_61_
Gretchen Lowell schlägt die Beine übereinander und beugt sich auf dem gestreiften Stuhl vor.
»Und wie läuft das nun ab?«, fragt Archie. Er fühlt sich in Gretchens Haus fehl am Platz. Er hat der Einzelberatung, die sie angeboten hat, hauptsächlich aus Höflichkeit zugestimmt. Er hat nicht erwartet, dass sie bei ihr zu Hause stattfinden wird. Es kommt ihm irgendwie unangemessen vor.
Ihre blauen Augen weiten sich. »Sie waren noch nie in einer Therapie?«, fragt sie.
Er kennt Gretchen Lowell erst seit ein paar Wochen, seit sie im Büro der Soko aufgetaucht ist, um ihre Hilfe bei der Jagd nach dem Beauty Killer anzubieten. Sie macht ihn befangen. Er war zehn Minuten im Wagen gesessen, bis er den Mut gefunden hatte, hereinzukommen. »Nur bei Ihren Gruppensitzungen«, sagt er.
Sie trägt einen Rock. Sie lächelt, verschränkt ihre Hände und legt sie um ein Knie. Der Rock rutscht nach oben und lässt ein Stück ihres Oberschenkels sehen. »Nun, es ist ganz einfach«, sagt sie. »Sie erzählen mir, was Sie auf dem Herzen haben. Und wir sprechen darüber.«
Archie rutscht nervös auf seinem Stuhl umher, die Dienstwaffe drückt an seine Hüfte. Er hat tatsächlich etwas auf dem Herzen. Etwas, wovon er noch nicht einmal Henry erzählt hat. »Ich überlege, ob ich um eine Versetzung bitten soll«, sagt er. »Ich möchte mehr Zeit mit meiner Familie verbringen.« Es tut gut, es endlich auszusprechen. Es verleiht der Sache Kraft. Als könnte er es diesmal wirklich tun. Er sieht Gretchen an. Sie ist eine Frau. Er erwartet, dass sie ihn ermutigt, seine Kinder über die Arbeit zu stellen. Es ist einer der Gründe, warum er gekommen ist.
Aber sie tut es nicht.
»Belastet es Ihre Ehe?«, fragt sie. »Die viele Arbeit?«
Archie denkt darüber nach. Er kennt die Antwort. Er weiß nur nicht recht, wie viel er preisgeben will. »Meine Frau würde es gern sehen, wenn ich einer anderen Arbeit nachginge«, sagt er.
Gretchen beugt sich etwas weiter vor, der Rock rutscht noch ein Stück höher. »Aber Sie sind sehr gut in dem, was sie tun«, sagt sie.
Archie lacht. »Ich habe eine einzige Aufgabe. Den Beauty Killer fangen. Was mir noch nicht gelungen ist.«
»Ich glaube, Sie sind nahe dran«, sagt sie. Sie streckt die Hand aus und legt sie auf die Armlehne von Archies Stuhl. Sie berührt ihn nicht. Nur den Stuhl. »Geben Sie jetzt nicht auf«, sagt sie. »Sie müssen sich weiter auf den Fall konzentrieren.«
Archie schüttelt den Kopf. »Ich muss mehr zu Hause sein«, erwidert er. »Ich will nicht am Ende zu den Leuten gehören, die selbst die Geburtstage ihrer Kinder verpassen.« Er hat bereits zu viel von ihrem Aufwachsen versäumt. Man rechtfertigte lange Arbeitszeiten leicht vor sich selbst, wenn man sich sagte, dass Menschenleben davon abhingen.
»Wie lange sind Sie und Ihre Frau schon zusammen?«, fragt Gretchen.
»Seit dem College.«
»Mit wie vielen Frauen haben Sie geschlafen?«, fragt sie.
Archie spürt, wie er rot wird. Er sieht aus dem Fenster, auf eine Gruppe von Kirschbäumen im Garten. »Nur mit ihr«, sagt er.
»Wirklich?«
Er räuspert sich. »Ich hatte in der High-School eine Freundin, die bis zur Ehe warten wollte. Ich habe das respektiert. Dann habe ich Debbie im ersten Collegejahr kennengelernt.« Er legt Wert darauf, das zu sagen. »Und das war's dann.«
»Und Sie haben sie nie betrogen?«, fragt Gretchen.
»Nein.«
»Das ist ungewöhnlich.«
»Ja?«, fragt Archie.
»Das ganze Leben lang nur mit einer Person zusammen gewesen zu sein?«
Archie zuckt mit den Achseln. »Ich liebe sie.«
»Ist Ihr Sex gut?«, fragt Gretchen.
Archie wird heiß. Er kratzt sich im Nacken. Das einzige Geräusch im Raum ist das Ticken von Gretchens Standuhr. »Es kommt mir wirklich merkwürdig vor, mit Ihnen darüber zu sprechen«, sagt er.
Gretchen nickt verständnisvoll. »Wenn unsere Sitzungen einen Sinn haben sollen, müssen Sie aufrichtig zu mir sein.«
»Ja«, sagt Archie und schaut zur Seite. »Er ist gut.«
»Woher wissen Sie das?«, fragt Gretchen.
Archie lächelt. Touché. »Ich weiß es.«
Gretchen berührt den Sessel wieder. »Es ist in Ordnung, wenn Sie über andere Frauen fantasieren«, sagt sie. »Es ist kein Betrug.«
Die Wahrheit ist, dass sich selbst seine Fantasien immer um Debbie drehen. Sie ist seine eine wahre Liebe. Aber er will es nicht zugeben. Er hat es noch nicht einmal Debbie gesagt. Sie würde lachen und ihm ein Playboy-Heft kaufen. »Okay«, sagt er.
Gretchens Hand bleibt auf der Armlehne von Archies Sessel liegen. Ihre Finger sind schlank, alabasterweiß. Ihre Nägel sind manikürt. »Sie fühlen sich zu anderen Frauen hingezogen«, sagt sie.
Archie spreizt hilflos die Hände. »Ich bin ein Mann«, sagt er.
»Fühlen Sie sich zu mir hingezogen?«, fragt sie. Sie macht eine Pause, gerade lange genug, dass er verlegen losstottern kann, dann lehnt sie sich zurück und lächelt ihn an. »Es ist eine rein akademische Frage. Es ist vom therapeutischen Standpunkt her hilfreich, es zu wissen.«
Archie überlegt, was er sagen kann, es soll wahr sein, aber nicht zu wahr. Sein Mund ist plötzlich sehr trocken. Die Standuhr tickt und tickt. Er entscheidet sich für: »Ich finde Sie sehr schön.«
Ihr Gesicht hellt sich auf, und sie lacht. Es ist ein angenehmes Lachen. »Ich habe Sie verlegen gemacht«, sagt sie.
»Ja.«
»Ich frage Sie nur nach Ihrem Sexualleben, weil sich Sex ausgezeichnet zum Stressabbau eignet. Und ich weiß, dass Sie unter erheblichem Stress stehen.«
»Ich schlafe nicht gern mit Debbie, wenn ich von einem Tatort komme«, sagt Archie. »Ich kann die Bilder nicht aus dem Kopf verbannen. Es kommt mir dann falsch vor.«
»Die Bilder verfolgen Sie?«, fragt Gretchen.
Archie legt eine Hand an die Stirn, als könnte er die Bilder damit wegwischen. »Ja.«
Er spürt das volle Gewicht ihrer Aufmerksamkeit. »Gibt es ein Bild, das Sie mehr verfolgt als die andern?«, fragt sie.
»Heather Gerber«, antwortet er. »Das erste Opfer, das wir gefunden haben. Im Park. Sie war nicht die schlimmste, was die Folter betrifft. Aber ihr Gesicht. Ihre Augen waren offen. Und sie hat mich angesehen. Das klingt verrückt, nicht wahr?«
»Lassen die Bilder Sie nachts nicht schlafen?«
Sein Handy vibriert in der Tasche. Er zieht es heraus und klappt es auf. Es ist eine SMS von Henry. Ein neuer Hinweis. »Scheiße«, entfährt es ihm. Er sieht zu Gretchen auf, verlegen wegen seiner Ausdrucksweise. »Entschuldigen Sie«, sagt er. »Es ist Henry. Ich muss gehen.«
Er steht auf, rückt die Waffe an der Hüfte zurecht. Sie steht ebenfalls auf, geht zu ihm und legt ihm die Hand direkt über dem Ellbogen auf den Arm.
»Ich würde Sie gern wiedersehen«, sagt sie. »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«
Sie riecht nach Flieder.
Archie bewegt sich nicht. Er will dem Druck ihrer Berührung standhalten. Er empfindet eine seltsame Verbundenheit mit diesem Ort, mit ihr. Es ist lächerlich. Er kennt sie kaum. Sie ist schön, sie bringt ihm Aufmerksamkeit entgegen, und er reagiert wie ein Siebzehnjähriger.
Er beschließt, nicht sofort einen neuen Termin zu vereinbaren. Er wird ein paar Tage warten. Um nicht allzu begierig zu erscheinen.
Das Ticken hört unvermittelt auf. Er sieht auf die Standuhr. Sie ist stumm, die Zeiger stehen reglos auf drei Uhr dreißig.
Er räuspert sich. »Ihre Uhr ist gerade stehen geblieben«, sagt er.
Sie lässt die Hand von seinem Arm sinken und sieht zu der Uhr. »Das ist ja witzig«, sagt sie.
Er macht einen Schritt in Richtung Tür, und sie dreht sich nach ihm um, ihre Gestalt wird durch das Fensterlicht von hinten beleuchtet, ein Bild reiner Schönheit. Nichts ist falsch daran, es zu bemerken, sagt sich Archie. Es ist nur eine Beobachtung.
»Wenn Sie Schlafstörungen haben«, sagt sie, »kann ich Ihnen eine Probe von etwas geben, das vielleicht hilft.«
Er lächelt. Vielleicht wird er doch nicht ein paar Tage warten, um einen neuen Termin zu vereinbaren. Vielleicht wird er noch im Laufe des Tages anrufen. Nur um ihre Stimme zu hören. »Danke«, sagt er. »Aber ich nehme ungern Tabletten.«