Tür hinter sich. »Bliss«, fragte sie, »was tust du da?«

Susans Mutter sprang in eine Liegestützposition, ihre Brustwarzen streiften über den Boden. »Sonnenanbetung.«

»Du bist nackt. Du bist nackt im Arlington.«

Bliss behielt die Zehen am Boden, streckte aber die Arme durch und bog den Oberkörper aufwärts, sodass sie Susan ansehen konnte. »Ich mache immer nackt Yoga«, sagte sie. Sie ging in eine Stellung über, bei der sie die nackten Hinterbacken in die Luft reckte und den Rücken krumm machte, dann führte sie ein Bein nach vorn zwischen die Hände, machte einen Ausfallschritt und streckte die Arme über den Kopf. »Es ist sehr befreiend.«

Susans Mutter hatte eine Efeu-Tätowierung, die unterhalb einer Brust begann und sich zu ihrem Oberschenkel hinunterschlängelte. Als Susan der Tätowierung mit den Augen folgte, blieb ihr der Mund offen. »Was hast du mit deinem Schamhaar gemacht?«

Bliss senkte die Arme zur Stellung ›Stolzer Krieger‹, indem sie einen nach vorn streckte und den andern nach hinten. »Mit Wachs behandeln lassen«, sagte sie. Sie ließ die Arme sinken und straffte mit den Händen ihren Unterleib, sodass Susan das Muster erkennen konnte, das in dem runden Büschel ihres grauen Schamhaars entstanden war. »Es ist ein Peace-Zeichen. Bodhi hat es im Salon gemacht.«

»O mein Gott.«

Bliss hob die Arme wieder, sank ein wenig tiefer in ihre Pose und schloss die Augen. »Dieser Krieg ist unrechtmäßig, Schätzchen.«

Susan machte kehrt und riss die Tür zum Flur auf. Dort kam gerade Henry vorbei. Und Debbie. Und Archies Kinder. Sie alle wandten den Kopf und sahen zu Susan. Hinter der ihre nackte Mutter, klar erkennbar durch die offene Tür, einen Ausfallschritt machte.

»Namaste«, sagte Bliss und winkte. Sie trat einen Schritt vor und beugte sich tief nach unten, sodass sich ihre Zöpfe wieder auf dem Teppich türmten.

Henry, Debbie, Ben und Sara verharrten reglos im Flur.

»Dein Tattoo gefällt mir«, sagte Ben.

»Danke!«, sagte Bliss und kehrte zur Liegestützposition zurück.

Susan trat in den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich. Bennett saß immer noch in dem Sessel und hatte die Portland Monthly offen im Schoß liegen. Ben und Sara hielten sich an je einer Hand von Debbie fest. Henry zog eine Augenbraue hoch.

»Na, wie war das Mittagsessen?«, fragte Susan, bemüht, beiläufig zu klingen.

»Versuchen Sie den Salat mit geräuchertem Lachs«, sagte Debbie. »Er ist ausgezeichnet.«

Im Flur war es ruhig. Das einzige Geräusch war das Umblättern des Polizeibeamten, das zu schnell erfolgte, als dass er tatsächlich in der Zeitschrift lesen konnte.

»Wohin gehen Sie?«, wollte Henry von Susan wissen.

Susan trug eine enge schwarze Jeans, ein schwarzes Tanktop und einen schwarzen Gürtel. Ihre Handtasche und ihre Schuhe waren aus rotem Lackleder. »Arbeiten«, sagte sie.

Henry schüttelte den Kopf. »Sie können nicht weg. Sie stehen unter Bewachung.«

»Ich muss Artikel schreiben«, sagte Susan. Ihre Stimme klang zu verzweifelt, deshalb versuchte sie, es neu zu formulieren, es wichtiger klingen zu lassen. »Ich bin Journalistin. Zeitungsjournalistin.«

»Schreiben Sie in Ihrem Zimmer«, sagte Henry. »Wo Sie in Sicherheit sind.«

Susan warf einen Blick auf die Tür zurück, die sie von ihrer nackten Mutter trennte, dann sah sie Henry wieder an. »Ich muss hier raus«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Henry seufzte. »Ich rede mit Archie.«

Na, großartig. Sie saß im Arlington fest. Gretchen kommt frei. Und Susan wird eingesperrt. War das gerecht? Sie warf verstohlen einen Blick auf Bennett. An Henry kam sie nicht vorbei. Aber vielleicht an diesem Knaben. »In Ordnung«, sagte sie.

Henry betrachtete sie einen langen Moment, dann fuhr er sich mit der Hand über den rasierten Schädel und nickte. Er legte Debbie die Hand auf den Rücken und führte sie und die Kinder in die Suite der Familie.

»War das ein Peace-Zeichen?«, hörte Susan Debbie fragen, als sie durch die Tür verschwanden.