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Archie wachte mit steifen Gliedern auf. Es lag zum einen an der Ausklappcouch in seinem Arbeitszimmer und zum andern daran, dass er die ersten Pillen des Tages noch nicht genommen hatte. Es war jeden Morgen, als würde er mit Grippe aufwachen. Das Erste, was er wahrnahm, war die Steifheit in Armen und Beinen, der Schmerz in den Rippen, sein pochender Schädel, und dann stand Sara neben dem Bett, mit einem roten Overall und einem rosa T-Shirt, bereits für die Schule angezogen.

Der Fernseher lief noch. Eine Luftaufnahme von orangeroten Flammen war zu sehen. Der lokale Sender hatte eine Pause im Betrauern des Senators eingelegt, um von einem Waldbrand irgendwo in der Mitte Oregons zu berichten. Selbst in den Nachrichten ging das Leben weiter.

»Henry macht Eier«, sagte Sara. Archie konnte die Eier im selben Moment riechen, ein Geruch nach Salz und Fett, der von der Küche hereinwehte. Es drehte ihm den Magen um.

»Du musst aufstehen«, sagte Sara.

Archie rieb sich das Gesicht und sah auf die Uhr. Es war 6.30 Uhr.

Sara nahm seine Hand und begann zu ziehen.

Er trug eine Pyjamahose, die ihm Debbie vor ein paar Jahren zu Weihnachten gekauft hatte, und kein Hemd. Als er sich aufsetzte, rutschte die Decke weg und seine vernarbte Brust lag frei. Er spürte die kalte Luft an seinem Oberkörper, sah, wie sich Saras Augen weiteten. Rasch löste er seine Hand und zog die Decke bis an die Achseln. Er rechnete damit, dass Sara zurückweichen würde, aber stattdessen schmiegte sie sich an ihn und schlang die Arme halb um seinen Hals. »Ich habe auch Narben«, flüsterte sie. Sie strich ihr Haar zurück, um ihm die papierdünne Narbe am Haaransatz zu zeigen, wo sie mit drei Jahren vom Schlitten gefallen war. »Siehst du?«, sagte sie.

Archie berührte die Narbe am Kopf seiner Tochter. Sie war so zart, dass er sie mit seinen dicken Fingern kaum wahrnahm. Nicht annähernd wie die Risse, von denen seine Haut gezeichnet war. Wenn er über die Topografie seiner eigenen Narben fuhr, konnte er sich immer vorstellen, dass er die Oberfläche eines fremden Planeten befühlte.

Archie küsste sie auf die Stirn, genau auf die Narbe. »Geh ein bisschen Ei essen«, sagte er. »Ich bin gleich auf.«

Erst als Sara den Raum verlassen und die Tür geschlossen hatte, zog er die Decke ganz fort und setzte sich an den Rand des Betts. Er befühlte die herzförmige Narbe, unter der sein Herz schlug. Er mochte es, wie sie sich jetzt anfühlte, und er ließ die Finger lange darübergleiten, ehe er nach seiner Hose griff, mit den Pillen in der Tasche.

Er sah zu dem Ticker am unteren Rand des Bildschirms. Zwei Brände waren zu einem verschmolzen.

Archie duschte und rasierte sich. Die Wirkung des Vicodin setzte unter dem warmen Regen der Dusche ein, und als er mit dem Rasieren fertig war, fühlte er sich angenehm benebelt. Die Pillen erzeugten eine Art dumpfes Grollen in seinem Kopf, das die Schuldgefühle zum Verstummen brachte. Er dachte manchmal daran, sie aufzugeben. Aber immer nur, wenn er morgens aufwachte. Nie, wenn er ihre Wirkung verspürte.

Er wählte eine braune Hose und ein braunes Hemd und ging dann in die Küche. Die Kinder hatten bereits fertig gegessen, und Debbie half ihnen gerade in ihre Jacken. Henry stand in Debbies weißer Küchenschürze am Herd und machte Rührei. Sein Kopf war frisch rasiert. Er trug andere Sachen als am Abend zuvor. Offenbar hatte er vorausschauenderweise eine Reisetasche mitgebracht.

Henry sah zu Archie und lächelte. »Du siehst aus, wie ein UPS-Fahrer«, sagte er.

Sara rannte von Debbie zu Archie und rammte ihm ihre metallene Brotzeitbox in den Oberschenkel. Ben blieb, wo er war, und ließ sich von Debbie den Reißverschluss der gelben Jacke zuziehen.

Sara sah zu Archie hinauf. »Ich habe heute eine Rechtschreibprobe«, sagte sie. Ihre rote Jacke ahmte einen Marienkäfer nach, mit schwarzen Punkten auf dem Rücken und zwei Fühlern auf der Kapuze.

»Du bist in der ersten Klasse«, sagte Archie.

»Henry hat mich ausgefragt.«

»Sie kann besser buchstabieren als ich«, sagte Henry.

Debbie kam und legte die Hand auf Saras Schulter, dann küsste sie Archie auf die Wange. »Bis heute Abend«, sagte sie. »Henry hat gesagt, er würde auf die Kinder aufpassen. Wir könnten ausgehen, etwas unternehmen.«

»Sicher«, sagte Archie.

Debbie nickte und nahm Sara an der Hand. »Gehen wir«, sagte sie. »Ben, gib deinem Vater einen Kuss.«

Ben trottete vor, und Archie beugte sich hinunter, sodass sein Sohn ihm einen Abschiedskuss geben konnte.

»Ich liebe dich, Daddy«, sagte Sara. »L-I-B-E.«

»Da fehlt ein E«, sagte Archie.

Und dann waren sie draußen.

Archie holte sich eine Tasse Kaffee und setzte sich an den Küchentisch. Das Geschirr der Kinder stand noch da, mit Brotkrusten, verschmiertem Ei und Fett.

»Meine Waffe?«, sagte Archie.

Henry ging zu einem der hohen Hängeschränke über dem Herd, langte nach oben und zog Archies Waffe heraus. Er brachte sie zum Tisch und legte sie vor Archie. »Sie ist leer«, sagte er.

Archie hob sie auf und hielt sie einen Moment in der Hand, ehe er sie in sein ledernes Gürtelholster steckte.

»Willst du noch darüber reden?«, fragte Henry.

»Wird sie gerade verlegt?«

»Ja«, sagte Henry.

»Dann gibt es nichts zu reden«, sagte Archie. Bevor Henry etwas erwidern konnte, läutete Archies Handy. Er zog es aus der Tasche, klappte es auf und hielt es ans Ohr.

»Ich bin's«, hörte er Susan Ward sagen. »Ich weiß, wer Ihre unbekannte Tote ist.«