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Abendbrise

Ryan rief van Damm an und berichtete, was er erfahren hatte.

»Mein Gott! Sie waren wirklich bereit –«

»Ja, und es wäre ihnen beinahe gelungen«, sagte Ryan heiser. »Clever, nicht wahr?«

»Ich sage ihm Bescheid.«

»Arnie, das muß ich melden. Ich sage es dem Vizepräsidenten selbst.«

»Gut, das verstehe ich.«

»Noch etwas.«

»Ja?«

Seine Bitte wurde erfüllt, und zwar deshalb, weil niemand eine bessere Idee hatte. Nachdem man die Hände der beiden Terroristen verarztet hatte, kamen sie in getrennte Haftzellen des FBI.

»Was meinen Sie dazu, Dan?«

»Mir fehlen die Worte für so etwas.«

»Der Mann hat Krebs«, sagte Clark. »Er dachte wohl: Wenn ich schon sterben muß, kann ich ruhig noch einen Haufen anderer mitnehmen. So was nennt man engagiert.«

»Was haben Sie mit ihnen vor?« fragte Murray.

»Das Bundesrecht sieht die Todesstrafe nicht vor, richtig?«

»Stimmt, und das Gesetz des Staates Colorado auch nicht.« Erst nach einem Moment merkte Murray, worauf Ryan hinauswollte. »Also –«

 

Golowko hatte beträchtliche Mühe, Ryan telefonisch zu erreichen. Der Report von Dr. Moisejew, der bei den vielen anderen Akten auf seinem Schreibtisch lag, hatte ihn verblüfft. Als er von Ryans Plänen erfuhr, war es leicht, ein Treffen einzurichten.

 

Die vielleicht einzige gute Nachricht der Woche war die Rettungsaktion. Bei Tagesanbruch lief die Admiral Lunin in den Hafen Kodiak ein und setzte ihre Gäste an der Pier ab. Von der 157köpfigen Besatzung der Maine war es vielleicht hundert gelungen, von Bord zu gehen, ehe das Boot sank. Dubinin und seine Mannschaft hatten 81 gerettet und elf Tote geborgen, darunter die Leiche von Captain Harry Ricks. Fachlich gesehen war die Aktion eine seemännische Meisterleistung, über die die Medien aber erst berichteten, als das sowjetische Boot schon wieder ausgelaufen war. Als einer der ersten rief Ensign Ken Shaw zu Hause an.

Mit in der Maschine, die vom Luftstützpunkt Andrews gestartet war, saß Dr. Woodrow Lowell von Lawrence-Livermore, ein bärtiger, bulliger Mann, den seine Freunde wegen seiner Haarfarbe »Red« nannten. Lowell hatte sechs Stunden in Denver die Schadenscharakteristika untersucht.

»Ich habe eine Frage«, sagte Jack zu ihm. »Warum waren die Einschätzungen der Sprengleistung so falsch? Wir hätten fast den Russen die Schuld gegeben.«

»Schuld war der Parkplatz«, erklärte Lowell. »Er war asphaltiert. Die Energie der Bombe setzte verschiedene komplexe Kohlenwasserstoff-Verbindungen aus der Oberschicht frei und entzündete sie – das wirkte wie eine riesige Aerosolbombe. Zudem schmolz der Schnee blitzartig, und der Wasserdampf führte zu einer Reaktion, die weitere Energie freisetzte. Das Resultat: eine Flammenfront, die doppelt so groß war wie der nukleare Feuerball. So etwas kann jeden irreführen. Anschließend verursachte die Parkplatzdecke einen weiteren Effekt: Sie strahlte ihre Restwärme sehr rasch ab. Kurz: die Energiesignatur war sehr viel größer, als die tatsächliche Sprengleistung es rechtfertigte. So, und wollen Sie jetzt die schlechte Nachricht hören?« fragte Lowell.

»Meinetwegen.«

»Die Bombe verpuffte nur.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich will damit sagen, daß sie viel stärker hätte sein sollen. Warum, wissen wir nicht. Der Tritiumanteil der Rückstände war sehr hoch. Eigentlich war die Bombe auf eine zehnfach größere Sprengleistung konzipiert.«

»Damit wollen Sie sagen...?«

»Wenn dieses Ding richtig funktioniert hätte...«

»Tja, wir hatten wirklich Glück.«

»Nun, wenn Sie das Glück nennen ...«

Jack verschlief den Großteil des Fluges.

 

Die Maschine landete am nächsten Morgen in Beer Scheba. Vertreter des israelischen Militärs empfingen die Gäste. Die Presse hatte Wind von der Sache bekommen, maß ihr aber keine große Bedeutung bei und wollte auch nicht an einen streng bewachten israelischen Fliegerhorst heran. Vor dem VIP-Gebäude wartete Prinz Ali bin Scheich.

»Hoheit.« Jack neigte den Kopf. »Danke, daß Sie gekommen sind.«

»Hatte ich denn eine andere Wahl?« Ali gab Jack eine Zeitung.

Ryan überflog die Schlagzeilen. »Ja, das konnte nicht lange geheim bleiben.«

»Es ist also wahr?«

»Jawohl, Hoheit.«

»Und Sie haben es verhindert?«

»Verhindert?« Ryan zuckte die Achseln. »Ich weigerte mich einfach – es war eine Lüge. Zu meinem Glück vermutete ich – nein, das stimmt nicht. Das erfuhr ich erst später. Ich wollte nur meinen Namen nicht mit so etwas in Verbindung bringen. Aber das ist ja jetzt unwichtig, Hoheit. Ich habe einiges zu tun. Wollen Sie uns helfen?«

»Sie brauchen nur zu fragen, mein Freund.«

»Iwan Emmettowitsch!« rief Golowko. Und zu Ali: »Königliche Hoheit.«

»Guten Morgen, Sergej Nikolajewitsch. Guten Morgen, Avi.« Der Russe kam mit Avi Ben Jakob an seiner Seite auf sie zu.

»Jack«, sagte Clark. »Suchen wir uns einen günstigeren Platz. Eine Mörsergranate könnte einen Haufen Topspione erledigen.«

»Kommen Sie mit«, sagte Avi und führte sie ins Gebäude. Golowko teilte ihnen mit, was er erfahren hatte.

»Lebt der Mann noch?« fragte Ben Jakob.

»Er leidet Höllenqualen, aber ein paar Tage wird er noch durchhalten.«

»Ich kann nicht nach Damaskus«, sagte Avi.

»Warum haben Sie uns die verlorengegangene Bombe verschwiegen?« fragte Ryan.

»Worauf beziehen Sie sich?«

»Sie wissen, was ich meine. Noch weiß die Presse nichts davon, aber in ein, zwei Tagen wird sie es erfahren. Avi, Sie haben uns nie ein Wort davon gesagt. Wissen Sie, wie wichtig das für uns gewesen wäre?« fragte Ryan.

»Wir nahmen an, sie sei zerschellt und versuchten, nach ihr zu suchen, aber –«

»Geologie«, sagte Dr. Lowell. »Der Golan ist vulkanisch, besteht aus Basaltgesteinen, die eine hohe Hintergrundstrahlung haben. Gegen diese ist ein heißer Fleck nur schwer auszumachen, aber Sie hätten uns trotzdem informieren sollen. Wir bei Livermore kennen ein paar Tricks, von denen nur wenige Leute wissen.«

»Bedaure, aber geschehen ist geschehen«, meinte General Ben Jakob. »Fliegen Sie dann nach Damaskus?«

 

Sie nahmen Prinz Alis Privatmaschine, eine Boeing 727, deren Crew ehemalige Piloten aus dem Geschwader des US-Präsidenten waren. Es war angenehm, erster Klasse zu reisen. Die Mission war geheim, und die Syrer kooperativ. Vertreter der amerikanischen, sowjetischen und saudischen Botschaft nahmen an einer kurzen Besprechung im syrischen Außenministerium teil, und dann fuhr man zur Klinik.

Der Mann war einmal kräftig gewesen, wie Jack sah, aber jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst. Trotz der Sauerstoffzufuhr war seine Haut fast blau. Alle seine Besucher mußten Schutzkleidung tragen, und Jack hielt sich vorsichtshalber im Hintergrund. Ali vernahm den Sterbenden.

»Wissen Sie, warum ich hier bin?«

Der Mann nickte.

»Wenn Sie hoffen, Allah zu sehen, sagen Sie mir jetzt, was Sie wissen.«

 

Die Panzerkolonne der 10. Kavallerie rollte aus der Negev an die libanesische Grenze. Über ihr kreiste eine Staffel F-16 und ein Geschwader Tomcat von USS Theodore Roosevelt. Auch die syrische Armee war in voller Stärke erschienen, aber die syrische Luftwaffe blieb eingedenk der Demonstration amerikanischer Luftmacht im Golfkrieg am Boden. Der Nahe Osten hatte seine Lektion gelernt. Die Machtdemonstration war massiv und unzweideutig und vermittelte die Botschaft: Bleibt uns aus dem Weg. Die Fahrzeuge drangen tief in das kleine, mißhandelte Land ein und erreichten schließlich eine Straße, die in ein Tal führte. Die Stelle war von dem Sterbenden, der den Rest seiner Seele retten wollte, auf der Karte angekreuzt worden. Pioniere fanden nach einer Stunde den Eingang und winkten die anderen erst heran, nachdem sie ihn auf Sprengfallen abgesucht hatten.

»Allmächtiger Gott!« rief Dr. Lowell und leuchtete mit einem starken Scheinwerfer in die Runde. Pioniere durchkämmten den Raum, prüften die Zuleitungen der Maschinen und durchsuchten alle Schubladen, ehe der Rest sich der Tür nähern durfte. Dann ging Lowell an die Arbeit. Er fand Blaupausen, die er mit nach draußen nahm und bei Tageslicht betrachtete.

»Erstaunlich«, sagte er nach einer langen Pause, »mir war nie so richtig klar, wie einfach das ist. Wir gaben uns der Illusion hin, daß man aufwendige Einrichtungen braucht –« Er hielt inne. »Illusion, das ist das richtige Wort.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Die Bombe war auf 500 Kilotonnen konzipiert.«

»Hätte sie wie geplant funktioniert, wären als Urheber nur die Russen in Frage gekommen«, sagte Jack. »Niemand hätte die Katastrophe verhindern können. Wir stünden jetzt nicht hier.«

»Ja, es sieht so aus, als müßten wir unsere Einschätzung der Bedrohung revidieren.«

»Doc, ich glaube, wir haben etwas gefunden«, meldete ein Offizier der Army. Dr. Lowell ging in die Werkstatt und kam dann wieder heraus, um Schutzkleidung anzulegen.

»So stark?« fragte Golowko und starrte auf die Baupläne.

»Die Kerle waren teuflisch schlau. Wissen Sie, wie schwer es mir fiel, den Präsidenten zu überzeugen – Moment, Verzeihung, es gelang mir ja nicht. Wäre die Explosion so stark gewesen, hätte ich der Meldung Glauben geschenkt.«

»Welcher Meldung?« fragte Golowko.

»Können wir mal kurz zum Geschäft kommen?«

»Wenn Sie wollen.«

»Sie haben einen Mann inhaftiert, an dem wir interessiert sind«, sagte Jack.

»Lyalin?«

»Ja.«

»Er hat sein Land verraten und wird dafür büßen müssen.«

»Sergej, zuerst einmal lieferte er uns nichts, was wir gegen Sie einsetzen konnten. Das war seine Bedingung. Wir bekamen nur, was er über sein japanisches Netz DISTEL erfuhr. Zweitens: Wären er und sein Material nicht gewesen, stünden wir jetzt nicht hier. Bitte, lassen Sie ihn frei.«

»Und die Gegenleistung?«

»Wir haben einen Agenten, der uns meldete, Narmonow würde von Ihrem Militär erpreßt, das als Druckmittel fehlende taktische Kernwaffen benutzt. Aus diesem Grund hatten wir den Verdacht, daß die Bombe in Denver von Ihnen kam.«

»Das ist eine Lüge!«

»Er klang sehr überzeugend«, versetzte Ryan. »Fast hätte ich ihm geglaubt. Der Präsident und Dr. Elliot fanden, daß er die Wahrheit sagt, und deshalb ging bei uns alles schief. Ich werfe diesen Kerl gerne den Wölfen vor, aber damit bräche ich ein Versprechen... erinnern Sie sich noch an unser Gespräch in meinem Arbeitszimmer, Sergej? Umsonst bekommen Sie den Namen nicht.«

»Dieser Mann wird erschossen«, versprach Golowko.

»Nein, das dürfen Sie nicht.«

»Wieso?«

»Wir haben ihn kaltgestellt, und ich sage ja nur, daß er uns belogen hat. Wenn er uns falsches Material lieferte, ist selbst in Ihrem Land der Tatbestand der Spionage nicht erfüllt. Lassen Sie ihn lieber am Leben. Den Grund werden Sie schon verstehen, falls wir zu einer Übereinkunft kommen.«

Darüber dachte der erste stellvertretende Vorsitzende einen Augenblick lang nach. »Gut, Sie können Lyalin haben«, sagte er dann. »In drei Tagen. Ich gebe Ihnen mein Wort, Jack.«

»Unser Mann trägt den Codenamen SPINNAKER. Olcg Kirilowitsch -«

»Kadischow? Kadischow

»Sind Sie enttäuscht? Dann sehen Sie das einmal von unserer Warte.«

»Und das ist wirklich die Wahrheit, Ryan? Kein Spiel?«

»Sergej, Sie haben mein Ehrenwort. Meinetwegen können Sie ihn auch erschießen, aber er ist Politiker und hat im Grunde genommen überhaupt nicht spioniert. Lassen Sie sich etwas Kreatives einfallen. Machen Sie ihn irgendwo zum Hundefänger.«

Golowko nickte. »So werden wir es halten.«

»Angenehm, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Sergej. Schade um Lyalin.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ein Jammer, daß die Daten, die er uns – und Ihnen – lieferte, nun ausbleiben. Sie waren sehr wertvoll.«

»So intensiv können wir leider nicht ins Geschäft kommen, Ryan, aber ich bewundere Ihren Sinn für Humor.«

Nun kam Dr. Lowell mit einem Bleieimer in der Hand aus der Werkstatt.

»Was haben Sie da?«

»Vermutlich Plutonium. Wenn Sie es sich aus der Nähe anschauen, könnten Sie so enden wie unser Freund in Damaskus.« Lowell gab einem Soldaten den Eimer und sagte zu dem Kommandeur der Pioniere: »Räumen Sie die Werkstatt aus, verpacken Sie alles und schaffen Sie es in die Staaten. Ich möchte alles untersuchen. Achten Sie darauf, daß nichts zurückbleibt.«

»Jawohl, Sir«, meinte der Colonel. »Die Probe auch?«

Vier Stunden später waren sie in Dimona, der israelischen Kernforschungsanlage, wo ebenfalls ein Gammastrahl-Spektrometer stand. Während Techniker die Analyse durchführten, sah sich Lowell noch einmal die Blaupausen an und schüttelte dabei den Kopf. Sie erinnerten Ryan an das Schaltbild eines Computerchips oder andere komplizierte technische Zeichnungen, die er nicht begriff.

»Das Ding ist klobig und primitiv. Unsere Kernwaffen haben weniger als ein Viertel seiner Größe ... aber wissen Sie, wie lange wir für den Bau einer vergleichbaren Bombe brauchten?« Lowell schaute auf. »Zehn Jahre. Diese Burschen hier schafften das innerhalb von fünf Monaten in einer Höhle. Das nennt man Fortschritt, Dr. Ryan.«

»Ich wußte nicht, daß so etwas möglich ist. Wir hatten immer geglaubt, eine Terroristenwaffe müßte – aber warum hat diese hier versagt?«

»Das lag wahrscheinlich am Tritium. Bei uns gab es in den 50er Jahren zwei Verpuffungen wegen Helium-Kontamination. Das wissen nur wenige Leute. Ich muß mir die Konstruktion näher ansehen und dazu ein Computermodell erstellen, aber auf den ersten Blick wirkt sie kompetent – ah, danke.« Lowell nahm von einem israelischen Techniker den Spektrometrie-Ausdruck entgegen, warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf. »Savannah River, Reaktor K, 1968 – ein sehr gutes Jahr.«

»Das ist das Bombenmaterial? Sind Sie auch ganz sicher?«

»Ja. Die Israelis informierten mich über den Typ der Bombe, die verlorenging, die Plutoniummenge – und abgesehen von den Überresten landete alles hier.« Lowell tippte auf die Baupläne. »Und das war’s. Bis zum nächsten Mal«, fügte er hinzu.

 

Daniel E. Murray, der stellvertretende Direktor des FBI, der sich immer für das Recht und seine Durchführung interessierte, verfolgte die Verhandlung aufmerksam. Seltsam nur, daß Geistliche auftraten statt Anwälte. Aber es klappte trotzdem. Der Prozeß nahm nur einen Tag in Anspruch und war ausgesprochen fair. Auch gegen das Urteil hatte Murray nichts einzuwenden.

 

Sie flogen in Prinz Alis Boeing 727 nach Riad und ließen die Maschine der US-Air Force in Beer Scheba stehen. Das Urteil sollte nicht überhastet gefällt werden. Man mußte sich Zeit für Gebet und Versöhnung nehmen und wollte diesen Fall nicht anders als alltäglichere Prozesse behandeln. Die Menschen hatten also Zeit zur Besinnung, und in Ryans Fall tat sich eine weitere Überraschung auf. Prinz Ali brachte einen Mann in seine Suite.

»Ich bin Mahmoud Hadschi Darjaei«, stellte sich der Besucher überflüssigerweise vor. Jack kannte sein Gesicht aus der CIA-Akte. Er wußte auch, daß Darjaei zum letzten Mal mit einem Amerikaner gesprochen hatte, als der Herrscher des Iran noch Mohammed Resa Pahlawi hicß.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte Ryan. Ali dolmetschte.

»Ist es wahr, was man mir gesagt hat? Ich will wissen, ob es wirklich wahr ist.«

»Jawohl, es ist wahr.«

»Und warum sollte ich Ihnen glauben?« Der Mann war fast siebzig und hatte ein tief zerfurchtes Gesicht und zornige schwarze Augen.

»Warum fragen Sie mich dann?«

»Ihre Unverschämtheit mißfällt mir.«

»Und mir mißfallen Angriffe auf amerikanische Bürger«, versetzte Ryan.

»Sie wissen, daß ich mit dieser Sache nichts zu tun hatte.«

»Ja, das weiß ich jetzt. Würden Sie mir bitte eine Frage beantworten? Hätten Sie die Gruppe unterstützt, wenn Sie darum gebeten worden wären?«

»Nein«, erwiderte Darjaei.

»Und warum sollte ich das glauben?«

»So viele Menschen zu töten, selbst Ungläubige, ist eine Sünde vor Allah.«

»Außerdem wissen Sie nun«, fügte Ryan hinzu, »wie wir auf so etwas reagieren würden.«

»Beschuldigen Sie mich, zu einer solchen Untat fähig zu sein?«

»Sie beschuldigen uns mit schöner Regelmäßigkeit aller möglichen Verbrechen. Aber in diesem Fall irrten Sie.«

»Sie hassen mich.«

»Ich kann nicht behaupten, Sympathie zu empfinden«, gab Jack bereitwillig zu. »Sie sind ein Feind meines Landes. Sie haben die Mörder meiner Mitbürger unterstützt. Ihnen hat der Tod von Menschen gefallen, die Sie noch nicht einmal kannten.«

»Und doch ließen Sie nicht zu, daß Ihr Präsident mich tötete.«

»Das stimmt nicht ganz. Ich hinderte meinen Präsidenten an der Zerstörung der Stadt.«

»Warum?«

»Wie können Sie eine solche Frage stellen, wenn Sie sich wahrhaft für einen Mann Gottes halten?«

»Sie sind ein Ungläubiger!«

»Falsch. Ich glaube an Gott wie Sie, aber auf eine andere Weise. Sind wir denn so verschieden? Prinz Ali ist anderer Ansicht. Fürchten Sie denn so den Frieden zwischen uns? Oder fürchten Sie Dankbarkeit mehr als Haß? Wie auch immer, Sie fragten mich nach dem Grund, und ich will Ihnen eine Antwort geben. Ich sollte am Tod unschuldiger Menschen mitwirken. So einfach war das. Menschen, die ich vielleicht als Ungläubige ansehen sollte. Das wollte ich nicht auf dem Gewissen haben. Ist das so schwer zu verstehen?«

Prinz Ali sagte etwas, das er nicht übersetzte, ein Zitat aus dem Koran vielleicht. Es klang stilisiert und poetisch. Darjaei nickte und wandte sich ein letztes Mal an Ryan.

»Ich will darüber nachdenken. Leben Sie wohl.«

 

Durling nahm zum ersten Mal auf dem Sessel Platz. Arnold van Damm saß ihm gegenüber.

»Das haben Sie geschickt erledigt.«

»Was hätten wir sonst tun können?«

»Wohl nichts. Es ist heute, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und Ryan kümmert sich darum?« fragte Durling und ging seine Zusammenfassungen durch.

»Ja, er schien mir die beste Wahl.«

»Wenn er wieder zurück ist, möchte ich ihn sprechen.«

»Wissen Sie denn nicht, daß er seinen Posten ab heute zur Verfügung gestellt hat?« fragte van Damm.

»Ausgeschlossen!«

»Ryan ist zurückgetreten«, wiederholte Arnie.

Durling wackelte mit dem Zeigefinger. »Richten Sie ihm aus, daß ich ihn im Oval Office sprechen will.«

»Jawohl, Mr. President.«

 

Die Hinrichtungen waren auf Samstag angesetzt, sechs Tage nachdem die Bombe explodiert war. Das Volk versammelte sich, und Kati und Ghosn wurden auf den Marktplatz geführt. Man ließ ihnen Zeit für ein Gebet. Ryan erlebte so etwas zum ersten Mal mit. Murray stand mit steinerner Miene neben ihm. Clark und Chavez behielten zusammen mit einer Gruppe anderer Sicherheitsbeamter vorwiegend die Menge im Auge.

»Irgendwie kommt mir das jetzt belanglos vor«, meinte Ryan, als die Zeremonie begann.

»Falsch! Davon wird die ganze Welt lernen«, erwiderte Prinz Ali feierlich. »Das wird vielen eine Lektion sein. Hier wird der Gerechtigkeit Genüge getan.«

»Erstaunliche Lektion.« Ryan betrachtete die Leute, die mit ihm auf dem Dach standen. Er hatte Zeit zum Nachdenken gehabt und sah nun – was? Er wußte es nicht. Er hatte seine Pflicht getan, aber was war die tiefere Bedeutung? »60 000 Unschuldige, die nicht hätten sterben sollen, stehen für das Ende von Kriegen, die nie hätten geführt werden sollen? Ist das der Gang der Geschichte, Ali?«

»Alle Menschen müssen sterben, Jack. Inschallah, doch nie wieder so viele auf einmal. Sie haben etwas noch Schlimmeres verhindert. Was Sie getan haben, mein Freund ... Allah segne Sie.«

»Ich hätte den Abschußbefehl bestätigt«, sagte Avi ehrlich und fühlte sich dabei unbehaglich. »Und dann? Dann hätte ich mir vielleicht eine Kugel in den Kopf gejagt. Wer weiß? Eines steht für mich fest: Ich hätte nicht den Mut gehabt, nein zu sagen.«

»Und ich auch nicht«, fiel Golowko ein.

Jack schwieg und schaute hinunter auf den Platz. Die erste Exekution hatte er nicht mitbekommen, aber das störte ihn nicht.

Kati war vorbereitet gewesen, aber wie bei so vielen Dingen im Leben wurde die Todessituation von Reflexen gesteuert. Ein Soldat stieß ihn mit der Schwertspitze in die Seite, gerade fest genug, um die Haut anzuritzen. Augenblicklich wölbte Kati den Rücken und reckte dabei unwillkürlich den Hals. Der Hauptmann der saudischen Kommandos schwang bereits das Schwert. Er mußte geübt sein, erkannte Ryan, denn er trennte den Kopf mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit in einem Schlag ab. Er landete einen Meter weiter, und dann brach Katis Körper zusammen. Blut sprudelte aus den durchtrennten Gefäßen. Ryan sah, wie die gefesselten Arme und Beine zuckten, aber auch das war nur ein Reflex. Das Blut schoß weiter rhythmisch heraus, denn Katis Herz schlug noch, ganz so, als wollte es ein Leben erhalten, das bereits erloschen war. Endlich blieb es stehen. Der saudische Hauptmann wischte das Schwert mit einem Ballen Seide sauber, steckte es in die Scheide und schritt durch die Menge, die ihm respektvoll Platz machte.

Das Volk jubelte nicht, sondern war ganz still, tat vielleicht nur einen kollektiven Atemzug. Wessen Seele die gemurmelten Gebete der Frommen galten, wußten nur sie selbst und ihr Gott. Die ersten Reihen zerstreuten sich sofort. Wer weiter hinten gestanden und nichts gesehen hatte. trat an die Absperrung, hielt sich aber nicht auf, sondern ging bald seiner Wege. Nach der vorgeschriebenen Pause würde man die Leichen entfernen und nach den Riten der Religion, die Kati und Ghosn geschändet hatten, beerdigen.

Jack wußte nicht, was er nun empfinden sollte. Er hatte genug Tote gesehen. Doch diese beiden Leichen hier rührten sein Herz überhaupt nicht – eine Tatsache, die ihn verwunderte und zugleich ein wenig besorgte.

»Sie fragten nach dem Gang der Geschichte, Jack«, sagte Ali. »Sie haben gerade miterlebt, wie Geschichte gemacht wird.«

»Wie meinen Sie das?«

»Das brauchen wir Ihnen nicht zu sagen«, erklärte Golowko.

Männer, die versuchten, einen Krieg anzuzetteln, wurden wie gewöhnliche Kriminelle auf dem Marktplatz hingerichtet, dachte Ryan. Ein Präzedenzfall, der nicht übel ist.

»Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht werden es sich die nächsten Terroristen zweimal überlegen«, meinte Ryan und fügte in Gedanken hinzu: Es wäre an der Zeit.

»In allen unseren Ländern«, sagte Ali, »ist das Schwert das Symbol der Gerechtigkeit... vielleicht ein Anachronismus. Es stammt aus einer Zeit, in der die Männer noch ritterlich handelten. Aber ein Schwert hat noch immer seinen Sinn und Zweck.«

»Auf jeden Fall ist es präzise«, merkte Golowko an.

»Und Sie, Jack, haben den Regierungsdienst nun verlassen?« fragte Ali einen Moment später. Ryan hatte sich wie alle anderen von der Szene abgewandt.

»Ja, Hoheit.«

»Gut, dann gelten diese dummen Vorschriften über Geschenke an Amtsinhaber für Sie nicht mehr.« Ali drehte sich um. Wie durch einen Zauber war der Offizier der saudischen Kommandos erschienen. Sein Salut vor dem Prinzen hätte Kipling bccindruckt. Nun kam das Schwert. Die Scheide bestand aus geschmiedetem Gold und war mit Juwelen besetzt. Der Griff war aus Elfenbein und von den starken Händen vieler Generationen abgenutzt. Eindeutig die Waffe eines Königs.

»Das Stück ist 300 Jahre alt«, sagte Ali und drehte sich zu Ryan um. »Meine Vorfahren haben es in Krieg und Frieden getragen. Es hat sogar einen Namen – Abendbrise, besser kann ich es auf englisch nicht ausdrücken; in unserer Sprache bedeutet der Name natürlich noch mehr. Wir wollen es Ihnen zum Geschenk machen, Dr. Ryan, als Erinnerung an alle, die starben, und an jene, die durch Ihr Verdienst noch am Leben sind. Es hat viele Male getötet. Oft genug nun, findet Seine Majestät.«

Ryan nahm das Krummschwert entgegen. Die Scheide trug die Spuren vieler Sandstürme und Schlachten, aber sein Spiegelbild im polierten Gold war nicht so verzerrt, wie er erwartet hatte. Er zog die Klinge ein Stück heraus und stellte fest, daß sie noch die Hammerspuren des damaszenischen Schmieds trug, der sie in ihre tödlich wirksame Form gebracht hatte. Was für ein Widerspruch, dachte Ryan und lächelte unwillkürlich. Welche Ironie. Wie kann ein so herrliches Stück einen so schrecklichen Zweck haben? Und doch –

Er wollte das Schwert behalten, ihm einen Ehrenplatz geben, es von Zeit zu Zeit anschauen und sich erinnern, was es getan hatte, was er getan hatte. Und vielleicht –

»Genug getötet?« Ryan ließ die Klinge zurück in die Scheide gleiten und die Waffe an seine Seite fallen. »Ja, Hoheit, das gilt für uns alle.«