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Mom?«, sagte Susan noch einmal.
Es gab eine Pause. »Könnte sein, dass ich eine gegessen habe.«
Susan bekam kaum Luft. »Mom«, sagte sie so ruhig wie möglich, »du musst dich übergeben.«
»Wie bitte?«
»Hör zu, Mom«, sagte Susan etwas lauter, »die Pralinen sind vergiftet. Bring dich irgendwie dazu, dich zu übergeben. Ich lege jetzt auf und rufe den Notarzt.« Sie schloss die Augen. »Versprich es mir.«
»Aber mir ist nicht schlecht.«
Susan öffnete die Augen. »Bliss, versprich es mir.«
»Okay«, stimmte Bliss zögerlich zu.
Susan legte auf und wählte die Notrufnummer. »Ich glaube, meine Mutter wurde vergiftet.« Sie ratterte Bliss' Adresse herunter. »Sie hat eine Praline gegessen. Ich glaube, Gretchen Lowell hat mir vergiftete Pralinen geschickt.«
»Ja, ja«, sagte die Beamtin in der Notruf zentrale. Sie klang nicht überzeugt.
»Ich bin nicht verrückt. Mein Name ist Susan Ward. Ich schreibe für den Herald. Bitte schicken Sie einen Notarzt.«
Sie legte auf und sah sich hektisch um. Weitere Kinder strömten aus der Schule. Alle möglichen Polizisten liefen hinein. Irgendetwas war da drinnen passiert. Das reinste Chaos war ausgebrochen.
Susan kümmerte es nicht. »Ich brauche Hilfe«, rief sie. »Hilfe.«
Sie duckte sich unter dem Absperrband durch und lief in Richtung Schule.
»Gehen Sie hinter die Absperrung«, hörte sie jemanden bellen.
Susan spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. »Gretchen Lowell«, rief sie. »Sie hat mir Pralinen nach Hause geschickt.« Sie sah sich hektisch nach jemandem um, der ihr helfen konnte. Aber alle waren auf die Schule konzentriert. »Meine Mutter hat eine gegessen«, brüllte sie. »Ich brauche Hilfe.« Sie hielt nach Archie Ausschau, nach Henry, nach irgendwem, den sie kannte. »Ich brauche Archie«, schrie sie einen Streifenbeamten an. »Wo ist Archie?« Der Mann sah sie ausdruckslos an. »Bitte«, flehte Susan. Sie lief jetzt. »Hilf mir doch jemand.«
Wie aus dem Nichts tauchte Claire Masland auf, sie war plötzlich da und legte Susan den Arm um die Schulter.
»Susan?«, sagte sie. Sie griff fester zu, genau in dem Moment, in dem Susans Beine nachzugeben drohten. »Beruhigen Sie sich. Erzählen Sie mir, was los ist.«
Susan musste tief Luft holen, ehe sie reden konnte. »Meine Mom hat gerade angerufen. Eine herzförmige Pralinenschachtel wurde zu uns nach Hause geliefert, an mich adressiert. Auf der Karte stand, sie komme von Archie. Sie hat eine gegessen. Meine Mutter hat eine gegessen.« Sie packte Claire an der Schulter und sah sie eindringlich an, damit sie auch wirklich verstand. »Archie würde mir keine Pralinen schicken.«
»Ist Ihre Mutter jetzt zu Hause?«, fragte Claire.
»Ich habe ihr gesagt, sie soll sich übergeben«, sagte Susan. »Das würde helfen. Aber sie tut nie, was man ihr sagt.«
Claire setzte ein Funkgerät an den Mund. »Schicken Sie einen Bus zu … Wie lautet Ihre Adresse?« Susan sagte sie ihr. Claire wiederholte sie in das Walkie-Talkie. »Eine Frau in den Fünfzigern. Möglicherweise vergiftet.« Sie wandte sich an Susan. »Fahren wir.« Dann deutete sie auf einen weißen Streifenbeamten mit einer dunkelblonden Afro-Frisur. »Sie da«, schrie sie, »Art Garfunkel. Folgen Sie mir.« Sie rief ihm Bliss' Adresse zu.
Sie stiegen in Claires Wagen, und Claire schaltete die Sirene an. Das Schulgelände war voller Eltern, Polizisten, Einsatzfahrzeugen und Pressewagen, aber sobald die Sirene an war, öffnete sich eine Gasse und Claire konnte aus dem Durcheinander heraussteuern. Susan wählte die Festnetznummer ihrer Mutter, aber das Telefon läutete und läutete – und niemand ging ran. Vielleicht war Bliss fleißig am Erbrechen. Vielleicht lag sie bewusstlos auf dem Boden. Der Anschlag hatte Susan gegolten. Falls Bliss etwas zustieß, wäre es ihre Schuld.
Sie ließ das Telefon klingeln, drückte es fest an ihr Ohr, hielt die Augen geschlossen. Vielleicht konnte ihre Mutter es hören; vielleicht würde sie wissen, dass Susan unterwegs war. Himmel, sie war ja so dumm. »Ich dachte tatsächlich, er hätte mir Pralinen geschickt«, sagte sie zu Claire und verbarg ihr Gesicht. Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von der Wange. Ihre Haut fühlte sich klamm und kalt an. Sie wollte bei ihrer Mutter sein. Sie öffnete die Augen und sah zu Claire hinüber. Claire steuerte den Wagen durch den Verkehr auf der 205, vorbei an den Autohändlern, den Einkaufszentren und Baufinanzierern. Die Waffe hatte sie auf dem Schoß liegen. Sie konnte wahrscheinlich Wände verputzen, Zielschießen und den Ölwechsel bei ihrem Wagen selbst machen. »Haben Sie jemanden?«, fragte Susan.
»Ja«, sagte Claire.
Alle hatten jemanden. »Ich habe nur meine Mom«, sagte Susan.
»Wir kommen rechtzeitig zu ihr, Schätzchen«, sagte Claire. »Ich verspreche es.«
Das Läuten hörte auf. Einen Moment lang glaubte Susan, Bliss habe abgenommen, aber dann meldete sich eine Stimme vom Band. »Der gewünschte Teilnehmer ist nicht erreichbar …« Allerdings. Sie schaltete das Gerät aus. Im selben Moment läutete es schon wieder, und sie riss es an ihr Ohr, in der Erwartung, dass Bliss am anderen Ende war.
»Die zehn Minuten sind um«, sagte Ian. »War irgendwas?«
»Nichts«, sagte Susan.