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Archie hatte den Fernseher in seinem häuslichen Arbeitszimmer laufen, ohne Ton. Es war das erste Gerät gewesen, das er und Debbie zusammen gekauft hatten, für ihre erste gemeinsame Wohnung, noch zu Collegezeiten. Ein 27-Zoll-Farbfernseher von Panasonic. Damals war er ihnen als Luxus erschienen. Jetzt wirkte er nur noch alt und klobig. Debbie hatte einen Flachbildschirm für das Wohnzimmer erworben. Aber Archie konnte sich nicht von dem alten Gerät trennen. Es hatte einen sentimentalen Wert.
Er hatte den Lokalsender eingestellt, in der Hoffnung auf eine Berichterstattung über die Leichenfunde im Park, aber die Nachrichten wurden weiter von dem ganzen Zirkus rund um den Tod des Senators dominiert. Fünfzehntausend Menschen hatten an der Begräbnisfeier im Waterfront Park teilgenommen. Man sprach bereits davon, den Flughafen in Lodge International umzubenennen.
Archie fragte sich, wie Molly Palmer wohl darüber dachte.
Er hatte vier Pappkartonschachteln voller Berichte über vermisste Personen aus dem Schrank gezogen und lud nun den Inhalt von einer auf seinen Schreibtisch. Es waren einhundertacht Akten, alles Leute, die zwischen 1994 und 2005 im pazifischen Nordwesten verschwunden waren, der Zeitspanne, in der Gretchen ihre Morde begangen hatte. Bei einigen handelte es sich wahrscheinlich um Ausreißer, Sorgerechtsauseinandersetzungen, Gammler. Aber manche waren gefoltert und ermordet worden, und nur Gretchen wusste, welche. Archie kannte jedes Foto, jede Geschichte. Er hatte sich mit vielen Familien von Vermissten getroffen und nach Hinweisen darauf geforscht, dass die jeweiligen Personen Gretchens tödliche Aufmerksamkeit geweckt haben könnten. Irgendetwas an der Art, wie sie sich kleideten oder benahmen; ein bestimmter Ort, den sie regelmäßig aufsuchten. Aber das war das Problem bei Gretchen – es gab kein Opferprofil. Sie tötete jeden.
Sich diese Akten wieder anzusehen, hatte etwas Befriedigendes. Niemand kannte sie besser als Archie. Er konnte zwar ein totes Mädchen im Park nicht identifizieren, aber das hier war etwas, das er tun konnte. Er hatte seine ganze Karriere in der einen oder anderen Weise mit dem Fall Beauty Killer verbracht. Es war ein gutes Gefühl, zu ihm zurückzukehren.
Er lächelte für sich. Er würde sich am Sonntag mit Gretchen treffen, und sie würde ihm das Versteck einer Leiche verraten, und eine weitere Familie würde eine Antwort erhalten. Ein weiterer Fall würde abgeschlossen sein. Er und Gretchen konnten sich wieder in ihrem gewohnten Ablauf einrichten. Der Gedanke machte Archie … glücklich.
Er steckte zwei Vicodin in den Mund und stand auf, um sich aus dem Badezimmer etwas Wasser zum Hinunterspülen zu holen. Als er mit dem Glas in der Hand die Tür seines Arbeitszimmers öffnete, sah er zu seiner Überraschung Henry und Debbie davor stehen. Sie sahen aus, als wollten sie gerade zu ihm hereinkommen.
Archie blieb abrupt stehen. »Ich wusste gar nicht, dass du hier bist«, sagte er zu Henry. Er sah Debbie auf der Suche nach einer Erklärung an, aber sie wich seinem Blick aus.
»Ich wollte mit Debbie sprechen«, sagte Henry.
Archie drehte das leere Glas in der Hand. »Was ist los?«, fragte er langsam.
Henry warf einen Blick in Richtung Wohnzimmer, wo die Kinder waren. Archie hörte ein Video laufen.
»Können wir uns in deinem Arbeitszimmer unterhalten?«, fragte Henry.
Archie sah auf das Glas hinunter, das er in der Hand hielt. Die Pillen, die als harter Klumpen in seiner Kehle steckten, begannen zu brennen. »Ich wollte mir gerade etwas Wasser holen«, sagte er.
»Ich bringe es dir«, sagte Debbie. Sie trat vor und nahm ihm das Glas ab.
»Wollt ihr beide heiraten, oder was?«, fragte Archie.
Henry lächelte nicht. Er blickte erneut in Richtung Wohnzimmer, zu den Kindern, dann sah er Archie an. »Gehen wir in dein Büro«, wiederholte er.
»Okay«, sagte Archie. Er ging zurück in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Im Fernsehen waren Farbaufnahmen von Lodge als junger Mann zu sehen, als er zum ersten Mal ins Amt gewählt worden war. Die Akten über die vermissten Personen waren neben der leeren Box auf Archies Schreibtisch gestapelt. Er hatte bereits einige Ideen, wie er diesmal bei Gretchen in Bezug auf ihre Verbrechen vorgehen wollte, aber er hatte das Gefühl, es war nicht der richtige Zeitpunkt, dieses Thema zur Sprache zu bringen.
Henry setzte sich nicht. Er ging bis zur Mitte des Zimmers und blieb stehen. Er fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. »Ich habe Gretchen heute verlegen lassen.«
Die Pillen in Archies Hals fühlten sich wie eine Faust an. »Was?«
Henry sah ihm in die Augen. »Ich habe heute einen Verlegungsbefehl veranlasst, damit Gretchen nach Lawford gebracht wird.«
Archie forschte in Henrys Gesicht nach einer Erklärung. »Aber das liegt im östlichen Oregon.«
Henry rührte sich nicht. »Du wirst sie nicht mehr sehen können«, sagte er schlicht. »Du bist von ihrer Besucherliste gestrichen. Kein Kontakt. Keine Briefe, weder rein noch raus. Keine Anrufe. Keine Besuche. Punkt.«
Archie fühlte, wie er den Boden unter seinen Füßen verlor. Er schluckte heftig, um die Pillen hinunterzuzwingen, aber sie saßen fest. Er spürte seine Magensäure brennen. Er schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht.«
»Es ist bereits erledigt«, sagte Henry leise.
»Ich rufe den Bürgermeister an«, sagte Archie. Er hustete und legte die Hand aufs Brustbein.
»Alles in Ordnung?«, fragte Henry.
»Ich brauche nur etwas Wasser«, sagte Archie, und seine Augen tränten.
»Debbie«, rief Henry, »wo bleibt das Wasser?« Er drehte sich wieder zu Archie um und ließ die breiten Schultern sinken. Archie hatte ihn nie bekümmerter gesehen. Und nie entschlossener. »Ich habe mit Buddy gesprochen«, sagte er. »Er ist auf meiner Seite.«
Buddy Anderson war vor Archie der Kopf der Task Force Beauty Killer gewesen. Er hatte sie als Polizeichef und als Bürgermeister immer unterstützt. Nicht aus Altruismus natürlich, Buddy kannte nur den Wert von guter Publicity.
»Was ist mit dem Projekt zur Identifizierung der Opfer?«
»Sie kann mit jemand anderem reden«, sagte Henry. »Oder eben nicht. Das ist die Sache nicht wert.«
»Ich muss sie sehen«, flehte Archie. Er hasste es, wie er sich anhörte. Verzweifelt. Henry, Debbie, Buddy – alle hatten ihn verraten. Er blickte auf und sah Debbie mit dem Glas in der Hand in der Tür stehen. »Bitte!«
Henry blieb unerschütterlich. »Nein. Es ist schon alles in die Wege geleitet. Sie wird morgen verlegt. Bis dahin ist sie in Isolationshaft. Es ist vorbei.«
Nein. Das konnte Henry nicht tun. Archie war der Leiter der Soko Beauty Killer gewesen. Sie konnten ihn nicht einfach von dem Fall ausschließen. Archie griff nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch und tippte die Gefängnisnummer ein, die er auswendig kannte. Die Pillen brannten. Er hustete. »Hallo, Tony. Hier ist Archie Sheridan. Ich muss mit Gretchen sprechen. Ich fahre jetzt los. Können Sie dafür sorgen, dass sie bereit ist?«
Es gab ein leichtes Zögern. »Sie ist in der Isolationszelle. Keine Besucher.«
Archie schloss die Augen. »Können Sie ihr ein Telefon bringen?«
Neuerliches Zögern. Er tat Archie leid.
»Wir haben Anweisung, Sie nicht mit ihr sprechen zu lassen«, sagte Tony.
»Schon gut«, sagte Archie und beendete das Gespräch. »Schon gut.« Die Pillen schmerzten wie Sodbrennen. Es war ein vertrauter Schmerz. Der Abflussreiniger, den ihm Gretchen eingeflößt hatte, hatte seine Speiseröhre verätzt. Es hatte Monate gedauert, bis er sich von der Operation erholt hatte. Er stand noch einen Moment mit dem Telefon in der Hand da, dann schleuderte er es mit aller Kraft gegen die Wand seines Arbeitszimmers. Es fiel in zwei Teilen auf den Boden, die Batterien rollten über den Teppich. Debbie stieß einen erschrockenen Laut aus und ließ das Wasserglas fallen. Einen Augenblick später zersplitterte eine gerahmte Belobigung an der Wand und fiel herunter. Debbie ging in die Hocke, um das Glas aufzuheben. Es war auf den Teppich gefallen und heil geblieben. Hilflos blickte sie auf die Pfütze, die sich in die Fasern saugte.
In diesem Augenblick hasste Archie sie. »Du hast davon gewusst«, sagte er.
Debbie blickte erschrocken auf. »Henry hat es mir gerade erzählt.«
Ihr gekränkter Gesichtsausdruck schnitt Archie ins Herz. Er spürte, wie seine Beine nachgaben, und sank vor seinem Schreibtisch auf den Boden. Er ließ den Kopf hängen und legte die Arme in den Nacken. Und immer noch konnte er nur an Gretchen denken. »Ich weiß, ich brauche Hilfe«, sagte er. Er war verzweifelt, sein Puls raste, als könnte er jeden Moment hyperventilieren. Er überlegte fieberhaft, was er sagen könnte, damit Henry seine Meinung änderte. Es war ihm egal, was. »Mach die Verlegung rückgängig«, sagte er. »Ich kann mich zusammenreißen. Was du willst. Aber ich muss sie sehen.«
Henrys Stimme nahm den Tonfall an, den Archie schon unzählige Male von ihm gehört hatte, wenn sie einen Verdächtigen befragten. »Du hast Monate durchgehalten, ohne sie zu sehen«, sagte Henry. »Und es ging dir besser.«
Archies Schädel pochte. Er drückte mit Daumen und Zeigefinger an seinen Nasenrücken.
»Nein«, sagte er mit einem traurigen Lachen. »Es ging mir nicht besser.«
Debbie kam zu ihm und sank neben ihm auf die Knie. »Wir tun das für dich, Archie.«
»Ich brauche sie«, sagte Archie, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Die Pillen steckten immer noch in seinem Hals. »Ihr glaubt, ihr helft. Aber ihr macht alles nur schlimmer.«
Debbie legte ihm beide Hände an die Wangen. »Du fehlst mir so sehr.«
Er sah ihr in die Augen. Ihre Hände fühlten sich fremd an auf seiner Wange. Unvertraut. »Lass mich in Ruhe«, sagte er. Er blickte zu Henry empor. »Du auch.«
Debbie löste die Hände von ihm, stand auf und stellte sich hinter Henry. Eine Hand lag auf seinem Arm.
»Archie?«, sagte Henry.
Archie blickte auf. Hinter Henry und Debbie sah er das Fernsehgerät; ein flaggengeschmückter Sarg, der Wagen, der aus dem Willamette geborgen wurde, die weinende Witwe des Senators.
»Ich brauche deine Waffe heute Nacht«, sagte Henry. »Ich werde auf der Couch schlafen. Du bekommst sie morgen früh zurück.«
»Natürlich«, sagte Archie. Er angelte seinen Schlüssel vom Schreibtisch und warf ihn Henry zu. Dann beobachtete er, wie Henry um den Tisch ging und die Schublade aufschloss, in der Archie seinen Dienstrevolver aufbewahrte. Henry holte ihn aus der Schublade, vergewisserte sich, dass er leer war und schloss die Schublade.
Dann legte er seine große Hand auf Archies Schulter und ließ sie lange liegen. »Es tut mir leid«, sagte er.
Archie wusste nicht, ob es ihm wegen Gretchen leid tat, oder weil er ihm die Waffe abgenommen hatte. Oder weil er sich mit Debbie verschwor. Es spielte auch keine Rolle. Falls Archie sich umbringen wollte, würde er nicht seine Waffe benutzen. Er würde es mit den Pillen tun. Gretchen hätte es gewusst.