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Es war zwei Uhr morgens, und Henry und Claire waren endlich nach Hause gefahren. Der Arlington Club war schon tagsüber ein ruhiger Ort. Nachts war er wie eine Krypta. Archie ging den Inhalt von Susans Karton durch. Es gab CDs mit Aufzeichnungen von Interviews, die Susan mit Molly Palmer geführt hatte, mit Leuten, die sie als Teenager gekannt hatten, und mit einer Reihe von Leuten, die in einem Zusammenhang mit dem Fall standen, darunter frühere und jetzige Mitarbeiter des Senators und selbst der Bürgermeister. Susans Geschichte würde hohe Wellen schlagen. Und viele Leute wussten, dass sie in Vorbereitung war.

Archie hörte sich eine der Aufzeichnungen auf seinem Laptop an und blätterte dabei die zwölf Reporterblöcke durch, die Susan mit in den Karton gelegt hatte. Ihr Gekritzel war fast unleserlich und durchsetzt mit zufälligen Notizen wie ihrer Take-away-Bestellung an dem entsprechenden Tag oder den Namen von Bands, die sie sich merken wollte.

Dann sah er einen unterstrichenen Namen mit einem Fragezeichen dahinter. John Bannon?

Es war ein Name aus der Vergangenheit.

Was wusste Susan über John Bannon? Und was wusste John Bannon über Molly Palmer?

Die Schlafzimmertür ging auf, und Debbie kam heraus. Sie trug einen Bademantel des Arlington Clubs, ging zu Archie und setzte sich neben ihm auf die Sofalehne. »Kommst du ins Bett?«, fragte sie.

»Bald«, antwortete er.

Archie sah, wie Debbies Blick auf sein Handy fiel, das in Reichweite auf dem Kaffeetisch lag. Ihre Miene verfinsterte sich.

»Erwartest du einen Anruf?«, fragte sie.

Die Wahrheit war, dass Archie alle paar Minuten auf das Handy geblickt hatte, weil er wollte, dass Gretchen wieder anrief. »Vielleicht«, sagte er.

Debbie beugte sich vor und drückte auf die Ausschalttaste des Handys, bis das Licht ausging. »Das Miststück soll eine Nachricht hinterlassen«, sagte sie und warf das Gerät auf das Kissen neben ihm. Dann wandte sie sich Archie zu und berührte ihn sanft an der Wange. »Du musst ein bisschen schlafen«, sagte sie.

Archie nickte. »Okay«, sagte er. Er legte die Hand auf die Rundung ihrer Hüfte und küsste sie leicht, aber lange auf den Mund. Dabei tastete er hinter sich nach dem Handy und schaltete es wieder ein. Während sie ihn ins Schlafzimmer führte, warf er einen Blick zurück und sah beruhigt das grüne Licht des Geräts aus der Dunkelheit blinken.

Archie erwachte von Debbies Stimme und ihrer Hand auf seiner Schulter. Sie hatten Seite an Seite nackt im selben Bett geschlafen. Es war ein gutes Gefühl gewesen, neben ihr einzuschlafen, ihren gleichmäßigen Atem im Ohr zu haben. Fast wie normal. Nur dass sie sich nicht berührt hatten, beide hatten sorgsam darauf geachtet, die Arme am Körper zu behalten, damit sie nicht versehentlich aneinanderstießen.

»Buddy ist hier«, sagte sie.

Archie kämpfte sich aus seiner Benommenheit. Die Sonne strömte durch die Holzjalousien und warf Lichtstreifen auf die Wände. »Wie spät ist es?«, fragte er.

»Nach neun.«

»Ach, du lieber Himmel.« Archie hatte seit Bens Geburt nicht mehr bis nach acht Uhr geschlafen. Er versuchte, sich an Träume zu erinnern, aber da war nur Dunkelheit. Dennoch fühlte er sich nicht ausgeruht. Debbie war schon angezogen, sie trug eine Jeans und ein langärmliges weißes T-Shirt, das in dem Koffer gewesen sein musste, den Henry gepackt hatte. Sie sah frisch und wach aus, ihre Sommersprossen waren wie ein feiner Staub auf ihrem ungeschminkten Gesicht.

»Ich bin gleich fertig«, sagte er.

Debbie ging hinaus. Archie setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Seine rechte Seite schmerzte bei jedem Atemzug, er hielt sie sich, als er aufstand, um ins Bad zu gehen. Während er sich vorsichtig über den Teppichboden tastete, bemerkte er ein taubes Gefühl in den Händen. Er hob sie vors Gesicht und stellte fest, dass die Finger geschwollen und die Nagelbette weiß waren. Er öffnete die Außentasche des Koffers und zog eine Lebensmitteltüte voller verschreibungspflichtiger Pillen hervor, die er durchwühlte, bis er Vicodin und ein harntreibendes Mittel gefunden hatte. Das Vicodin würde gegen den Schmerz helfen, das Diuretikum gegen die Schwellung. Er nahm vier Vicodin und zwei Stück von den harntreibenden Pillen. Er hatte seine morgendliche Dosis eigentlich auf zwei Vicodin reduziert. Aber seine Zurückhaltung erschien ihm nicht mehr so notwendig.

Er nahm seine Uhr ab, bemerkte die rote Einkerbung, die sie an seinem geschwollenen Handgelenk hinterließ, und ging unter die Dusche. Ein paarmal die Woche erwachte er mit einer Erektion, die seine Träume von Gretchen verriet, aber nicht heute. Heute war er nur erschöpft. Nach dem Duschen putzte er sich die Zähne und rasierte sich, dann zog er die Hose vom Vortag und ein Hemd aus dem Koffer an, den Henry gepackt hatte. Es war eines dieser knitterfreien Teflonhemden. Debbie hatte ihm fünf davon in verschiedenen Erdtönen gekauft. Als er es anhatte, machte er beinahe einen properen Eindruck. Wenn man beiseiteließ, dass er wie der aufgewärmte Tod aussah.

»Gibt es was Neues?«, fragte Archie sofort, als er ins Wohnzimmer der Suite kam. Buddy saß neben Debbie auf einer Couch. Henry hatte im Sessel daneben Platz genommen. Aus dem Zimmer von Ben und Sara hörte er die Geräusche von irgendeinem Zeichentrickfilm. Das Fernsehgerät im Wohnzimmer lief ohne Ton, auf dem geteilten Bildschirm sah er Gretchen auf einer Seite, sich selbst auf der andern. Dann füllte die Schule seiner Kinder den Schirm, dazu die Schlagzeile: ›Beauty Killer Terror‹.

»Noch nicht«, sagte Henry.

Buddy rutschte ein wenig nach vorn. Sein braunes Jackett war tadellos zusammengelegt und lag neben ihm über der Sofalehne. »Die Öffentlichkeit macht sich Sorgen um dich. Die Leute wollen sehen, dass es dir gut geht.«

Archie hatte sich nie an den Gedanken gewöhnen können, dass die Öffentlichkeit etwas von ihm wollte. »Soll ich eine Pressemitteilung herausgeben?«

»Ich will, dass du ins Fernsehen gehst«, sagte Buddy.

Archie sah sowohl Debbie als auch Henry zusammenzucken. »Fernsehen«, wiederholte er dumpf.

»Charlene Wood wartet unten. Sie braucht nur zehn Minuten. Ich denke, damit könnten wir die Gemüter auf dem Marktplatz der Meinungen ein wenig beruhigen.« Buddy hatte schon immer wie ein Politiker geredet, auch als er noch Archies Chef bei der Soko gewesen war.

Archie blickte auf sein Handy, das stumm auf dem Tisch neben einer Kanne Kaffee lag, die der Zimmerservice gebracht hatte. Er versuchte, den Schmerz unter seinem Rippenbogen zu ignorieren, als er sich vorbeugte und sich eine Tasse von dem lauwarmen Kaffee einschenkte. Die schwere weiße Tasse fühlte sich merkwürdig an in seiner geschwollenen Hand, er hat das Gefühl, sie linkisch zu halten, aber niemand schien etwas zu bemerken.

»Ich halte das für keine gute Idee«, sagte Debbie.

Archie trank einen Schluck. Der Kaffee schmeckte bitter, aber vielleicht lag es am Vicodin. Er wollte nicht ins Fernsehen. Er wollte sich nicht vor Buddys Karren spannen lassen, um dessen Aussichten auf eine Wiederwahl zu fördern. Er wollte seine Ex-Frau nicht verärgern.

Doch wenn er es richtig anstellte, konnte er andererseits Gretchen zwingen, ihre Karten aufzudecken.

»Einverstanden«, sagte Archie. »Bitte sie herauf.«