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Susan stand vor der Tür von Debbie Sheridans Zimmer im Arlington und wollte klopfen. Bennett sah ihr von seinem Stuhl aus aufmunternd zu.
Sie hatte fast den Mut aufgebracht, es zu Ende zu führen – sie wollte sehen, wie es Debbie ging, ohne aufdringlich zu wirken –, als die Tür geöffnet wurde und Henry Sobol vor ihr stand. Susan erhaschte noch einen Blick auf Debbie, die mit geröteten Augen auf dem Sofa saß, die Kinder links und rechts an sie geschmiegt, ehe Henry die Tür hinter sich schloss.
»Jetzt ist es gerade nicht so günstig«, sagte er und sein Tonfall ließ wenig Spielraum für etwas anderes.
Susan fuhr sich mit der Hand durch das türkisfarbene Haar. »Was gibt es Neues?«, fragte sie.
Sie sah Henry an, dass er ebenfalls nicht geschlafen hatte. Er trug dieselben Sachen wie am Vorabend, und auf seinem rasierten Schädel machte sich ein Schatten von Haarwuchs bemerkbar. Seine Stimme war schwer und tonlos. »Um sechs gibt es eine Pressekonferenz«, sagte er.
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Susan. Sie bereute ihre Worte im selben Moment, fuhr aber dennoch verlegen fort. »Dass Sie nicht bei ihm waren. Er hätte immer eine Gelegenheit gefunden, sich fortzustehlen, wenn er es wollte.«
Henrys blaue Augen verdüsterten sich. Er blickte zu der geschlossenen Tür zurück und senkte die Stimme zu einem Knurren. »Er hat sich nicht fortgestohlen. Sie hat ihn gewaltsam entführt, verstanden?«
Susan trat einen kleinen Schritt zurück. »Ja.«
Henry zog die mächtigen Augenbrauen hoch und wandte sich zum Gehen.
»Ich will dabei sein.«
Henry blieb stehen. »Was?«
Susan straffte die Schultern ein bisschen. »Ich will bei der Ermittlung dabei sein«, sagte sie. »Das ist mein Preis.« Die Worte waren aus ihr gesprudelt, ehe sie sie zurückhalten konnte. »Ich kann Ihnen helfen. Ich komme Ihnen auch nicht in die Quere. Ich will nur einfach etwas tun.«
Henry strich sich mit der Hand über den Kopf und schloss kurz die Augen. »Kommen Sie mir nicht ausgerechnet jetzt mit so einem Scheißdreck.«
»Ich mach alles öffentlich«, sagte Susan, die zunehmend selbstsicherer wurde. »Es sei denn, Sie gewähren mir Zugang zu den Ermittlungen. Ich kenne Archie. Ich weiß eine Menge über den Fall Beauty Killer. Ich kann dazu beitragen, sie zu finden.« In diesem Augenblick glaubte sie sogar, was sie sagte. Molly war tot. Die Lodge-Geschichte war aufgeschoben. Aber hier konnte sie helfen. »Ich muss mithelfen, sie zu finden. Bitte.«
Natürlich hätte Susan Archie nie verraten. Aber sie setzte darauf, dass Henry dieses Risiko nicht einging. Sie wollte, dass er zustimmte und gleichzeitig wollte sie, dass er sie zwang, ihre Karten aufzudecken. Denn wenn er zustimmte, bedeutete es, dass er ihr nicht traute.
»Einverstanden«, sagte er. »Sie sind dabei.«
Susan war seit dem Abschluss des Heimweg-Würger-Falls nicht mehr in den Büros der Soko gewesen. Sie befanden sich in einem alten Bankgebäude, das die Stadt gekauft und der Polizei als zusätzlichen Büroraum überlassen hatte. Das Haus war einstöckig und quadratisch und stand in der Mitte eines Parkplatzes. An der Ostseite des Gebäudes hing ein Geldautomat, an dem man immer noch Geld bekam.
Sie hatten ein bisschen Arbeit in den Laden gesteckt: alten Teppichboden herausgerissen, die Kassenschalter entfernt und dafür Schreibtische und Computer mit Flachbildschirmen installiert. Aber es sah immer noch aus wie eine Bank. Der alte Tresorraum existierte noch. Die ehemalige Schalterhalle wurde immer noch von Neonlampen erleuchtet, die hell genug waren, dass man auf einem Überwachungsvideo jeden Pickel eines Bankräubers zählen konnte. Kein sehr schmeichelhaftes Licht. Susan zog an ihrem T-Shirt. Sie war sofort mit Henry aufgebrochen und hatte keine Zeit gehabt, sich umzuziehen. Jetzt bedauerte sie es, dass sie nicht wenigstens einen BH angelegt hatte.
Claire Masland setzte sich neben Susan an den Konferenztisch im alten Pausenraum der Bank. Der Raum war voller Polizisten. Niemand hatte geschlafen. Es roch wie in der Umkleidekabine einer Sportmannschaft nach dem Training. Susan setzte einen Pappbecher Kaffee an den Mund. Sie hatte ihn sich aus einer Thermoskanne auf der Theke eingeschenkt. Er schmeckte nach Haselnuss. Was waren das für Polizisten, die aromatisierten Kaffee tranken?
»New Kids on the Block?«, sagte Claire.
Susan sah auf ihr T-Shirt hinunter. »Es ist ironisch gemeint«, sagte sie.
»Okay«, sagte Henry. »Fangen wir an.« Er entrollte eine Karte von Oregon auf dem Konferenztisch. Sie war mit verschiedenfarbigen selbstklebenden Zetteln bedeckt. »Die Straßensperren sind gekennzeichnet«, sagte er. »Wir haben Fahndungsplakate an allen Flughäfen, Häfen, Bahnhöfen und Busbahnhöfen. Die Fotos der beiden wurden überallhin verschickt. Die Medien berichten laufend.« Er rieb sich den Nacken und schaute in die Runde. »Haben wir etwas übersehen?«
Jeff Heil betrachtete über Henrys Schulter hinweg die Karte. »Glauben Sie denn, dass sie immer noch im Bundesstaat ist?«, fragte er skeptisch. Die Karte zeigte nur einen kleinen Streifen von Washington oben und Kalifornien unten, sowie auf der rechten Seite die Grenze zu Idaho, die vage an ein menschliches Profil erinnerte, das auf den Pazifik hinausschaute.
»Letztes Mal ist sie nicht weit gefahren«, sagte Claire.
»Vielleicht sollten wir alle Keller in Gresham durchsuchen«, sagte jemand anderes.
Henry schüttelte den Kopf und sah auf die Karte. »Glaubt nicht, dass ich diese Möglichkeit ausgeschlossen habe«, sagte er. Er atmete tief durch. Dann ließ er den Blick durch den Raum schweifen, bis er auf Lorenzo Robbins vom Büro des amtlichen Leichenbeschauers fiel. Er war hereingekommen, während Henry redete, und stand direkt an der Tür. »Was wissen wir über das Herz?«, fragte er ihn.
Robbins verschränkte die Arme und lehnte sich an die Tür. Er hatte mehrere Aktendeckel unter den Arm geklemmt. Susan kannte ihn nicht persönlich, aber sie hatte ihn schon ein paarmal laufen sehen. Mit seinen Dreadlocks fiel er auf. »Es ist das Herz eines Mannes, Mitte dreißig. Wir haben eine Übereinstimmung mit einer DNA-Probe aus dem Haus des verschwundenen Transportwärters. Er heißt Rick Yost.«
»Können Sie sagen, wie er gestorben ist?«, fragte Henry.
»Nicht an einem Herzinfarkt«, antwortete Robbins.
Henry seufzte schwer und ging weiter. »Wie sieht es mit der Munition und den Handy-Batterien aus?«, fragte er Mike Flanagan.
Susan horchte auf. Davon war bisher nichts an die Medien herausgegeben worden. Sie hob die Hand.
Henry sah es und stöhnte. »Wir haben Archies Handy-Batterien und ein paar Kugeln in einem Rinnstein nicht weit vom Park gefunden«, erklärte er. »Können wir Fragen vorerst zurückstellen?«
Susan ließ die Hand sinken und griff nach ihrem Haselnusskaffee.
»Nur seine Fingerabdrücke«, sagte Flanagan. »Er muss die Sachen aus dem Auto geworfen haben.«
Susan hasste Haselnusskaffee beinahe so sehr wie Vanillekaffee und alle anderen aromatisierten Kaffees. Aber sie trank dennoch einen Schluck. Nur Archies Abdrücke. Er war aus freien Stücken in den Wagen gestiegen. Und dann hatte er die Batterien und die Kugeln eigenhändig aus dem Wagen geworfen.
»Okay«, sagte Henry und rieb sich den Nasenrücken. »Wir behalten das vorläufig für uns.« Er blickte in die Runde der versammelten Beamten. Er sieht müde aus, dachte Susan. Die blauen Augen waren blutunterlaufen, die Stoppeln, die seinen kahlen Schädel sprenkelten, waren grau. »Machen wir uns für die Pressekonferenz fertig.«
Er trat von dem Tisch zurück, und alle Polizisten standen auf und begannen, den Raum zu verlassen. Susan starrte in ihren Kaffee. Sie spürte, dass jemand an ihren Arm strich, und als sie aufblickte, stand Lorenzo Robbins zwischen ihr und Claire. Er streckte Claire einen Aktenordner entgegen. »Geht das jetzt an Sie?«, fragte er. »Es sind meine Befunde über die Leichen im Park.«
Susan fuhr herum. »Der Fall, an dem Archie gearbeitet hat?«
Robbins sah Claire an. Claire zuckte die Achseln. »Nur zu. Sie arbeitet jetzt praktisch hier.«
»Es ist ein Paar«, sagte Robbins. »Ein Mann, eine Frau, beide Ende zwanzig. Sind seit etwa zwei Jahren tot.«
»Aha«, sagte Claire.
Susans Blick wechselte zwischen ihr und Robbins hin und her. »Und stehen sie nun in Zusammenhang mit dem Mord an Molly oder nicht?«, fragte sie.
Claire nahm die Akte und blätterte ihren Inhalt durch. »Ich weiß es nicht. Es gibt einen Haufen kaputte Leute auf der Welt, und der Park eignet sich außerordentlich gut als Müllkippe für Leichen.«
»Was werden Sie also unternehmen?«, fragte Susan.
Claire klappte den Ordner zu. »Es ist ein kalter Fall. Er kann noch ein paar Tage warten.«
Susan dachte an Mollys Leiche auf dem Tisch im Leichenschauhaus. »Der Mord an Molly ist nicht kalt«, sagte sie.
Claire rückte näher an Susan heran. Sie war kleiner aber stärker, und Susan musste den Impuls unterdrücken, einen Schritt zurückzuweichen. Der Raum hatte sich geleert, bis auf ein paar Beamte, die noch um die Karte herumstanden. Claire senkte dennoch die Stimme. »Archie ist mit Gretchen Lowell da draußen«, sagte sie zu Susan. Ihre Stimme war beherrscht, ihr Blick ruhig, aber in ihrer Haltung lag etwas Unerbittliches, das Susan die Kehle zuschnürte. »Sie hatte ihn die ganze Nacht. Wie viele Nägel, glauben Sie, hat sie inzwischen in ihn getrieben?«
Susan hatte nicht vor, so leicht aufzugeben. »Mollys Tod könnte mit dem Mord an Parker und dem Senator zusammenhängen.«
Susan verdrehte frustriert die Augen. »Sie wurden nicht ermordet, Susan. Vielleicht war es Selbstmord, vielleicht war es ein Unfall. Aber wir haben keinen Hinweis darauf, dass es mehr gewesen sein könnte.«
Susan schüttelte den Kopf. »Gretchen Lowell hat Heather Gerbers Leiche dort abgeladen, irgendein Mörder hat ein totes Pärchen vor zwei Jahren dort abgeladen. Und jetzt Molly Palmer?«
»Nur weil Sie Hufgetrampel hören, muss es kein Zebra sein«, sagte Claire.
»Was soll denn das heißen?«, fragte Susan.
»Es ist fast immer ein Pferd.« Claire spreizte die Hände. »Das Hufgetrampel.« Sie fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar. »Jetzt muss ich mich zurechtmachen. Henry will mich bei der Pressekonferenz dabeihaben.«
Die Pressekonferenz. »Ich mich auch«, sagte Susan. »Ich bin gleich fertig.« Sie begann, ihre Sachen zusammenzupacken, und stieß dabei den Kaffeebecher um, dessen Inhalt sich über den Tisch ergoss und die Karte bespritzte. Susan stieß erschrocken einen Schrei aus und lief schnell um ein paar Servietten, die neben der Mikrowelle auf der Küchentheke lagen.
»Himmel«, sagte Claire. »Wir treffen uns draußen.« Sie drehte sich um und verließ den Raum.
Mike Flanagan und ein anderer Polizist hatten sich immer noch mit der Karte beschäftigt, und Flanagan hob sie nun von dem nassen Tisch hoch. Susan warf die Servietten in die Kaffeepfütze und machte sich dann daran, die Spritzer von der Karte zu tupfen, die die beiden Männer auf den Boden gelegt hatten.
Sie hatte es geschafft, Kaffee bis ins zentrale Oregon schwappen zu lassen. Santiam-Pass. Bend. Prineville. Beim Auftunken des Kaffees achtete sie sorgfältig darauf, keine von den Zetteln zu verschieben, die Straßensperren markierten. Dabei fiel ihr auf, dass es an der Kreuzung der Interstate 5 und des Highway 22 keine Sperre gab. »Am Highway 22 ist keine Straßensperre«, sagte sie.
»Die 22 geht nirgendwohin«, erklärte Flanagan. »Nur hinauf in die Berge.« Er nahm Susan die Karte aus der Hand und begann, sie sorgfältig aufzurollen. »Und dort oben brennt es.«
»Ich dachte, das hätten sie unter Kontrolle«, sagte Susan.
»Der Wind hat gedreht«, erwiderte Flanagan. »Das Feuer brennt auf einer Fläche von mehr als hundert Hektar. Wir brauchen keine Straßensperre. Die Forstverwaltung hat die 22 heute Morgen dicht gemacht.«