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Die alte Frau hieß Trudy Schuyler. Susan hatte ein paar Seiten ihres Notizbuchs mit Informationen über sie gefüllt. Ihr Mann war vor fünf Jahren gestorben. Sie hatte keine Holzhäckselmaschine. Sie kannte kein Kind, das auf die Beschreibung des Jungen passte, den Archie im Wald gesehen hatte. Sie war Politesse gewesen, aber vor zwanzig Jahren in Ruhestand gegangen. Sie hatte drei erwachsene Kinder. Die Polizei hatte den Hund in Gewahrsam genommen, damit sie seine Hinterlassenschaften überprüfen konnte, denn vielleicht war es dem pelzigen Ziergarten ja gelungen, den einen oder anderen Hinweis zu verdauen, während er am Speichenknochen der toten Frau nagte. Mit diesem Hintergedanken hatten sie auch begonnen, Hundekot aus dem Garten in Tüten zu packen. Etwa zu dieser Zeit war Susan dann gegangen.

Im Gebäude des Herald war um ein Uhr nachts nicht viel los. Die Bereitschaftskräfte, die geholfen hatten, die Ausgabe über Lodge und Parker zusammenzustellen, schliefen inzwischen friedlich. Selbst die Reinigungskräfte waren mit ihrer Arbeit fertig. Ein Wachmann hatte Susan über die Laderampe eingelassen. Sie war im Aufzug in den fünften Stock gefahren, wo Ian bereits mit einem Redakteur, einem Schlagzeilenredakteur, einem Grafiker und einem Fotoreporter in seinem Büro zusammensaß. Alle sahen müde und ein wenig gereizt aus. Susan bemühte sich, nicht müde und gereizt auszusehen. Sie versuchte, fröhlich zu wirken. Sie hatte Ian schon genug verärgert. Und sie bekam die Molly-Palmer-Geschichte gewiss nicht ins Blatt, indem sie Ian reizte. Nett zu ihm zu sein, half vielleicht. Es war so verrückt, dass es funktionieren konnte.

Sobald Susan mit der Geschichte fertig war, würde man die Pressen anhalten, eine neue Druckplatte einschieben und den Druckvorgang anschließend fortsetzen. Sie hätte dann immerhin doch noch einen Artikel in der Ausgabe über den toten Senator. Nur nicht den, den sie gern gehabt hätte.

Susan marschierte auf Ians Büro zu, aber Ian sah sie durch die Glaswand und hob eine Hand, um sie aufzuhalten. Er zeigte auf seine Armbanduhr und dann auf Susans Schreibtisch.

Sie ging gehorsam zu ihrem Schreibtisch und warf ihre Handtasche auf den Boden, legte ihr Notizbuch neben die Tastatur und rief Molly Palmer an. Nichts. Wenn Ian die Geschichte bringen sollte, musste sie hieb- und stichfest sein, dreimal überprüft, bis aufs i-Tüpfelchen stimmen. Sie hinterließ eine Nachricht. »Im Ernst, Molly. Sie müssen mich zurückrufen.« Sie wickelte die Telefonschnur um den Zeigefinger, so fest, dass der Finger rot anzulaufen begann. »Es wird alles gut. Er ist tot. Lassen Sie uns mit der Sache an die Öffentlichkeit gehen.« Sie dachte daran, wie die Presse Molly anschließend sicherlich zusetzen würde. Geschichten sind Ihnen wichtiger als Menschen, hatte Henry gesagt.

Susan biss sich auf die Unterlippe.

»Wenn Sie eine Weile untertauchen wollen, in Ordnung«, sagte sie ins Telefon. »Aber erst müssen Sie mit ein paar Leuten reden, okay?« Susan befreite ihren Zeigefinger wieder und legte auf. Es war ruhig auf dem Stockwerk, nur ein Teil der Lichter brannte, und man musste sich anstrengen, um bis zur anderen Seite des Raums zu sehen. Von der Versammlung in Ians Büro abgesehen, war nur noch ein Typ von der Sportredaktion anwesend, er hatte Kopfhörer auf und hackte etwas in die Tastatur, was nicht einmal ihn selbst zu interessieren schien.

Sie begann wie wild zu tippen. Die unbekannte Tote. Die zwei neuen Leichen. Die Möglichkeit eines Serienmörders im Forest Park. Es war die Sorte Geschichte, die Parker geliebt hätte. Der Gedanke an ihn ließ sie mit den Händen über den Tasten innehalten. Sie blickte von ihrem Monitor auf und sah zu den Lichtern der West Hills hinüber.

Ihr Blick wanderte zu Parkers Schreibtisch hinüber. Es gab zwei neue Blumensträuße. Langsam sah er aus wie ein Grab. Susan stand auf, ging in den Pausenraum und holte eine Glasvase, eine Kaffeekanne und drei hohe Gläser aus den Küchenschränkchen. Sie füllte sie mit Wasser und brachte sie nach und nach zu Parkers Schreibtisch. Sie arrangierte die welkenden Blumen so gut es ging in den Gefäßen, aber die Stängel waren bereits weich, und die Blumen hingen armselig über die Ränder ihrer Behelfsvasen.

Die Blumen ließen sie an Archie Sheridan denken, dessen Vorgarten in den zehn Tagen seines Verschwindens unter Blumen begraben gewesen war. Debbie Sheridan hatte ihr einmal erzählt, dass sie seitdem den Geruch von Blumen nicht mehr ertrug. Sie ließen sie an Tod denken.

Susan setzte sich in Parkers Schreibtischstuhl, rollte in kleinen Kreisen umher und versuchte, sich vorzustellen, wie er den Artikel über die Morde im Forest Park geschrieben hätte, als sie mit dem Knie gegen Parkers Aktenschublade stieß. Jeder Schreibtisch besaß eine. Sie waren immer abgesperrt. Susan bewahrte ihren Schlüssel unter einem Becher voller Kugelschreiber auf. Das hatte sie von Parker gelernt.

Sie hob die Tasse mit den Bleistiften an, die auf Parkers Schreibtisch stand, und ein kleiner silberner Schlüssel kam zum Vorschein. Dann steckte sie den Schlüssel in die Schublade mit der Hängeregistratur. Sie ging auf. Im vorderen Teil der Registratur hingen prallvolle Ordner mit Namen, die Susan Geschichten zuordnen konnte, über die Parker berichtet hatte. Sie wanderte mit den Fingern über die Akten, bis sie zu einem großen schwarzen Ordner kam, der ganz hinten in die Schublade gestopft worden war. Er trug ein Etikett auf dem Rücken, darauf standen in Parkers schiefer Handschrift die Worte Beauty Killer.

Bingo.

Sie zog den Ordner heraus, verschloss die Schublade und legte den Schlüssel wieder unter die Tasse. Als sie zu ihrem Schreibtisch zurückkam, steckte Ian gerade den Kopf aus seinem Büro und rief: »Ich würde heute Nacht gern noch ein wenig schlafen.«

»Bin so gut wie fertig«, sagte Susan. Sie schob den Ordner neben ihre Handtasche unter den Schreibtisch und stellte einen Fuß darauf. Ihr Gesicht war gerötet vor Aufregung, aber es war dunkel, und sie glaubte nicht, dass Ian es sehen konnte.