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Sie werden was tun?«, fragte Susan. Sie trug grüne Krankenhauskleidung und war in der Notaufnahme im Emanuel Hospital. Sie nahm die Sauerstoffmaske ab und sagte es noch einmal. »Sie werden was tun?«
»Ich werde ihre Nase wieder gerade richten«, sagte der Arzt. Susan war sich ziemlich sicher, dass er achtzig war. Als er vorhin hereingekommen war, hatte sie gedacht, er sei einer von diesen alten Leuten, mit denen die Krankenhäuser oft den Kiosk besetzen.
»Mit Ihren Händen?«, fragte sie entsetzt.
»Ja.« Er streckte die Hand aus, und ehe sie sich wehren konnte, hatte er ihre Nase mit beiden Händen gepackt. Es gab einen scharfen Schmerz, und sie stieß einen erstickten Laut aus, dann ließ er die Hände sinken und lächelte.
»Na, sehen Sie«, sagte er. »War doch gar nicht so schlimm, oder?«
Susan hob die Hände ans Gesicht. »Au«, schrie sie.
»Die Schwester wird Sie schienen und bandagieren, anschließend können Sie wieder gehen.«
»Bekomme ich keine Schmerzmittel?«, fragte Susan.
Der Arzt tätschelte ihr die Hand. »Eis und Ibuprofen, das genügt vollauf.« Er sah Henry an, der darauf bestanden hatte, mitzukommen; er saß auf einem Stuhl neben dem Untersuchungstisch. »Ist das Ihr Mann?«
»Nein«, antworteten beide rasch.
Der Doktor wandte sich der Tür zu. »Die Leute heiraten heutzutage einfach nicht mehr«, sagte er beim Hinausgehen.
Die Schwester lächelte. Sie war groß, mit nach hinten gekämmtem, dunklem Haar, das von einer Klammer zusammengehalten wurde, und Zügen, die sich zur Gesichtsmitte hin knautschten. »Er ist noch alte Schule«, sagte sie. »Er setzt nicht einmal Narkose ein.«
Susan berührte ihre Nase. Sie pochte, sobald sie nur leicht mit dem Finger darüberstrich. Ihre Mutter war von zwei Streifenbeamten ins Arlington zurückgebracht worden. Notaufnahmen verkraftete sie ohnehin nicht. Susan war sich nicht sicher, ob die Beamten den Auftrag hatten, Bliss zu schützen oder sie in Gewahrsam nehmen sollten.
Die Schwester begann, ihre Nase mit Gaze und Pflaster zu verbinden.
Henry stand auf. »Ich geh mal nach Bennett sehen«, sagte er. »Sie rühren sich hier nicht weg.«
»Arbeitet Dr. Fergus heute?«, fragte Susan die Schwester, sobald Henry fort war.
»Ja«, antwortete die Schwester. »Kennen Sie ihn?«
Susan lächelte. Das ganze Gesicht tat ihr weh dabei. »Ich bin ein Freund der Familie«, sagte sie. »Könnten Sie ihn bitten, mal bei mir vorbeizuschauen?«
Susan saß im Schneidersitz auf dem Untersuchungstisch, hatte die Sauerstoffmaske auf und las in People, als Fergus hereinkam. Er sah genauso aus wie bei ihrer letzten Begegnung, als sie ihn für ihr Porträt von Archie Sheridan interviewt hatte. Der gleiche weiße Bürstenhaarschnitt. Dieselbe massige Gestalt. Dieselbe überhebliche Haltung. Er hatte sich nur widerwillig zu einer Mitarbeit bereit erklärt, und auch das erst, nachdem ihn Archie schriftlich von seiner Schweigepflicht entbunden hatte.
Er sah sie einen Moment lang stirnrunzelnd an, da er sie mit dem türkisfarbenen Haar und der bandagierten Nase nicht erkannte. Dann erbleichte er und zog die Oberlippe hoch. »Ach, Sie sind das«, sagte er.
Susan ließ ihn nicht entwischen. Sie wusste, dass Archie eine Menge Tabletten nahm. Und sie war auf den Gedanken gekommen, er könnte Nachschub brauchen. Wenn ja, war das vielleicht eine Möglichkeit, ihn zu finden. Sie ließ die Sauerstoffmaske in ihren Schoß fallen. »Archies Medikamente«, sagte sie. »Hat er genug davon oder wird er mehr brauchen?«
Fergus seufzte und steckte die Hände in die Taschen seines weißen Arztkittels. »Ich darf über meinen Patienten nicht mit Ihnen sprechen.«
»Er ist in Schwierigkeiten«, sagte Susan.
»Detective Sobol hat sich schon bei mir gemeldet«, sagte Fergus. »Falls jemand versucht, Arzneien von Archie aufzustocken, wird Sobol unterrichtet.«
»Oh«, sagte Susan. Sie hätte wissen müssen, dass Henry bereits daran gedacht hatte.
Fergus wandte sich zum Gehen.
»Er ist krank, nicht wahr?«, rief ihm Susan nach.
Fergus blieb stehen. Seine Schultern hoben und senkten sich. Sie dachte, er sei im Begriff, ihr etwas zu verraten. Es war die Art, wie er die Schultern zurücknahm, als wollte er sich etwas von der Seele reden. Sie beugte sich gespannt vor.
»Sie sollten immer Eis da drauf lassen«, sagte er.
Henry traf Claire im Warteraum der Notaufnahme an. Sie hatte irgendwann im Lauf des Tages die Zeit gefunden, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen, und trug nun ein T-Shirt mit dem Bild eines Grizzlybären darauf, Jeans und rote Cowboystiefel. Henry fühlte sich müde und schmutzig, und seine Kopfhaut juckte. Eine einfache Erklärung, das war alles, was er wollte. Zufällig ausströmendes Kohlenmonoxid. Ein Missverständnis. Sie würden Bennett mit ein paar Stichen nähen, und er würde lachend darüber hinweggehen. Hauptsache, Henry konnte sich ein paar Stunden hinlegen.
Claire telefonierte gerade auf ihrem Handy neben einem großen Schild mit der Aufschrift ›Handys verboten‹. Als sie ihn sah, beendete sie das Gespräch.
»Wie sieht es aus?«, fragte er.
»Er wird gerade operiert«, antwortete Claire. »Sie hat ihm ein Schädelfragment ins Gehirn getrieben.« Sie grinste. »Dieser Buddha hatte einen Mordsschlag drauf.«
So viel zu Henrys Nickerchen. »Wird er überleben?«, fragte er.
»Vielleicht«, sagte Claire. Sie stützte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. »Er war es.«
Henry sah sie fragend an.
»Heil hat gerade angerufen«, sagte sie. »Bennetts Fingerabdrücke sind auf dem Heizkessel. Er hat dieses Dingsbums gelockert.«
»Dingsbums?«, fragte Henry.
»Kann sein, dass er ein eleganteres Wort benutzt hat«, sagte Claire.
Nein. Es konnte keine einfache Erklärung geben. Nicht, wenn Susan Ward im Spiel war. Henry bemühte sich, aus dieser Information schlau zu werden. Warum sollte Bennett Susan töten wollen? Er rieb sich die Stirn. Der Schlafmangel hatte sich wie ein Nebel auf sein Gehirn gelegt. »Er war der erste Beamte, der am Fundort von Molly Palmer eintraf«, spekulierte er. »Vielleicht ist er gar nicht gestürzt.«
»Du meinst, er hat versucht, Beweise zu vernichten?«, fragte Claire.
»Mal angenommen, er hat Molly Palmer getötet und wollte es vertuschen. Damit könnte er einen Grund gehabt haben, sich an Susan heranzumachen.«
»Wieso das?«
»Sie arbeitet an einer Geschichte, die Molly Palmer mit Lodge in Verbindung bringt.«
Claires Augen weiteten sich. »Molly war das Mädchen, von dem du mir erzählt hast? Das er gefickt hat?«
»Ich glaube, ich habe ein eleganteres Wort benutzt«, sagte Henry.
Er musste Susan beschützen. Archie würde es so wollen. Ja, Henry würde auf sie aufpassen.
Vorausgesetzt, er konnte sich zurückhalten und brachte sie nicht eigenhändig um.
»Sag mir Bescheid, wenn er aufwacht«, sagte er. »Haben wir sein Haus schon durchsucht?«
»Ich habe gerade einen Antrag eingereicht«, sagte Claire. Ihr Handy läutete, und sie schaute aufs Display. »Es ist Flanagan«, sagte sie und setzte das Handy ans Ohr. Flanagan war wieder im Büro der Soko und leitete die Suche nach Archie. »Ich nehme das Gespräch lieber an.« Sie berührte Henry kurz an der Schulter. »Es könnte eine gute Nachricht sein.«