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Susan nahm die Post mit ins Haus: ein Exemplar der Nation, ein Flugblatt vom Genossenschaftsladen, zwei Rechnungen und ein Paket Rücksendeetiketten der Amerikanischen Bürgerrechtsunion ACLU. Sie warf sie zusammen mit den Schlüsseln auf den Tisch in der Eingangsdiele. Im Haus ihrer Mutter war es stickig. Alle Fenster waren geschlossen. Sie blieben tagsüber immer geschlossen. Nur so konnte man der Hitze Herr werden. Man ließ Fenster und Vorhänge geschlossen, bis die Sonne unterging, dann riss man alles auf und betete um eine leichte Brise. Susan verstand nicht, wie die Leute in der viktorianischen Zeit überlebt hatten.

Ihre Augen brannten vor Erschöpfung. Ein paar Stunden Schlaf, dann würde sie wieder an die Arbeit gehen können. Sie stieg die Treppe hinauf zum Zimmer ihrer Mutter. Sie hatte keine Lust, in der Hängematte zu schlafen, wenn es nicht sein musste. Das Zimmer ihrer Mutter war rot gestrichen, und Bliss besaß wahrscheinlich das letzte Wasserbett im Großraum Portland. Susan schaltete den Schwenkventilator auf der Kommode an, um die Luft in Bewegung zu bringen.

Es war Jahre her, seit sie eine Nacht durchgemacht hatte, und Susan hatte vergessen, wie es sich anfühlte. Ihr war regelrecht schlecht. Sie streckte sich auf Bliss' Bett aus, aber bei der Bewegung des Wassers unter dem Plastik wurde ihr noch flauer. Sie blieb eine Weile liegen, doch jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, rollte eine Brandungswelle von einer Seite des Betts auf die andere. Inzwischen hatte sie Kopfschmerzen. Es fühlte sich an, als stülpte ihr jemand eine Stahlkappe über den Schädel.

Es gab nur eine Lösung: ein Bad. Sie sah auf die Uhr. Es war beinahe elf.

Sie stand auf, ging ins Badezimmer, das sich im Obergeschoss befand, und drehte den Wasserhahn auf. Sie füllte die gusseiserne Wanne mit kaltem Wasser und gab einen tüchtigen Klecks Eukalyptus-Schaumbad dazu. Dutzende von Kerzen waren am Wannenrand aufgereiht, eine Auswahl verschiedener Düfte und Farben, die Bliss sorgfältig zu einem perfekten Badeerlebnis arrangiert hatte.

Susan knipste ein Feuerzeug an und hielt es an einen Kerzendocht. Der Docht fing kurz Feuer und ging dann aus. Sie versuchte es erneut. Das Feuer ging aus. Sie probierte eine andere Kerze. Auch sie ging aus. Susan stöhnte auf. Das sah ihrer Mutter ähnlich, die billigsten Kerzen in einem Importladen zu kaufen. Sie betrachtete das Feuerzeug in ihrer Hand eine Weile, dann zuckte sie die Achseln und legte es neben eine der Kerzen.

Es tat gut, aus den Kleidern zu kommen, die sie seit vierundzwanzig Stunden angehabt hatte. Sie stopfte sie in den guatemaltekischen Korb, den Bliss für die Schmutzwäsche benutzte. Ihr Kopf tat jetzt richtig weh. Selbst ihre Augen schmerzten. Das war nicht nur Schlafmangel, das war Stress. Parker. Archie Sheridan. Sie musste es ruhiger angehen lassen. Durfte sich nicht so unter Druck setzen. In dieser Verfassung nützte sie niemandem etwas.

Sie stieg in die Wanne und sank langsam in das kühle Wasser, ließ sich von dem angenehmen Mentholaroma des Eukalyptus umspülen. Sie bemerkte gerade, dass der Lack an ihren Zehennägeln abblätterte, als sie die Biene hörte. Sie summte über ihren Kopf hinweg und ließ sich auf dem Waschbecken nieder, was merkwürdig war, da das Haus seit zwei Tagen verschlossen gewesen war und keine Biene hereingekommen sein konnte. Susan dachte eben darüber nach, als die Biene noch etwas Merkwürdiges tat. Sie flog hoch in die Luft und schwirrte im Kreis, ehe sie mitten im Flug verharrte und zu Boden fiel.

Susan setzte sich in der Wanne auf und spähte nach unten. Bliss hatte die Holzdielen des Badezimmers hellblau gestrichen, und wie ein Schiff auf dem Meer lag dort auf dem blauen Boden die Biene, die Beine in die Luft gestreckt, tot.

Susan fühlte sich benommen. Sie wusste einen Moment lang nicht, was sie hier überhaupt tat, warum sie zu Hause war. Archie Sheridan wurde vermisst. Sie musste ins Büro der Soko zurück. Sie musste Henry suchen.

Wo war ihre Mutter?

Sie blickte auf die Biene. Sie hatte einmal einen Artikel über eine fünfköpfige Familie in Lake Oswego geschrieben, die knapp einer Vergiftung durch ausströmendes Kohlenmonoxid entgangen war. Das Gas war geruchs- und geschmacklos. Die Haustiere waren tot umgefallen. Ein Hamster und ein Vogel. Die Mutter war geistesgegenwärtig genug gewesen, alle aus dem Haus zu schaffen. Eine halbe Stunde noch, hatte die Polizei gesagt, und die ganze Familie wäre tot gewesen.

Susan zog sich aus der Wanne, Badeschaum lief von ihrem nackten Körper auf den Boden, und sie rutschte sofort aus und schlug mit dem Gesicht voran an den Rand des Waschbeckens. Schreck und Schmerz ließen sie klarer im Kopf werden, sie griff sich ein Handtuch und wickelte es sich um den Körper, dann lief sie nach unten.

Raus aus dem Haus. Sie musste es sich immer wieder vorsagen. Denn wenn sie damit aufhörte, begann sie, an Schlaf zu denken. Wie angenehm es wäre, nur für einen Moment die Augen zu schließen und das Haus erst zu verlassen, wenn sie aufwachte. Aber sie würde nicht wieder aufwachen.

Raus aus dem Haus.

Plötzlich war das Handtuch weg. Sie wusste nicht, wann sie es verloren hatte. Sie musste es fallen gelassen haben. Nackt taumelte sie die Treppe hinunter, Tränen strömten über ihr Gesicht. Nein, es waren keine Tränen. Es war Blut. Von dem Sturz gegen das Waschbecken. Sie blutete. Das Blut lief ihr in den Mund, es schmeckte süß und nach Kupfer.

Sie kam zur Eingangstür und sah jemanden auf der anderen Seite der Scheibe stehen. Sie brauchte einen Moment, bis sie ihn ohne seine Uniform erkannte. Es war Officer Bennett, vom Arlington, ihr Beschützer, ihre Leibwache.

Er war gekommen, um sie zu retten.

Sie war nun an der Tür und wollte den Knopf drehen, um sie zu öffnen, aber er ließ sich nicht drehen. Sie war eingesperrt. Sie war im Haus eingeschlossen. Sie machte Bennett ein Handzeichen, deutete zur Tür, um anzuzeigen, dass sie sie nicht öffnen konnte, dass er sie herausholen sollte.

Doch er stand nur da.

Sie drehte wieder am Türknauf, aber er rührte sich nicht. Etwas stimmte nicht. Der Verschluss war in der richtigen Stellung. Die Tür musste eigentlich aufgehen. Sie klopfte ans Glas, ihre Hände hinterließen nasse Abdrücke. »Die Biene ist tot«, rief sie.

Bennett stand nur auf der anderen Seite der Tür und sah sie an, dann hielt er ihre Hausschlüssel in die Höhe. Es war ein strahlend schöner Tag, hinter Bennett sah Susan den blauen Himmel, den kein Wölkchen trübte, und den Bambus, den ihre Mutter in einem Topf auf der Veranda gepflanzt hatte, und Susans liebsten Rhododendron, den scharlachrote Blüten schmückten.

Sie fühlte sich benommen. Es erinnerte sie daran, wie sie auf dem College einmal zu viele Haschkekse erwischt hatte und auf dem Sitzsack eines Freundes ohnmächtig geworden war. Sie hatte mit dem Gesicht auf der Hand geschlafen, und als sie wieder aufwachte, hatte sie einen Abdruck ihrer Armbanduhr auf der Wange gehabt. Langsam sank sie zu Boden.

Sie sollte doch etwas tun … Das Haus verlassen.

Sie könnte jemanden anrufen. Aber das Telefon war so weit weg.

Dann hörte sie ein Geräusch, und als sie aufblickte, sah sie Bennetts Gesicht flach an die Scheibe gedrückt, die Augen geschlossen. Er blieb einen Moment so, wie ein Kind, das hinter einem Fenster Grimassen schneidet. Dann rutschte er an der Scheibe nach unten, bis ihn Susan nicht mehr sah, sondern auf der hölzernen Veranda aufschlagen hörte.

Die Tür ging auf. Jemand hob Susan hoch und begann, sie aus dem Haus zu schleifen. Sie spürte, wie ihre Fersen an die Türschwelle schlugen und dann auf die Stufen der Treppe. Schließlich lag sie im Gras. Das Gras fühlte sich kühl und weich an, und sie war froh, dass sie endlich schlafen konnte. Sie blickte auf und sah ihre Mutter.

»Hallo, Mom«, sagte Susan schläfrig.

»Ich habe ihm den Buddha über den Schädel geschlagen«, sagte Bliss.

Susan zwang sich, wach zu bleiben. Atme, sagte sie sich. Ihre Brust hob und senkte sich, füllte sich mit Sauerstoff, ihr Kopf wurde mit jedem Atemzug ein bisschen klarer. »Du lieber Himmel, Mom«, brachte sie heraus. »Du hast einen Polizisten getötet.« Sie schloss die Augen. »Ruf Henry an. Geh nicht ins Haus. Da strömt Kohlenmonoxid aus. Bennett. Er hat mich eingeschlossen.«

»Ich habe kein Handy«, sagte Bliss.

Susans Mutter war nicht gut darin, Probleme zu lösen. Unüberwindliche Hindernisse wie dieses hier konnten sie stundenlang lähmen. So viel Zeit hatten sie nicht. Susan richtete sich auf und packte Bliss am Revers ihres karierten Hosenanzugs. »Dann benutz verdammt noch mal das der Nachbarn.«

Und damit sank sie ins Gras zurück und verlor das Bewusstsein.