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Die Piratenhüte aus Pappkarton waren flach verpackt, und Archie musste sie erst in die richtige Form falten, ehe er sie den zehn Erstklässlerinnen aufsetzte und mit einem Gummiband unter dem Kinn sicherte. Es gab Mardi-Gras-Perlen, Piratenflaggen und Schokolade, die so verpackt war, dass sie wie Goldmünzen aussah. Auf die schwarzen Augenklappen verzichteten die Mädchen größtenteils. Archie hatte keine Ahnung, wie Sara auf die Idee gekommen war, einen Piratengeburtstag zu feiern.
Die Mädchen führten einen sehr komplizierten Kampf mit imaginären Schwertern im Wohnzimmer auf, bei dem das Sofa offenbar ein Schiff darstellte. Debbie nötigte den Eltern in der Küche Wein auf. Ben hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen. Archie hatte Kinder-Wache, er lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und beobachtete, wie die Piratenmädchen zu einer Kissenschlacht übergingen.
Sara flüsterte einer anderen Piratin etwas ins Ohr, dann lief sie zu Archie und stieß mit voller Wucht gegen seinen Oberschenkel. »Daddy«, sagte sie atemlos, »du musst ein böser Pirat sein.«
Archie ging in die Knie, sodass er auf Augenhöhe mit ihr war. »Und ihr seid dann wohl alle gute Piraten?«
»Ja«, sagte sie.
»Und ich soll gegen euch kämpfen?«, fragte er.
Sie beugte sich mit besorgter Miene vor und flüsterte. »Weißt du, wie ein Pirat geht?«
Archie stand auf, nahm ein großes Gummimesser, das auf dem Tisch mit den Snacks lag, und steckte es sich zwischen die Zähne. »Arrrgh!«, rief er und stürmte auf das Sofa zu. Die Mädchen kreischten und stoben auseinander, ehe sie ihn kichernd wieder einkreisten.
In diesem Moment hörte er Debbies Stimme. »Henry ist hier.«
Er blickte auf und sah Henry mit Debbie im Eingang stehen. »Du kommst zu spät«, sagte Archie lächelnd. Dann bemerkte er, dass sein Freund das Schulterhalfter nicht abgenommen hatte. Henry kannte die Regel über Waffen im Haus. Es konnte also nur eines bedeuten. »Und du bleibst nicht.«
Sara sah Henry ebenfalls, sie hüpfte vom Sofa, lief zu ihm und schlang die Arme um seine Taille. »Henry!«, rief sie freudig. Henry drückte sie und zog dann ein kleines, schlecht verpacktes Geschenk aus der Tasche. »Ich wollte nur das hier vorbeibringen«, sagte er. »Alles Gute zum Geburtstag.«
Sie strahlte, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Dann sauste sie zu ihrem Sofaschiff zurück.
Henry sah Archie fragend an. »Können wir reden?«
Archie erkannte an Henrys Blick, dass er schlechte Nachrichten brachte. Für einen Moment bin ich glücklich gewesen, dachte er. Das war ein Fehler gewesen.
Er reichte Sara das Gummimesser und löste sich aus dem Knäuel der Mädchen. Sie blieben sofort zurück und begannen ein Spiel, bei dem sie auf einer Planke im Meer trieben.
Debbie stand mit verschränkten Armen neben Henry im Eingang. Als Archie zu ihnen ging, spürte er den dumpfen Schmerz unter dem Rippenbogen wieder.
»Was ist los?«, fragte er Henry.
Henry zögerte. »Es hat einen Zwischenfall im Gefängnis gegeben.«
Der Schmerz war verschwunden. Archie richtete sich ein wenig auf. »Geht es ihr gut?«
Henry beugte sich vor und senkte die Stimme, sodass Archie sich anstrengen musste, ihn über das Kichern der Mädchen hinweg zu hören. »Sie liegt auf dem Krankenrevier. Sie wurde angegriffen. Es sieht schlimm aus. Wir haben ein echtes Problem.«
In diesem Moment kam Archie plötzlich zu Bewusstsein, dass Debbie neben ihnen stand. Sie war einen langen Moment absolut still, dann berührte sie Henry am Arm. »Nicht«, sagte sie zu ihm. »Tu das nicht. Nicht heute.«
Henry seufzte und schüttelte den Kopf. »Es war ein Wärter«, erklärte er. »Wir müssen wissen, welcher. Sie spricht nur mit Archie.«
»Nein«, sagte Debbie. Sie wandte sich an Archie. »Es ist die Geburtstagsparty deiner Tochter. Henry kann sich um die Sache kümmern.«
Archie nahm ihre Hände in seine und sah ihr in die Augen. »Ich bin für sie verantwortlich«, versuchte er zu erklären.
Debbie schloss die Augen. Dann zog sie ihre Hände zurück und drehte sich zu den Mädchen um. Sie klatschte in die Hände.
»Wer möchte Kuchen?«, fragte sie.
Das Gefängnis des Staats Oregon bestand aus mehreren Gebäuden, die sich hinter einer verputzten und von Stacheldraht gekrönten Ziegelmauer verbargen. Das von acht Hektar grüner Wiesen umgebene Gefängnis lag eine Autostunde südlich von Portland, in Salem, direkt am Highway. Es beherbergte sowohl männliche als auch weibliche Insassen und war das einzige Hochsicherheitsgefängnis im Bundesstaat. Archie und Henry hatten seit Gretchens Gefangennahme so viel Zeit dort verbracht, dass sie jeden Gang und jeden Wärter kannten.
Die Krankenstation, ein langer, fensterloser Raum von etwa dreizehn auf zehn Metern, befand sich in der Mitte des Hauptgebäudes. Die Betonwände waren grau gestrichen, und der Boden bestand aus gesprenkeltem Linoleum. Der Raum enthielt nur das Nötigste. Keine Bilder an den Wänden, damit man sich wohler fühlte. Es gab vier Betten, jeweils mit eigenem Vorhang, um Ungestörtheit zu gewähren. Ein schwacher Geruch nach Blut, Schweiß und Fäkalien durchdrang alles.
Ein mit einem Kittel bekleideter Gefängnispfleger saß hinter dem fast mannshohen Schalter neben der Tür. Er sah auf, warf einen kurzen Blick auf ihre Besucherausweise und widmete sich wieder dem Krankenblatt, in dem er las. Archie ging zum hinteren Teil des Raums, wo er einen Wärter stehen sah. Gretchen hatte immer einen Wärter bei sich.
Er war nicht auf den Anblick vorbereitet, der sich ihm hinter dem Vorhang bot. Gretchen war an den Handgelenken und Knöcheln mit Lederriemen ans Bett gefesselt. Die Augen waren geschlossen. Sie trug ein Krankennachthemd, und Archie sah starke Prellungen an beiden Armen. Hämatome. Die Haut war geschwollen, dunkel von geplatzten Blutgefäßen. Sie hatten sie so in ihrer Zelle gefunden. Zusammengekrümmt auf dem Boden. Sie war positiv auf Samen untersucht wurden. Der Gedanke machte Archie krank.
»Lassen Sie uns einen Moment allein«, sagte Henry zu dem Wärter.
Der Mann schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich soll bei ihr bleiben.«
Henry wies mit dem Kopf auf Gretchens lang hingestreckte Gestalt. »Sie ist ans Bett gefesselt, Andy. Nur ein paar Augenblicke.«
Der Wärter sah auf Gretchens zerschlagenen Körper. »Ich warte an der Tür, falls Sie etwas brauchen«, sagte er.
Archie ging um das Bett herum zu einem Aluminiumstuhl und setzte sich. Gretchen regte sich nicht. Er streckte die Hand aus und schloss sie um ihre. Ihre Hand fühlte sich kalt und zerbrechlich an.
Ihre Lider öffneten sich flatternd, und sie lächelte, als sie ihn sah. »Das braucht es also, wenn man deine Aufmerksamkeit gewinnen will?«, sagte sie kraftlos. An ihrem Arm war ein Infusionsschlauch befestigt, und ihr Tonfall war schleppend und vorsichtig.
»Wer war das?«, fragte Archie leise.
Ihre blauen Augen wanderten zu Henry. Archie wusste, sie wollte, dass Henry den Raum verließ, aber er hatte nicht die Absicht, ihn darum zu bitten. Henry würde ohnehin nicht gehen.
»Sagen Sie mir, wer es getan hat«, sagte Archie erneut.
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Das wäre eine Verletzung der Gefängnisetikette.«
»Also wirklich, verdammt noch mal«, sagte Henry.
Archie warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Lassen Sie das meine Sorge sein«, sagte er zu Gretchen.
»Hast du Angst um mich?«, fragte sie und musterte ihn. »Das ist lieb von dir. Aber es ist nicht deine Aufgabe, mich zu beschützen.« Sie senkte die Stimme zu einem falschen konspirativen Tonfall. »Sondern die Leute vor mir zu schützen.«
»Verstehen Sie mein Interesse nicht falsch«, sagte Archie. »Sie befinden sich in Obhut des Bundesstaats. Ich bin Angestellter des Bundesstaats. Solange wir nicht alle Ihre Mordopfer gefunden haben, liegt Ihr Wohlergehen im Interesse des Staats.«
»Ach, immer so romantisch«, sagte sie und seufzte. Sie drehte den Kopf in Richtung Henry. Sie hatte eine Kunstform daraus gemacht, ihn zu ignorieren. Sie hatte noch nie auf irgendeine Äußerung von ihm geantwortet und bestritt ganze Unterhaltungen mit Archie, als ob Henry gar nicht im Raum wäre. »Sag mir eines, Liebling«, begann sie und sah Henry an, sprach aber zu Archie. »Kannst du fühlen, dass deine Milz nicht mehr da ist? Tut es weh?«
»Nicht mehr«, antwortete Archie.
»Ich denke oft daran«, sagte Gretchen versonnen. »Wie ich meine Hand in dir hatte. Du warst so warm und klebrig. Ich kann dich immer noch riechen, dein Blut. Weißt du noch?«
Archie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich habe das Bewusstsein verloren«, erinnerte er sie leise.
Sie lächelte. »Ich bedauere das. Ich hätte dich gern wach gehalten. Ich wollte, dass du dich erinnerst. Ich bin die Einzige, die jemals so weit in dir drin war.«
»Du und die Unfallchirurgen im St. Emanuel.«
»Ja.« Sie lachte, und es ließ sie vor Schmerz zusammenzucken.
»Man hat mir gesagt, dass er Ihnen vier Rippen gebrochen hat«, sagte Archie. Seine eigenen Rippen taten manchmal weh, wo Gretchen einen Nagel durch die Knochen getrieben hatte.
»Bei jedem Atemzug denke ich an dich.«
»Sagen Sie mir, wer es war.«
»Du bist wieder bei ihr eingezogen, nicht wahr?«
Die Frage überraschte Archie. Debbie sprach oft von Gretchen, als wäre sie seine Geliebte, aber für Archie fühlte es sich manchmal andersherum an. Als würde er Gretchen betrügen, indem er wieder zu seiner Exfrau gezogen war.
Wahrscheinlich sollte er das Thema in seiner Therapie zur Sprache bringen.
Gretchen wartete darauf, dass er antwortete. Ihre wundervollen Augen glänzten. Sie sah verletzt aus. Es war natürlich alles nur Theater. Alles, was Gretchen tat, war Theater.
»Ja«, sagte Archie.
Sie warf ihm einen bösartigen Blick zu und flüsterte: »Aber du hast sie noch nicht gefickt.«
Archie hielt die Luft an.
»Genug«, sagte Henry.
Archie bemerkte, wie die Tür zum Krankenzimmer aufging, er vernahm männliche Stimmen und schmatzende Schritte auf dem Linoleum.
»Archie«, sagte Henry warnend.
Archie sah dasselbe, was Henry sah – seine und Gretchens Hand ineinander verschlungen. Aber er war noch immer zu keiner Bewegung fähig. Er sah, wie Gretchen Henry liebevoll anlächelte. Es war ein Lächeln, das Archie kannte. Es bedeutete: »Leck mich am Arsch.« Und immer noch rührte sich Archie nicht.
Henrys Stimme war ein heiseres Flüstern. »Verdammt noch mal, Archie.«
Es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Archie riss seine Hand zurück, schob den Stuhl ein Stück nach hinten und legte die Hände in den Nacken. Im selben Moment traten der Gefängnisdirektor und zwei Wärter hinter den Vorhang.
»Meine Herren«, sagte der Direktor, »es gibt da etwas, das sollten Sie sich ansehen.«
Henry wartete, bis Archie und die anderen auf dem Weg nach draußen auf der anderen Seite des Vorhangs waren. Dann stieß er sich von der Wand ab und trat einen Schritt auf das Bett zu.
»Schon komisch«, sagte er zu Gretchen. »Da prügelt der Kerl Ihnen die Scheiße aus dem Leib – nur Ihr Gesicht, das hat er aus irgendeinem Grund nicht angerührt.«
Sie starrte ihn ausdruckslos an, so wie sie immer durch die Leute hindurchsah. Sie tat es nicht nur bei Henry. Sie hatte für niemanden Zeit außer für Archie.
»Sie glauben, damit holen Sie ihn zurück?«, sagte Henry. »Sie glauben, er wird wieder nach Ihrer Pfeife tanzen? Sie irren sich. Er wird es durchschauen.«
Sie blinzelte nur.
Er wandte sich zum Gehen, den anderen hinterher.
»Henry«, sagte sie.
Er erstarrte, als er sie seinen Namen sagen hörte. Er drehte sich zu ihr um.
Sie neigte den Kopf und zog eine Augenbraue hoch. »Es wird interessant sein zu sehen, wer von uns beiden ihn besser kennt«, sagte sie.
Himmel, war sie selbstgefällig. Henry hatte sich jahrelang Vorwürfe gemacht. Weil er Gretchen nicht von Anfang an verdächtigt hatte. Weil er Archie nicht früher gefunden hatte. Weil er dem wahnwitzigen Handel zugestimmt hatte, der seinen Freund Woche für Woche in ihre Fänge trieb. Er hatte Archie vorher gekannt. Er wusste, wie er sich verändert hatte. Das war die Absprache nicht wert. Es war egal, wie viele Leichen sie noch auftischte. Gretchen Lowell war eine Werbung für die Todesstrafe. Er beugte sich vor. »Wer immer Ihnen das angetan hat«, sagte er kategorisch, »der hat sich verdammt noch mal einen Orden verdient.«
Archie streckte den Kopf hinter den Vorhang. »Kommst du?«
Henry richtete sich auf, er war wie benommen. »Ja«, sagte er. Er folgte Archie auf die andere Seite des Vorhangs. Aus dem Augenwinkel glaubte er zu sehen, wie Gretchen Archie zublinzelte, aber er war sich nicht sicher.