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Sie waren aus der Feuerzone in den grünen Wald aus Ponderosa-Kiefern gewandert. Ein Brandmal auf der Straße kennzeichnete die Trennlinie. Auf der einen Seite alles schwarz und zerstört, auf der anderen Kiefernnadeln und -zapfen, purpurne Blüten und Präriegras. Noch immer lag dichter Rauch in der Luft, und die einzigen Geräusche kamen von einem gelegentlichen Löschflugzeug oder einem Hubschrauber, die über sie hinwegflogen. Keine Polizeiautos. Keine Sirenen.
Susan bemerkte, dass Henrys Haut, die Haare und seine Kleidung von Asche bedeckt waren. Sie wischte sich über das Gesicht, und ihre Hand war dreckverschmiert.
Die Dunkelheit brach in den Bergen schnell herein. Die untergehende Sonne sah aus wie eine von orangefarbenem Nebel eingehüllte Straßenlampe. Der halbe Himmel war mit Sternen geschmückt, die andere Hälfte von Ruß und Rauchpartikel verdeckt. Sie hatten nicht viel Zeit. Ohne Taschenlampe würden sie in einer Stunde nichts mehr sehen.
Susans Augen waren wund vom Rauch, doch wenn sie in ihnen rieb, schienen sie nur noch gereizter zu werden. Sie sah auf ihre Hände. Sie waren voller Asche. Sie wischte sie an ihrer Hose ab.
»Das muss es sein«, sagte Henry und hielt in der Nähe des Meilensteins 92, wo ein Kiesweg sich den bewaldeten Hang hinaufschlängelte.
Er klappte sein Handy auf, es leuchtete hellblau im violetten Dämmerlicht. »Noch immer kein Netz«, sagte er. »Der Mast steht wahrscheinlich nicht mehr.«
Susan spähte die Straße hinauf. Der Rauch ließ alles weich und merkwürdig still erscheinen. »Wo ist nun die Kavallerie?«, fragte sie.
Henry zog die Waffe aus dem Schulterhalfter, sah den Highway hinauf und hinunter und blickte dann auf den Kiesweg. »Sie sind noch nicht da.«
»Wieso nicht?«, fragte Susan. Sie hatten Claire vor einer Stunde angerufen. Irgendetwas stimmte nicht. Sie hätten inzwischen hier sein müssen.
»Das Feuer«, sagte Henry. »Die Polizei in Sisters evakuiert wahrscheinlich gerade die Stadt. Der Flugplatz ist möglicherweise geschlossen, deshalb können die anderen nicht kommen, keine Ahnung. Sie warten am besten hier. Bestimmt kommt ein Löschtrupp vorbei.«
Susan schüttelte den Kopf. »Nein, da kommt keiner. Sonst hätten wir sie schon gesehen. Sie bekämpfen das Feuer woanders. Und Sie werden mich nicht zurücklassen.«
»Das Feuer ist nach Norden gezogen«, sagte Henry.
Susan sah zum Himmel. »Und wenn der Wind dreht?«
Henry wandte den Kopf in beide Richtungen des menschenleeren Highways. Dann ging er den Kiesweg hinauf, die Waffe behielt er in der Hand. »Also gut.«
Susan schloss zu ihm auf. »Okay«, sagte sie.
Sie brauchten eine halbe Stunde zum Haus, es war nicht schwer zu finden. Es war das einzige an dem Kiesweg. Sie sahen als Erstes den Briefkasten. Dann die Lichter durch die Bäume.
Das Haus war nicht sehr alt. Es war in dem für den Nordwesten typischen Blockhüttenstil gebaut, mit einer Steinfassade rund um die breite Eingangstür. Der silberne Jaguar stand davor.
»Bleiben Sie hier«, sagte Henry, hob die Waffe und begann in Richtung Haus zu laufen.
Susan hastete ihm hinterher, Kiefernzapfen und Zweige knackten unter ihren Füßen.
»Oh, verdammt noch mal«, sagte er und drehte sich um.
»Ich bleibe nicht allein hier draußen«, sagte Susan. Der Lichtschein am westlichen Himmel sah aus wie ein Sonnenuntergang.
Henry packte sie an den Schultern. »Ich brauche Sie hier draußen, denn wenn Archie da drinnen ist und mir etwas zustößt, müssen Sie Hilfe holen.«
Susan wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Die Kilometer nach Sisters zu Fuß laufen? Einen vorbeifliegenden Hubschrauber aufhalten? Aber der Ernst in Henrys Gesichtsausdruck ließ sie nicken.
Henry hob wieder die Waffe und schlich zum Haus, er duckte sich, als er an den vorderen Fenstern vorbeikam. Dann war er an der Veranda und näherte sich der Tür. Er öffnete sie und verschwand im Haus. Susan war allein.
Einige Minuten vergingen. Ein Eichhörnchen huschte an dem Baum hinauf, neben dem Susan stand. Es war in vier Sätzen am Wipfel und blieb dort reglos sitzen.
Die Eingangstür zum Haus war noch immer offen.
Susan tastete auf dem Boden umher und hob den spitzesten Stock auf, den sie fand. In einer Hand hatte sie den Stock, in der anderen die Wasserflasche. Sie konnte allein draußen bleiben oder hineingehen und nachsehen, was los war. Beide Möglichkeiten waren gefährlich. Aber wenn sie hineinging, wäre sie wenigstens nicht allein. Parker würde ins Haus gehen. Parker würde keine Sekunde zögern.
Hol's der Teufel. Sie stellte die Wasserflasche ab und folgte Henry ins Haus.
Drinnen lief Musik. Ein leises Klassikkonzert wehte vom Hauptraum am Ende des Flurs heran, übertönte jedoch nur schwer das Rauschen in Susans Ohren, das ihr eigener Herzschlag verursachte.
Für einen Moment gestattete sie sich den Gedanken, dass es vielleicht das falsche Haus war. Vielleicht war Archie gar nicht hier.
Sie schlich zögernd an der Wand entlang, hielt immer wieder inne, den Stock wie ein Schwert vor sich ausgestreckt. Er war schmutzig und krumm, und sie hielt ihn so fest, dass sie Angst hatte, er könnte ihr in der Hand zerbrechen.
Henry stand am Ende des Flurs. Er stand so reglos, dass sein ganzer Körper wie aus Holz geschnitzt schien.
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«, hörte Susan ihn fragen.
Susan schlich weiter an der Wand entlang, von einem Zwang angetrieben, den sie nicht unter Kontrolle hatte. Es war ihr nicht einmal bewusst, dass sie sich bewegte, bis sie am Ende des Flurs stand, dort, wo er sich zum Hauptraum öffnete.
Ein mächtiger Kamin erhob sich an der Stirnwand, die Glut eines erlöschenden Feuers flackerte darin. Doch dann bemerkte Susan, dass es gar nicht die Glut war, die flackerte, sondern der Waldbrand. Zu beiden Seiten des raumhohen Kamins lagen Panoramafenster, und Susan sah den roten Flammenkamm in der Finsternis näher rücken, es war ein Bild von düsterer Großartigkeit. Das Feuer war höchstens anderthalb Kilometer entfernt. Hinter dem dunklen Rauchvorhang war der Mond als weißer schmieriger Fleck zu sehen.
Susan konnte kaum atmen.
Nicht weit von ihr stand Henry und hatte die Waffe auf Gretchen Lowell gerichtet. Susans Nasenlöcher waren verstopft. Sie bekam nicht genügend Sauerstoff, konnte sich nicht konzentrieren. Gretchen trug eine Freizeithose und eine weiße Seidenbluse, blonde Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Archie war tot, sein Kopf ruhte auf ihrem Schoß. Susan rang um Luft, aber wegen ihrer mit Gaze verstopften Nase fühlte es sich an, als ob eine Hand auf ihrem Gesicht lag. Gretchens weiße Bluse war mit Archies Blut besudelt.
Susan pfiff wieder, ein feuchtes Rasseln, wie von etwas, das starb, und sie hob die Hand an den Mund, um es zu unterbinden.
»Verschwinden Sie von hier, Susan«, hörte sie Henry sagen. Seine Augen waren weiter auf Gretchen fixiert. »Weg von ihm«, bellte er.
Susan sah, wie Gretchen einen Arm in die Höhe hob, und ein paar Handschellen, mit denen sie ans Geländer gefesselt war, kamen zum Vorschein. »Ich kann nicht«, sagte Gretchen, und ihre Stimme klang leicht gereizt, als sollte man sie mit einer so offensichtlichen Unmöglichkeit nicht belästigen.
Henry bewegte sich langsam, mit erhobener Waffe auf Gretchen zu.
Angst schnürte Susans Kehle zu, tausend Möglichkeiten gingen ihr durch den Kopf. Was sie tun würde, falls Henry etwas zustieß, wenn sie mit Gretchen allein hier bliebe, mit Archie dort auf dem Boden. Sie sah auf den Stock in ihrer Hand und hielt dann nach einer besseren Waffe Ausschau, einem Messer, einem Hammer oder was immer. Sie bemerkte die weiße Handtasche auf dem Tresen, den Schlüssel, das Blatt Papier, die leeren Apothekerfläschchen, aber keine stumpfen Gegenstände. Dann entdeckte sie ein Schälmesser. Nun, es würde zumindest wehtun, dachte Susan. Sie ließ den Stock fallen und packte das Messer. Henry war inzwischen bei Archie und kniete neben ihm; während er an Archies Hals nach einem Puls fühlte, hielt er die Waffe auf Gretchens Kopf gerichtet.
»Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte Henry wieder.
»Raten Sie mal«, sagte Gretchen.
Susan holte ihr Handy hervor. Noch immer kein Signal. Falls sie das hier überlebte, würde sie sich auf jeden Fall einen neuen Netzbetreiber suchen. Sie hielt nach einem Festnetzanschluss Ausschau, sah aber keinen.
»Beide Hände so, dass ich sie sehen kann«, sagte Henry zu Gretchen. Er sagte es mit zusammengebissenen Zähnen, es klang hart und schnell.
Gretchen hob ihre andere Hand hoch.
»Seine Leber ist dabei, zu versagen. Ich habe Naloxon. Ich kann ihn retten. Auf der Theke liegt ein Schlüssel. Machen Sie mich los.«
Susan sah zu dem kleinen Schlüssel. Dann zurück zu Gretchen. Und plötzlich ließ die Erkenntnis sie taumeln: Das Blut auf Gretchens Bluse stammte gar nicht von Archie. Es war Gretchens. Sie hatte sich die Haut an den Handgelenken aufgerissen, als sie an der Handschelle zerrte.
Archie lebte vielleicht noch.
»Den Teufel werde ich tun«, sagte Henry.
»Er wird sterben«, sagte Gretchen. Sie sagte es ruhig, mit vollkommener Überzeugung. »Machen Sie mich los, und ich rette ihn.«
Susan sah zwischen Gretchen und Henry hin und her. Warum unternahm niemand etwas?
»Sie werden ihm helfen«, sagte Henry ebenso entschlossen, »oder ich erschieße Sie.«
Archie lebte noch. Susan war benommen. Ihre Nase tropfte durch die Baumwollgaze durch, sie wischte sie ab. Der Rotz war schwarz vom Ruß und dem Blut von ihrem Nasenbeinbruch. Archie war im Begriff zu sterben.
Gretchen sah zu Susan. »Machen Sie mich los«, sagte sie. Susan warf einen Blick auf den Schlüssel. Gretchens Autorität war so absolut, dass Susan wankte.
»Susan, bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte Henry.
»Tick, tack«, sagte Gretchen.
Archie würde sterben. Wie Parker. Wie ihr Vater. Er starb direkt vor ihren Augen.
In diesem Moment bog sich Archies Rücken durch, und er bekam einen Anfall. Susan wusste nicht, was los war, aber sie sah, wie sich seine Beine bewegten und sein Brustkorb grässlich durchgedrückt war. Susan hatte bei ihrem Vater genau solche Anfälle beobachtet. »Helft ihm«, flehte sie. Sie weinte. Sie konnte nicht anders. Sie gehörte nicht hierher. Sie konnte nicht aufhören zu zittern. Sie konnte nicht klar denken. Alles brach zusammen.
»Susan, meine Handtasche«, sagte Gretchen.
Susan würde Archie nicht sterben lassen. Nur das zählte. Gretchen wirkte so selbstgewiss. Sie war Krankenschwester gewesen. Sie wusste, was zu tun war. Sie konnte ihn retten. Sie hatte es schon einmal getan. Susan sah zu der weißen Tasche auf dem Tresen, packte sie und schleuderte sie in Richtung Gretchen.
Sie bedauerte es im selben Augenblick, aber es war bereits zu spät.
Die Handtasche segelte durch die Luft und landete auf Gretchens Knie.
Henry wurde von der Bewegung abgelenkt, er wandte den Blick für einen Moment von Gretchen und rief: »Nein!«
Im Handumdrehen hatte Gretchen die Tasche geöffnet und richtete eine Waffe auf Henrys Kopf. Sie kauerten einander gegenüber, der Lauf ihrer Waffen war jeweils nur Zentimeter vom Kopf des anderen entfernt. Gretchens Augen strahlten, in ihren Mundwinkeln glitzerte Speichel. Zwischen ihnen lag Archies lang hingestreckte Gestalt, der Anfall war vorüber. Er war wahrscheinlich tot, wurde Susan klar. Entsetzt darüber, was sie getan hatte, führte sie die Hand zum Hals.
Gretchen lächelte. »Sie sollten nicht mit Amateuren arbeiten, Henry.«