_7_
Archie stand im Eingang seines Hauses. Er hatte den restlichen Sonntagvormittag im Büro Berichte geschrieben. Lodge war nicht sein Fall, aber er war am Schauplatz gewesen, und das bedeutete Papierkram. Henry hatte schließlich darauf bestanden, ihn heimzufahren.
Er hörte Buddy Holly aus dem Innern des Hauses dröhnen. Es roch nach frisch gebackenem Kuchen, und aus der Küche kam das helle Glucksen seines Sohns. In einem früheren Leben hätte ihn dieser Klang zum Lächeln gebracht; jetzt brachte er ihn nur dazu, mit der Hand um die Pillendose in seiner Tasche an der Tür zu verharren.
Vor zweieinhalb Jahren war er vor Gretchens Haus gestanden. Er dachte oft an diese Nacht, führte sich den Ablauf der Ereignisse noch einmal vor Augen, redete sich zu, kehrtzumachen, wegzugehen, in seinen Wagen zu steigen und schnurstracks zu seiner Familie nach Hause zu fahren. Wenn er in jener Nacht nicht ins Haus gegangen wäre, wäre alles anders.
Aber er war hineingegangen. Und Gretchen hatte gewartet.
Er blieb noch eine Zeit lang unmittelbar hinter der Haustür stehen und rief dann endlich: »Ich bin da.«
»Wir sind in der Küche«, rief Debbie zurück.
Archie trug seine Aktentasche ins Arbeitszimmer, um noch ein paar Sekunden zu gewinnen. Er ließ die Tasche nicht gern draußen, wo die Kinder sie womöglich aufmachen würden. Niemand sollte Bilder sehen müssen, wie die, die er anschauen musste. Sein Arbeitszimmer befand sich am Ende des Flurs. Ein quadratischer Raum mit Teppichboden, einem Schreibtisch, einem falschen Eames-Stuhl und einem Sofa, das sich zu einem Bett für Gäste ausklappen ließ, die anscheinend nie kamen. Oberflächlich betrachtet, sah das Büro ganz harmlos aus. Regale mit Büchern über forensische Pathologie und kriminalistischen Nachschlagewerken, ein paar Belobigungen gerahmt an der Wand, ein Computer, drei Aktenschränke, die vor Berichten und Aufzeichnungen überquollen. Es gab einen großen Schrank mit einer Faltschiebetür aus Birke. Im Schrank befand sich an der Rückwand eine Collage von Fotos aller Opfer von Gretchen, deren Fälle Archie abgeschlossen hatte. Manchmal öffnete er die Tür, schaltete das Schranklicht ein und betrachtete sie einfach. Zweiundvierzig Gesichter. Männer. Frauen. Kinder. Er kannte jedes Detail von jedem Foto. Sie waren in sein Bewusstsein eingebrannt.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch, löste das Holster von seinem Gürtel, zog die Waffe heraus und leerte die Kugeln in seine Hand. Sie waren nie so schwer, wie er es erwartete. Er schloss die Schreibtischschublade mit einem Schlüssel von seinem Ring auf und legte die Kugeln in ein Fach. Dann sperrte er eine andere Schublade auf, legte die Pistole und das Holster hinein und schloss sie ab. Das war ihre Vereinbarung gewesen, als Ben zur Welt kam. Keine geladenen Waffen im Haus. Selbst Henry musste seine Waffe wegsperren, wenn er zum Abendessen kam.
Aus dem Augenwinkel sah er ein kleines Gesicht in der Tür. Als er sich umdrehte, war es verschwunden.
»Sara?«, fragte er.
Sie steckte den Kopf wieder zur Tür herein. »Sie backen mir einen Kuchen für meinen Geburtstag. Ich darf nicht gucken.« Sie lächelte und klatschte in die Hände. »Für morgen«, sagte sie. Sie drehte sich eine Weile tanzend auf der Stelle, dann rannte sie zu Archie, dass die schwarzen Zöpfe flogen. Sara rannte immer. Sie legte ihre rundliche Hand auf Archies. »War es heute lustig bei dir?«, fragte sie.
Archie zögerte und gab sich Mühe, damit sein Gesicht nicht seinen Gemütszustand verriet. »Ich war in der Arbeit. Arbeit ist nicht immer lustig.«
Sara sah zu ihm hinauf, ihre Augen strahlten, ihre Wangen glühten. »Wenn ich sieben bin, darf ich sie dann treffen?«
»Wen?«, fragte Archie.
»Gretchen Lowell.«
Es verschlug ihm den Atem. Wie ein Faustschlag vor die Brust. Seine Hand ging reflexartig zu der Narbe, wie man vielleicht eine alte Verletzung automatisch vor einem Hieb schützt. Er konnte kaum sprechen. »Wo hast du diesen Namen gehört, Schätzchen?«, fragte er schließlich.
Sara spürte sein Unbehagen und machte einen winzigen Schritt rückwärts. »Jacob Firebaugh hat Ben ein Buch über dich gegeben.«
Archies Herz hämmerte in der Brust. »Was für ein Buch?« Er wusste, welches Buch. Das letzte Opfer. Es war ein billiges Machwerk über Gretchens Eskapaden und Archies Leiden in ihren Händen. Er wusste, dass sie es früher oder später zu Gesicht bekommen würden. Aber er hatte gedacht, er hätte noch Zeit.
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
»War auf dem Einband ein Foto von einer Frau?«, fragte er.
Sie lächelte zu ihm empor, zwei Reihen winziger Zähne. »Ich möchte sie kennenlernen. Ich mag sie.«
Archie dachte, dass es das Traurigste war, was er in seinem ganzen Leben gehört hatte. »Sag das nicht«, flüsterte er kaum vernehmbar.
»Du magst sie auch, Daddy, oder?«, sagte Sara. »Du bist immer zu ihr gefahren und hast sie besucht. Ben hat Mom und Henry darüber reden hören.«
Archie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und bemühte sich, weiterzuatmen. »Weißt du, wo Ben das Buch aufbewahrt?«
Sie schaute in Richtung Flur und flüsterte dann: »Er versteckt es.«
Er blieb einen Moment regungslos sitzen und sammelte sich. Dann legte er ihr die Hand hinter den Kopf und küsste sie auf die Stirn. »Okay«, sagte er. Er streckte ihr die Hand hin, und sie wickelte ihre Finger um seinen Zeigefinger. »Gehen wir.«
Er führte sie in den Flur hinaus, in Richtung Küche.
Sie blieb mit sorgenvoller Miene stehen. »Ich darf da nicht rein, Daddy. Meine Überraschung.«
Archie blickte zur Küche. Die Musik. Der Kuchen. »Natürlich«, sagte er. »Geh in dein Zimmer, okay?«
Sie nickte, machte kehrt und rannte zu ihrem Zimmer; hinter der Tür blieb sie stehen und spähte zu ihm zurück.
Archie ging in die Küche. Sie machten gerade die Glasur auf den Kuchen. Ben kniete auf einem Hocker an der Kücheninsel. Debbie stand. Sie trug eine weiße Schürze über dem schwarzen T-Shirt und der Jeans, hatte es aber fertiggebracht, überallhin Glasur zu bekommen, selbst ins Haar. Sie blickte auf, als Archie hereinkam, und lächelte. »Du kommst gerade rechtzeitig für die Marzipanblumen«, sagte sie.
Archie ging zu der weißen Stereoanlage unter dem Hängeschränkchen neben dem Kühlschrank und schaltete sie aus.
»Er hat das Buch«, sagte er ausdruckslos.
Der Kuchen stand auf einem Drehteller, den Debbie rotieren ließ, während sie das Glasurmesser ruhig darüber hielt. »Welches Buch?«
Archie machte einen Schritt vorwärts, die Hände in den Taschen. »Das Buch. Jacob Firebaugh hat ihm ein Exemplar gegeben.« Archie wusste nicht einmal, wer Jacob Firebaugh war.
Ben fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand der gläsernen Glasurschüssel. »Er sagt, du bist berühmt.«
»Ich will nicht, dass du diesen Scheißdreck liest«, fuhr ihn Archie an.
Debbie nahm das Messer vom Kuchen. »Archie«, warnte sie mit leiser Stimme.
Archie zog die Hände aus den Taschen und fuhr sich durchs Haar. »Es ist voller Gewalt. Tatortfotos.« Der Gedanke, dass sein achtjähriger Sohn las, was sie ihm angetan hatte, verursachte ihm Magenschmerzen. »Drastische Beschreibungen von Folter.«
»Ein kleiner Einblick in deine Welt«, sagte Debbie.
Er ging zu ihr. Sie roch nach Buttercreme. »Es ist total ungeeignet für Kinder«, sagte er. Er fühlte sich zittrig; sein Körper ächzte nach den Pillen. »Er hat es Sara gezeigt.«
Ben verdrehte die Augen. »Sie ist so eine Petze.«
»Geh und hol es«, befahl Archie und zeigte in Richtung von Bens Zimmer. »Auf der Stelle.«
Ben sah Debbie an. So war es, seit Archie wieder nach Hause gekommen war. Sein Sohn blickte jedes Mal seine Mutter an, bevor er etwas tat. Sie nickte, und Ben sprang von dem Hocker und verschwand im Flur, wobei er immer noch an seinen Fingern schleckte.
Debbie legte das Messer wieder an den Kuchen an und drehte den Teller. »Wenn du nicht darüber sprichst«, sagte sie vorsichtig, »werden sie versuchen, woanders Antworten zu bekommen.«
»Aber nicht aus diesem Buch«, sagte Archie.
Debbies Mund wurde zu einem schmalen Strich. »Sie wissen, dass du vermisst wurdest. Dass du verletzt wurdest. Sie waren noch sehr klein damals.« Er hörte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte, wie sie gegen die Tränen ankämpfte. »Aber sie werden irgendwann die ganze Geschichte hören müssen.«
Nicht die ganze Geschichte. »Wieso?«, fragte er.
»Was ist mit deinen Narben?« Sie legte das Glasurmesser über die Schüssel und drehte sich zu ihm um. »Wie wollen wir ihnen das erklären? All diese Fahrten ins Gefängnis. Sie erinnern sich daran. Sie wissen, dass du sie besucht hast.«
»Es war mein Job«, betonte Archie.
Debbie streckte die klebrige Hand aus und berührte seine Wange. »Erzähl mir keinen Blödsinn, Archie. Ich kenne dich seit einer Ewigkeit.« Sie sah ihm in die Augen. »Du bist da hingefahren, weil du es gebraucht hast, weil es dir gefallen hat.«
Archie trat einen Schritt zurück und drehte sich um. »Ich bin erschöpft. Ich will das jetzt nicht«, sagte er und öffnete ein Schränkchen, um sich ein Glas zu holen.
»Ich will nur, dass du ehrlich zu uns bist. Zu mir.«
Er drehte den Wasserhahn auf und füllte das Glas. »Bitte nicht«, sagte er.
»Ich will, dass du ehrlich zu dir selbst bist.«
Archie setzte langsam das Glas an die Lippen und trank einen Schluck, dann kippte er den Rest in den Ausguss. Er stellte das Glas in die Spüle. Selbsterkenntnis war nicht sein Problem. Er wusste genau, wie kaputt er war. Er hätte alles für ein bisschen Verdrängung gegeben. »Ich bin ehrlich zu mir«, sagte er. Gott, er hatte das so satt. Er nahm ihr übel, dass sie es ihm so schwer machte, dass er sich so schuldig fühlte wegen ihr.
Sie wollte die Wahrheit hören? Schön. Scheiß drauf. »Ich bin hingefahren«, sagte er langsam und sprach jedes Wort so deutlich aus, als wäre es eine Grammatiklektion, »weil es mir gefiel.« In der Spüle stand eine Kuchenform zum Einweichen neben einem Glas, vom Boden gelöste Kruste schwamm im seifigen Wasser. »Es war die einzige Zeit in der ganzen Woche, in der ich tatsächlich das Gefühl hatte, noch zu leben.« Er sah Debbie an. »Ich würde immer noch hinfahren, wenn ich glaubte, es ungestraft tun zu dürfen.«
Sie stand da, die Arme an den Körper gepresst, die Sommersprossen wie dunkle Sterne. »Du kannst sie nicht sehen, wenn du bei uns bleiben willst.«
Archie lächelte. »Da ist es«, sagte er.
»Was?«, fragte Debbie.
»Das Ultimatum«, sagte Archie. »Du weißt, wie ich die liebe.«
»Hier«, sagte eine Kinderstimme. Sowohl Debbie als auch Archie wandten den Kopf und sahen Ben im Eingang zur Küche stehen, das dicke Taschenbuch in den Händen. Gretchens hübsches Gesicht lächelte verführerisch vom Cover.
Archie ging zu ihm und nahm seinem Sohn das Buch aus den Händen. Er beugte sich hinunter und küsste ihn auf die Wange. »Danke«, sagte er ihm ins Ohr. »Es tut mir leid, dass ich dich angefahren habe.« Dann strich er Ben übers Haar und schritt an ihm vorbei in den Flur.
»Wohin gehst du?«, fragte Debbie.
Archie wirbelte herum. »Es ist Sonntagnachmittag«, sagte er. »Ich dachte, ich fahre in den Park.«
Debbies Augen waren voll Tränen. »Du solltest nicht fahren.«
Archie ging weiter. »Ich sollte viele Dinge nicht tun.«