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Robotersoldaten

Es war nicht die Absicht gewesen, sie menschlich wirken zu lassen. Die Männer der Schweizergarde waren allesamt über einsfünfundachtzig groß, und keiner wog weniger als achtzig Kilo. Das Lager der Garde am Stadtrand in einem Komplex, der noch vor zwei Wochen eine jüdische Siedlung gewesen war, verfügte über ein hochmodernes Fitneß-Center, und die Soldaten wurden zum Krafttraining »ermuntert«, bis sich die Haut über ihren Muskeln spannte wie das Fell einer Trommel. Ihre Unterarme waren dicker als die Waden vieler Männer und schon gebräunt. Ihre blauen Augen versteckten die Offiziere hinter dunklen Sonnenbrillen, während die Mannschaften mit getöntem Plexiglas vorliebnahmen.

Die Schweizer trugen Kampfanzüge in einem Tarnmuster aus Schwarz, Weiß und verschiedenen Grautönen, die für den Straßenkampf gedacht waren und sie besonders nachts auf gespenstische Weise mit den Natursteinen und dem weißen Stuck in Jerusalem verschmelzen ließen. Auch ihre Stiefel und Helme aus Kevlar waren so camoufliert, und die kugelsicheren Westen amerikanischer Herkunft, die sie über den Uniformen trugen und damit noch massiger aussahen, waren ebenso gemustert. Jeder Soldat trug vier Splitterhandgranaten, zwei Nebelhandgranaten, Feldflasche, Verbandspäckchen und zwei Beutel Munition – Gesamtgewicht rund zwölf Kilo.

Sie patrouillierten in fünfköpfigen Trupps durch die Stadt, jeweils ein Unteroffizier und vier Gefreite; jede Schicht bestand aus zwölf solcher Teams. Jeder Mann trug ein Sturmgewehr SIG. Zwei davon waren für das Verschießen von Panzergranaten ausgerüstet. Der Unteroffizier trug darüber hinaus eine Pistole, und zwei Mitglieder jedes Trupps hatten Funkgeräte. Die Gruppen waren in stetigem Funkkontakt und übten regelmäßig die gegenseitige Unterstützung.

Die eine Hälfte der Mannschaft einer Schicht ging zu Fuß, die andere fuhr langsam und bedrohlich wirkend in amerikanischen HMMWV Streife. Dabei handelte es sich um einen überdimensionierten Jeep, der im Golfkrieg bekannt geworden war. Die Geländefahrzeuge waren teils mit MG, teils mit sechsläufigen Schnellfeuerkanonen ausgerüstet und mit Kevlar gepanzert. Auf den herrischen Ton ihrer Hupe hin machte alles Platz.

Auf ihrem Stützpunkt standen mehrere gepanzerte Fahrzeuge britischer Bauart, die die engen Straßen der uralten Stadt nur mit Mühe passieren konnten. Rund um die Uhr war auch dort ein von einem Hauptmann befehligter Zug in Bereitschaft, quasi das Überfallkommando. Zu seiner Ausrüstung gehörten Panzerfäuste wie die schwedische M-2, das richtige Gerät, um Löcher in jedes Haus zu schießen. Diese Einheit wurde von Pionieren reichlich mit Sprengstoffvorräten unterstützt; die »Pioniere« übten demonstrativ und sprengten von Israel aufgegebene Siedlungen in die Luft. Das ganze Regiment praktizierte hier seine destruktiven Fertigkeiten und ließ Neugierige aus sicherem Abstand zusehen; das Ganze entwickelte sich rasch zu einer echten Touristenattraktion. Araber bedruckten T-Shirts mit der Aufschrift ROBO-SOLDIER!, die reißenden Absatz fanden.

Die Männer der Schweizergarde lächelten nicht und beantworteten auch keine Fragen; das fiel ihnen nicht schwer. Journalisten wurden gebeten, sich an Oberst Jacques Schwindler zu wenden, den Kommandeur, und durften gelegentlich in der Kaserne oder bei Übungen mit niederen Dienstgraden sprechen, aber nie auf der Straße. Manche Kontakte mit Einheimischen waren natürlich unvermeidlich. Die Soldaten lernten die Grundzüge des Arabischen, und für die nichtarabischen Einwohner genügte Englisch. Sie ahndeten gelegentlich Verstöße gegen die Verkehrsregeln, obwohl dies eigentlich die Aufgabe der Zivilpolizei war, die gerade mit Unterstützung der Israelis, die sich aus dieser Funktion zurückzogen, gebildet wurde. Nur ganz selten mußte ein Schweizer bei einer Schlägerei oder einem anderen Zwischenfall eingreifen. Meist reichte schon die reine Präsenz eines Fünfertrupps aus, um die Leute zu respektvollem Schweigen und anständigem Auftreten zu bringen. Der Auftrag der Schweizergarde war Einschüchterung, und die Bevölkerung erkannte schon nach wenigen Tagen, wie effektvoll sie ihn ausführte. Gleichzeitig aber bestand ihre Mission nicht nur aus ihrer physischen Anwesenheit.

Auf der rechten Schulter trugen die Männer einen Aufnäher in Form eines Schilds. Die Schweizer Flagge in seiner Mitte wies auf die Herkunft der Soldaten hin. Umringt war sie von der Mondsichel und dem Stern des Islam, dem Davidsstern und dem Kreuz. Es existierten drei Versionen dieses Aufnähers, so daß jedes religiöse Symbol einmal zuoberst erschien, und sie wurden nach dem Zufallsprinzip ausgegeben. Die Schweizer Flagge blieb in der Mitte zum Zeichen, daß sie alle drei Konfessionen gleichermaßen schützte.

Die Soldaten traten den religiösen Führern mit Respekt entgegen. Oberst Schwindler traf täglich mit der Troika zusammen, die die Stadt regierte. Allgemein glaubte man, daß sie allein die Politik bestimmte, aber Schwindler war ein kluger, aufmerksamer Mann, dessen Anregungen der Imam, der Rabbi und der Patriarch von Anfang an großes Gewicht beigemessen hatten. Schwindler hatte auch die Hauptstädte aller Länder des Nahen Ostens besucht. Die Schweizer hatten in ihm, der als der beste Offizier ihrer Armee galt, eine gute Wahl getroffen; er stand in dem Ruf, ein ehrlicher und kompromißlos fairer Mann zu sein. In seinem Dienstzimmer hing ein Säbel mit Goldgriff, ein Geschenk des Königs von Saudi-Arabien, und auf dem Stützpunkt der Garde stand ein prächtiger Vollbluthengst. Leider konnte Schwindler nicht reiten.

Die Troika verwaltete also die Stadt und tat das tüchtiger, als man zu hoffen gewagt hatte. Ihre Mitglieder, nach Kriterien der Gelehrsamkeit und Frömmigkeit ausgesucht, respektierten einander rasch. Man war übereingekommen, daß jeweils wöchentlich ein Mitglied einen öffentlichen Gottesdienst hielt, dem die beiden anderen beiwohnten, um den Respekt zu erweisen, der ihrem gemeinsamen Unterfangen zugrunde lag. Dieser Vorschlag, der von dem Imam stammte, hatte sich überraschenderweise als die effektivste Methode zur Beilegung ihrer internen Meinungsverschiedenheiten erwiesen und diente auch den Stadtbewohnern als Beispiel. Konflikte brachen durch diese Konstruktion immer nur zwischen zwei Mitgliedern aus, und in solchen Fällen schlichtete der unbeteiligte Dritte. Eine friedliche und vernünftige Lösung war in aller Interesse. »Gott der Herr« – gegen diese Bezeichnung hatte keiner der drei Vorbchalte – verlangte guten Willen von ihnen, und nach anfänglichen Schwierigkeiten herrschte er auch. Nach der Beilegung eines Disputs über den Zugang zu einem Heiligtum merkte der griechische Patriarch beim Kaffee an, dies sei das erste Wunder, das er erlebt habe. Nein, versetzte der Rabbi, es sei doch kein Wunder, wenn Gottesmänner nach ihren Glaubensgesetzen handelten. Nach allen gleichzeitig? hatte der Imam lächelnd gefragt und hinzugefügt, man habe für dieses kleine Wunder immerhin ein Millennium gebraucht. Fangen wir bloß keinen neuen Streit über die Beilegung eines alten an, hatte der Grieche mit einem dröhnenden Lachen gewarnt – sagt mir lieber, wie ich mit meinen Glaubensbrüdern fertigwerde!

Wenn auf der Straße ein Geistlicher dem Vertreter einer anderen Religion begegnete, begrüßte man sich, um allen ein Beispiel zu geben. Die Männer der Schweizergarde grüßten alle Gottesmänner und nahmen vor den höchsten ihre Brillen oder Helme ab.

Das war die einzige Geste, die ihnen erlaubt war. In der Stadt ging die Rede, daß sie noch nicht einmal schwitzten.

»Gespenstische Typen«, bemerkte Ryan, der in Hemdsärmeln an einer Straßenecke stand. Amerikanische Touristen knipsten. Juden guckten noch ein wenig verärgert. Araber lächelten. Christen, die durch die zunehmende Gewalt zum größten Teil aus Jerusalem vertrieben worden waren, kehrten nach und nach zurück. Alles machte hastig Platz, als die fünf Männer flott die Straße entlangmarschierten und die behelmten Köpfe hin- und herdrehten. »Sie sehen wirklich wie Roboter aus.«

»Es hat seit der ersten Woche nicht einen einzigen Angriff auf sie gegeben«, sagte Avi.

»Mit denen würde ich mich auch nicht gern einlassen«, bemerkte Clark leise.

In der ersten Woche hatte ein arabischer Jugendlicher bei einem Straßenraub eine ältere Jüdin erstochen, ohne politische Motive. Er hatte den Fehler begangen, dies in Sichtweite eines Schweizers zu tun, der ihn eingeholt und wie im Film mit Karateschlägen außer Gefecht gesetzt hatte. Der Araber war vor die Troika gebracht worden, wo man ihn vor die Wahl stellte, entweder vor ein israelisches oder vor ein islamisches Gericht zu kommen. Er entschied sich für einen Prozeß unter der Scharia, sein zweiter Fehler. Nachdem seine Verletzungen in einem israelischen Krankenhaus ausgeheilt waren, kam er vor ein Gericht unter Imam Ahmed bin Yussif und wurde nach islamischem Recht verurteilt. Später brachte man ihn nach Saudi-Arabien, wo er in aller Öffentlichkeit geköpft wurde. Ryan fragte sich, wie Prävention auf hebräisch, griechisch und arabisch hieß. Die Israelis waren von der Geschwindigkeit und Strenge des Urteils verblüfft, während die Moslems nur mit den Schultern zuckten und meinten, der Koran sei eben auch ein strenges Strafgesetzbuch, das sich über die Jahre als sehr wirksam erwiesen habe.

»Sie sind über diese Regelung immer noch nicht ganz froh, nicht wahr?«

Avi runzelte die Stirn. Ryan zwang ihn nun, entweder seine persönliche Meinung zu sagen – oder die Wahrheit. »Man fühlt sich sicherer, seit die Schweizer hier sind ... und was ich jetzt sage, bleibt unter uns, Ryan.« Die Wahrheit hatte die Oberhand gewonnen.

»Aber sicher.«

»Es mag zwar noch ein paar Wochen dauern, aber mein Volk wird die Vorteile erkennen. Bei den Arabern sind die Schweizer beliebt, und Friede herrscht auf den Straßen nur, wenn die Araber zufrieden sind. So, würden Sie mir nun bitte etwas verraten?« Daraufhin machte Clark eine leichte Kopfbewegung.

»Mal sehen«, meinte Ryan und schaute die Straße entlang.

»Was hatten Sie mit der Sache zu tun?«

»Gar nichts«, erwiderte Jack so kalt und mechanisch, wie die Gangart der Soldaten war. »Das Ganze war Charlie Aldens Idee. Ich fungierte nur als Bote.«

»Das macht Elizabeth Elliot aller Welt weis.« Mehr brauchte Avi nicht zu sagen.

»Sie hätten mir die Frage nicht gestellt, wenn Sie die Antwort nicht wüßten. Warum fischen Sie also?«

»Sehr elegant.« General Ben Jakob setzte sich, winkte dem Kellner und bestellte zwei Bier, ehe er weitersprach. Clark und der zweite Leibwächter tranken nicht. »Ihr Präsident hat uns mit seiner Drohung, die Waffenlieferungen zu stoppen, zu sehr unter Druck gesetzt.«

»Gewiß, er hätte etwas behutsamer vorgehen können, aber ich bestimme die Politik nicht, Avi. Den Prozeß hat Israel selbst ausgelöst, als die Demonstranten erschossen wurden. Das weckte bei uns Erinnerungen an Episoden aus unserer eigenen Geschichte, an die wir lieber nicht denken, und neutralisierte Ihre Lobby im Kongreß. Vergessen Sie nicht, daß viele dieser Leute auf der Seite der Bürgerrechtsbewegung standen. Sie haben uns in Zugzwang gebracht, Avi. Außerdem...« Ryan hielt abrupt inne.

»Außerdem?«

»Kann die Sache Erfolg haben, Avi. Sehen Sie sich doch nur um!« sagte Jack, als das Bier kam. Er war so durstig, daß er sein Glas mit dem ersten Schluck zu einem Drittel leerte.

»Es bestehen geringe Chancen«, räumte Ben Jakob ein.

»Ihre Informationen über Syrien sind besser als unsere«, betonte Ryan. »Wie ich höre, äußert man sich dort inzwischen positiv über das Abkommen, wenn auch ganz diskret. Habe ich recht?«

»Wenn’s wahr ist«, grunzte Avi.

»Wissen Sie, was solche positiven Informationen so problematisch macht?«

Ben Jakob starrte nachdenklich eine Wand an. »Daß man sie nicht glauben will?«

Jack nickte. »Und da sind wir Ihnen gegenüber im Vorteil. Wir haben das hinter uns.«

»Wohl wahr, aber die Sowjets proklamierten nicht zwei Generationen lang die Absicht, Sie vom Erdboden zu tilgen. Richten Sie Ihrem Präsidenten Fowler aus, daß solche Bedenken nicht so leicht zu zerstreuen sind.«

Jack seufzte. »Das habe ich längst getan, Avi. Ich bin nicht Ihr Feind.«

»Aber auch nicht mein Verbündeter.«

»Wieso nicht? Das Abkommen ist in Kraft, wir sind Alliierte. Es ist meine Aufgabe, General, meiner Regierung Informationen und Analysen zu liefern. Die Politik wird von Leuten gemacht, die über mir stehen und klüger sind«, fügte Ryan trocken hinzu.

»Wirklich? Und wer sind die?« General Ben Jakob lächelte den jüngeren Mann an und senkte seine Baß-Stimme. »Sie sind nun seit knapp zehn Jahren beim Nachrichtendienst, Jack. Die U-Boot-Affäre, die Geschichte in Moskau, Ihre Rolle bei der letzten Wahl...«

Ryan bemühte sich vergeblich, Beherrschung zu zeigen. »Herr Jesus, Avi!« rief er und fragte sich: Woher weiß er das?

»Ein Verstoß gegen das erste Gebot, Dr. Ryan«, spottete der stellvertretende Chef des Mossad. »Wir sind hier in der Stadt Gottes. Passen Sie auf, sonst werden Sie von den Schweizern erschossen. Sie können der reizenden Miß Elliot ausrichten, daß wir bei den Medien immer noch Freunde haben. Wenn sie zu viel Druck macht, könnte eine solche Story ...«

»Avi, wenn Ihre Leute Liz darüber informieren, wird sie nicht wissen, worüber sie reden.«

»Mumpitz!« schnaubte General Ben Jakob.

»Sie haben mein Wort.«

Nun war der General überrascht. »Das kann ich kaum glauben.«

Jack leerte sein Glas. »Avi, mehr kann ich nicht sagen. Haben Sie jemals an die Möglichkeit gedacht, daß Ihre Informationen aus einer nicht ganz zuverlässigen Quelle stammen könnten? Eines kann ich Ihnen sagen: Von dem, was Sie eben angedeutet haben, weiß ich persönlich nichts. Wenn es einen Kuhhandel gegeben haben sollte, wurde ich herausgehalten. Schön, ich habe Grund zu der Annahme, daß sich etwas getan hat, und könnte sogar Spekulationen anstellen, aber wenn ich jemals vor den Richter kommen sollte und Fragen beantworten muß, kann ich nur sagen, daß ich von nichts weiß. Und Sie, mein Freund, können eine Person nicht mit Informationen erpressen, die sie nicht kennt. Es bedürfte einiger Überredungskunst, sie davon zu überzeugen, daß sich überhaupt etwas Entsprechendes getan hat.«

»Moores und Ritters Plan war genial, nicht wahr?«

Ryan stellte sein leeres Glas auf den Tisch. »So etwas gibt es nur im Film, General, aber nicht im wirklichen Leben. Mag sein, daß Ihre Information etwas dünn ist. Das sind spektakuläre Meldungen oft. Die Realität hinkt der Kunst hinterher.« Geschickt pariert, dachte Ryan und grinste. Ein Punkt für ihn.

»Dr. Ryan, 1972 veranstaltete die japanische Rote Armee im Auftrag des Schwarzen September der PLO auf dem Flughafen Ben Gurion ein Massaker, dem vorwiegend Pilger aus Puerto Rico zum Opfer fielen. Der einzige Terrorist, den unsere Sichcrheitskräfte lebend fassen konnten, erklärte beim Verhör, daß seine toten Genossen und ihre Opfer sich in Sterne am Himmel verwandeln würden. Im Gefängnis trat er zum Judaismus über und biß sich sogar die Vorhaut ab, was allerhand über seine physische und psychische Beweglichkeit aussagt«, erklärte General Ben Jakob gelassen. »Erzählen Sie mir also nicht, eine Sache sei zu verrückt, um wahr zu sein. Ich bin nun seit über zwanzig Jahren beim Geheimdienst, und sicher ist für mich nur eins: Ich habe längst noch nicht alles gesehen.«

»Avi, so paranoid bin selbst ich nicht.«

»Ihr Volk mußte keinen Holocaust erleben, Dr. Ryan.«

»Ich bin irischer Abstammung. Zählen Cromwells grausame Strafexpedition und die große Hungersnot von 1846 etwa nicht? Steigen Sie von Ihrem hohen Roß, General. Wir stationieren US-Truppen in Israel. Wenn es zum Krieg kommt, fließt amerikanisches Blut im Negev, auf dem Golan oder sonstwo.«

»Gesetzt den Fall ...«

»Avi, wenn dieser Fall eintritt, fliege ich höchstpersönlich hierher. Ich war früher bei den Marines. Sie wissen, daß ich schon unter Feuer war. Solange ich lebe, wird es keinen zweiten Holocaust geben. Das läßt mein Volk, meine Regierung nicht zu. Wenn nötig, werden Amerikaner für dieses Land sterben.«

»Das haben Sie zu Südvietnam auch gesagt.« Als Ben Jakob sah, daß Clarks Augen bei dieser Bemerkung blitzten, fragte er ihn: »Haben Sie etwas zu sagen?«

»General, ich bin kein großes Tier, sondern nur ein glorifiziertes Frontschwein. Aber ich habe lange Gefechtserfahrung und muß Ihnen sagen, Sir, daß ich Angst bekomme, wenn ich sehe, wie Ihr Land unsere Fehler wiederholt. Wir haben aus der Vietnam-Erfahrung gelernt. Und was Dr. Ryan sagt, stimmt: Er käme wirklich, wenn Not am Mann ist. Und auf mich könnten Sie auch rechnen«, sagte Clark leise und beherrscht.

»Auch ein Marine?« fragte Avi leichthin, obwohl er wußte, daß Clark ein SEAL gewesen war.

»So etwas Ähnliches«, erwiderte Clark. »Und ich bin auch nicht aus der Übung gekommen«, fügte er lächelnd hinzu.

»Und Ihr Kollege?« Avi wies auf Chavez, der lässig an der Ecke stand und die Straße im Auge behielt.

»Der Mann ist so gut wie ich, als ich so alt war wie er. Und die Jungs von der Zehnten Kavallerie sind ebenfalls erstklassig. Aber dieses Kriegsgerede ist Quatsch, das wissen Sie doch beide. Wenn Sie an Sicherheit interessiert sind, regeln Sie erst einmal Ihre internen Probleme. Der Frieden folgt dann wie der Regenbogen aufs Gewitter.«

»Aus Fehlern lernen ...«

»Als wir aus Vietnam abzogen, blieb eine sechstausend Meilen breite Pufferzone. Von hier aus ist es nur ein Katzensprung zum Mittelmeer. Lernen Sie also aus unseren Fehlern. Zum Glück haben Sie bessere Chancen für echten Frieden als wir damals.«

»Aber den Frieden auferlegt zu bekommen ...«

»Sir, wenn es klappt, werden Sie uns dankbar sein. Wenn nicht, stehen wir Ihnen massiv zur Seite, falls es knallt.« Clark bemerkte, daß Chavez sich unauffällig von seinem Posten auf der anderen Straßenseite entfernt hatte und nun ziellos dahinschlenderte wie ein Tourist...

»Sie eingeschlossen?«

»Jawohl«, erwiderte Clark, der nun hellwach war und die Passanten musterte. Was hatte Chavez entdeckt? Was hatte er selbst übersehen?

 

Wer sind diese Leute? fragte sich Ghosn. Den Brigadegeneral Abraham Ben Jakob, stellvertretender Direktor des Mossad, erkannte er nach einer Sekunde; er hatte den Mann auf einem Bild gesehen. Er sprach mit einem Amerikaner. Wer ist das wohl? Ghosn wandte langsam und unauffällig den Kopf,. Der Amerikaner mußte mehrere Leibwächter haben, darunter den Mann in seiner Nähe. Finsterer Typ, recht alt schon ... vielleicht Ende Vierzig. Er wirkte hart und sehr wachsam. Man kann seine Miene kontrollieren, aber nicht die Augen. Ah, nun setzte er die Sonnenbrille wieder auf. Er konnte nicht der einzige sein. Es mußten mehrere in der Gegend herumschleichen, israelisches Sicherheitspersonal dazu. Ghosn wußte, daß er die Gruppe etwas zu lange angestarrt hatte, aber ...

»Hoppla!« Ein Mann, etwas kleiner und schlanker als er, war mit ihm zusammengestoßen. Dunkle Haut, vielleicht sogar ein Araber, aber er hatte englisch gesprochen. Der Kontakt war schon wieder vorbei, ehe Ghosn merkte, daß er rasch und geschickt abgetastet worden war. »Sorry.«Der Mann entfernte sich. Ghosn wußte nicht, ob er es mit einem normalen Passanten oder einem israelischen Leibwächter zu tun gehabt hatte. Wie auch immer, er war ja unbewaffnet und trug noch nicht einmal ein Taschenmesser bei sich, sondern nur eine Einkaufstasche mit Büchern.

 

Clark sah Ding mit einer ganz normalen Geste – er schien ein Insekt von seinem Hals zu verjagen – Entwarnung geben. Warum dann der Blickkontakt der Zielperson – jeder, der sich für seinen Schutzbefohlenen interessierte, war ein Ziel –, warum war der Fremde stehengeblieben und hatte sie angeschaut? Clark drehte sich um. Zwei Tische weiter saß ein hübsches Mädchen. Keine Einheimische; der Sprache nach Holländerin. Sehr attraktiv und ein Magnet für Männerblicke. Vielleicht hatte die Aufmerksamkeit des Fremden ihr gegolten. Beim Personenschutz war die Grenze zwischen Aufmerksamkeit und Verfolgungswahn immer fließend, selbst wenn man das taktische Umfeld kannte, und Clark war Jerusalem fremd. Andererseits hatten sie ihren Weg und das Restaurant aufs Geratewohl gewählt. Kaum jemand konnte also in Erfahrung gebracht haben, daß Ryan und Ben Jakob sich hier umsahen, und keine Organisation hatte genug Personal, um eine ganze Stadt abzudecken, von den russischen Sicherheitskräften in Moskau vielleicht abgesehen. Trotzdem: warum der Blickkontakt?

Nun denn. Clark prägte sich das Gesicht ein und speicherte es zu Hunderten anderen in seiner internen Datenbank ab.

 

Ghosn setzte seine Streife fort. Er hatte alle erforderlichen Bücher besorgt und observierte nun die Schweizer Soldaten, wie sie sich bewegten, wie zäh sie aussahen. Avi Ben Jakob, dachte er, eine verpaßte Gelegenheit. Solche Ziele boten sich nicht jeden Tag. Er schritt weiter übers Kopfsteinpflaster und schaute scheinbar ziel- und ausdruckslos in die Runde. Er nahm sich vor, in die nächste Seitenstraße einzubiegen, seine Schritte zu beschleunigen und vor den Schweizern die nächste Kreuzung zu erreichen. Was er in ihnen sah, mußte er bewundern; gleichzeitig bereute er, dem Anblick ausgesetzt gewesen zu sein.

 

»Prima gemacht«, sagte Ben Jakob zu Clark. »Ihr Untergebener ist gut ausgebildet.«

»Er macht sich ordentlich.« Clark beobachtete, wie Ding im Bogen auf seinen Posten auf der gegenüberliegenden Straßenseite zurückkehrte. »Haben Sie den Mann erkannt?«

»Nein. Wahrscheinlich haben meine Leute ein Bild von ihm. Wir werden es überprüfen, aber vermutlich handelte es sich um einen jungen Mann mit normalem Hormonspiegel.«

Ben Jakob machte eine Kopfbewegung in die Richtung der Holländerin.

Clark war überrascht, daß die israelischen Leibwächter nicht eingegriffen hatten. Eine Einkaufstasche konnte alles mögliche enthalten, in dieser Umgebung wohl eher Negatives. Er haßte diese Arbeit. Auf sich selbst aufzupassen war eine Sache – er blieb grundsätzlich mobil, wählte seinen Kurs willkürlich, änderte die Gangart, hielt immer die Augen nach Fluchtrouten oder potentiellen Hinterhalten offen. Ryan aber, der zwar ähnliche Instinkte hatte und taktisch recht flink war, verließ sich nach Clarks Geschmack viel zu sehr auf seine Leibwächter.

»Und sonst, Avi?« fragte Ryan.

»Die ersten Einheiten Ihrer Kavallerie richten sich gerade ein. Unseren Panzersoldaten ist Ihr Colonel Diggs sympathisch. Nur das Regimentswappen finde ich etwas sonderbar. Ein Bison ist doch im Grunde nur eine wilde Kuh.« Avi lachte in sich hinein.

»Ein Büffel ist wie ein Panzer, Avi. Es ist unklug, sich vor ihn zu stellen.« Ryan hätte gern gewußt, was passierte, wenn die Zehnte Kavallerie zum ersten Mal als Manövergegner gegen die Israelis antrat. Bei der US-Army war man weithin der Ansicht, daß die Israelis überbewertet waren, und Diggs galt als aggressiver Taktiker.

»Ich kann wohl dem Präsidenten melden, daß die Lage hier sehr vielversprechend aussieht.«

»Zu Schwierigkeiten wird es trotzdem kommen.«

»Gewiß, Avi. Das Millennium kommt erst in ein paar Jahren«, bemerkte Jack. »Hatten Sie denn wirklich erwartet, daß alles reibungslos klappt?«

»Nein«, gab Ben Jakob zu und holte Geld für die Rechnung aus der Tasche. Dann erhoben sich beide. Clark ging über die Straße zu Chavez.

»Nun, was war das?«

»Nur dieser eine Typ. Große Einkaufstasche, aber es waren offenbar nur Bücher drin, Lehrbücher übrigens. In einem steckte noch die Quittung. Ausgerechnet über Nuklearphysik! Jedenfalls ein Titel, den ich lesen konnte. Ein Riesenwälzer. Na, vielleicht studiert der Typ. Und die Kleine da drüben ist Klasse.«

»Wir sind im Dienst, Mr. Chavez«, mahnte Clark.

»Kein Problem, die ist nicht mein Typ.«

»Was halten Sie von den Schweizern?«

»Echt brutal. Mit denen lege ich mich nur an, wenn ich den Zeitpunkt und das Gelände wählen darf.« Chavez machte eine Pause. »Haben Sie gemerkt, wie der Typ die Schweizer anstarrte?«

»Nein.«

»Es sah so aus ... als wüßte er genau ...« Domingo Chavez hielt inne. »Klar, die Leute hier kriegen viele Soldaten zu sehen, aber der Typ hat sie ganz fachmännisch gemustert. Deswegen fiel er mir zuerst auf, noch ehe er Sie und den Doc anstarrte. Er hatte einen intelligenten Blick, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Was fiel Ihnen sonst noch auf?«

»Straffer Gang, schien einigermaßen fit zu sein. Weiche Hände, offenbar kein Soldat. Dem Alter nach vielleicht noch Student.« Chavez machte wieder eine Pause. Jesucristo! Die Paranoia in diesem bescheuerten Job! »Er war unbewaffnet und seinen Händen nach kein Karatekämpfer. Er ging nur die Straßen entlang, beguckte sich die Schweizer, glotzte zum Chef und seinem Freund hinüber und marschierte dann weiter. Ende.« Manchmal bereute Chavez seinen Entschluß, die Army verlassen zu haben. Dort hätte er inzwischen sein Diplom in der Tasche und wäre Offizier. Statt dessen büffelte er in einem Abendkurs und spielte tagsüber Ryans Kettenhund. Zum Glück war der Doc ein angenehmer Mann, und die Zusammenarbeit mit Clark war ... interessant. Aber wer für den Dienst arbeitete, führte ein seltsames Leben.

»Auf geht’s«, sagte Clark.

»Ich gehe voraus.« Ding tastete nach der Automatic unter seinem weiten Hemd. Die israelischen Leibwächter hatten sich schon in Bewegung gesetzt. Ghosn erwischte sie wie geplant, und zwar mit der unfreiwilligen Unterstützung der Schweizer. Ein älterer islamischer Geistlicher hatte den Unteroffizier der Streife angehalten, aber es gab Probleme mit der Verständigung; der Imam konnte kein Englisch, und mit dem Arabisch des Schweizers war es noch nicht weit her. Diese Gelegenheit ließ sich Ghosn nicht entgehen.

»Verzeihung«, sagte er zu dem Imam, »kann ich Ihnen behilflich sein?« Er nahm einen Wortschwall in seiner Muttersprache auf und wandte sich an den Soldaten.

»Der Imam ist aus Saudi-Arabien und war seit seiner Jugend nicht mehr in Jerusalem. Er möchte den Weg zum Gebäude der Troika wissen.«

Sowie der Feldwebel erkannte, daß er einen Geistlichen von hohem Rang vor sich hatte, setzte er den Helm ab und neigte respektvoll den Kopf. »Sagen Sie ihm bitte, es es ist uns eine Ehre, ihn zu begleiten.«

»Ah, da sind Sie!« rief eine andere Stimme in einem hart klingenden, aber eleganten Arabisch. Der Mann, offenbar ein Israeli, begrüßte den Feldwebel auf englisch.

»Guten Tag, Rabbi Ravenstein. Kennen Sie diesen Mann?« fragte der Soldat.

»Das ist der Imam Mohammed Al Faisal, ein angesehener Historiker aus Medina.«

»Geht es wirklich so reibungslos, wie ich hörte?« fragte Al Faisal den Rabbi.

»Ja, es funktioniert bestens«, erwiderte Ravenstein.

»Wie bitte?« fragte Ghosn dazwischen.

»Wer sind Sie?« wollte Ravenstein wissen.

»Ich bin Student und wollte nur dolmetschen.«

»Aha«, meinte Ravenstein. »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. Der Imam möchte sich ein Manuskript ansehen, das wir bei einer Ausgrabung gefunden haben. Es handelt sich um den Kommentar eines islamischen Gelehrten zu einer Tora aus dem zehnten Jahrhundert. Ein sensationeller Fund. Ich kümmere mich jetzt um unseren Gast«, sagte er zu dem Feldwebel und fügte an Ghosn gewandt hinzu: »Ich danke Ihnen, junger Mann.«

»Brauchen Sie eine Eskorte?« fragte der Soldat. »Wir gehen in diese Richtung.«

»Danke, aber wir sind zu alt, um mit Ihnen Schritt halten zu können.«

Der Feldwebel salutierte, verabschiedete sich und führte seine Männer weiter. Die wenigen Passanten, die die Begegnung miterlebt hatten, lächelten.

»Der Kommentar ist von Al Kalda und scheint sich auf die Werke des Nuchem von Akko zu beziehen«, erklärte Ravenstein. »Das Dokument ist unglaublich gut erhalten.«

»Dann muß ich es unbedingt sehen!« Die beiden Gelehrten gingen weiter, so schnell ihre alten Beine sie trugen, und hatten ihre Umgebung ganz vergessen.

Ghosns Miene blieb unverändert. Vor den Soldaten aus der Schweiz, die schon fast die nächste Querstraße erreicht hatten und einen Rattenschwanz kleiner Kinder hinter sich herzogen, hatte er sich bewußt liebenswürdig verhalten. Nun war er diszipliniert genug, um eine Ecke zu biegen und in einer engen Gasse zu verschwinden. Aber was er gesehen hatte, fand er katastrophal.

Mohammed Al Faisal, einer der fünf bedeutendsten islamischen Gelehrten, war ein hochgeachteter Historiker und Mitglied des Hauses Saud, eine Tatsache, die er bescheiden herunterspielte. Wäre er nicht fast achtzig gewesen, hätte man ihn wahrscheinlich in die regierende Troika berufen. Aber man hatte ihn auch übergangen, weil ein Gelehrter palästinensischer Abstammung politisch opportuner gewesen war. Sollte nun auch dieser Mann, der gewiß kein Freund Israels und der konservativen Vertreter der saudischen Geistlichkeit war, von dem Abkommen angetan sein?

Schlimmer noch war der Respekt, den die Schweizer ihm erwiesen hatten. Das allerschlimmste aber war, wie höflich der Rabbi zu ihm gewesen war. Die Leute auf der Straße, fast alle Palästinenser, hatten die Szene amüsiert mit angesehen und... toleriert? Fand die neue Regelung ihre Anerkennung, als sei sie die natürlichste Sache der Welt? Die Israelis hatten immer schon vorgegeben, ihre arabischen Nachbarn zu respektieren, aber das war ein reines Lippenbekenntnis gewesen, ein leeres Versprechen.

Ravenstein hatte natürlich eine Ausnahme dargestellt. Als Gelehrter, der in seiner eigenen Welt der toten Dinge und Ideen lebte, hatte er oft zur Mäßigung im Umgang mit den Arabern geraten und bei seinen Ausgrabungen Moslems konsultiert... und nun...

Nun war er eine Art psychologisches Bindeglied zwischen der jüdischen und der arabischen Welt. Menschen wie er machten also weiter wie bisher, stellten aber keine Ausnahme mehr dar.

Der Friede war möglich. Er konnte kommen. Er war kein verrückter Traum mehr, den Außenstehende der Region aufzwingen wollten. Erstaunlich, wie rasch sich das Volk der Umstellung anpaßte. Israelis verließen ihre Siedlungen. Die Schweizer hatten schon eine besetzt und mehrere andere abgebrochen. Die saudische Kommission hatte begonnen, Grundstücke an ihre rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. Am Stadtrand sollte eine von Saudi-Arabien finanzierte große arabische Universität entstehen. Wie schnell alles ging! Der israelische Widerstand war schwächer als erwartet. In einer Woche, hatte er gehört, sollte der Touristenstrom einsetzen – die Hotelbuchungen gingen so rasch ein, wie es die Kapazitäten der Satellitenverbindungen zuließen. Zwei riesige Herbergen waren bereits in der Planung, und die Einnahmen allein aus dem Tourismus würden gewaltige Gewinne für die palästinensische Wirtschaft bedeuten. Die Palästinenser hatten ihren totalen politischen Sieg über Israel erklärt und kollektiv beschlossen, im Triumph großmütig zu bleiben – das war für sie, die in der arabischen Welt den besten Geschäftssinn hatten, finanziell am günstigsten.

Aber Israel bestand weiter.

Ghosn blieb vor einem Straßencafe stehen, setzte seine Tasche ab und bestellte einen Saft. Während er wartete, betrachtete er die Passanten in der engen Gasse. Er sah Juden und Moslems. Bald würden Touristen die Stadt überfluten; die erste Welle hatte die Flughäfen bereits erreicht. Es kamen Moslems, um im Felsendom zu beten, es fielen reiche Amerikaner ein und sogar Japaner, voller Neugier auf dieses Land, das älter war als ihres. Und bald würde der Wohlstand nach Palästina kommen.

Die Prosperität ist die Magd des Friedens und die Feindin der Unzufriedenheit.

Wohlstand war aber nicht das, was Ghosn für sein Volk und sein Land im Sinn hatte, zumindest vorerst nicht. Es mußten die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden. Er bezahlte seinen Orangensaft mit amerikanischem Geld und ging. Bald fand er ein Taxi. Ghosn, der über Ägypten nach Israel eingereist war, fuhr von Jerusalem nach Jordanien und kehrte dann in den Libanon zurück. Er hatte jetzt viel zu tun und hoffte nur, daß die neuen Bücher die notwendigen Informationen enthielten.

 

Ben Goodley, ein intelligenter, gutaussehender Siebenundzwanzigjähriger, setzte seine Studien an der Kennedy School of Government in Harvard nach der Promotion fort, und sein Ehrgeiz reichte für die gesamte Familie, nach der das Institut benannt war. Seine Doktorarbeit hatte sich mit den geheimdienstlichen Aspekten des Vietnam-Debakels befaßt und war so kontrovers, daß sein Professor sie Elizabeth Elliot zur Begutachtung zugeschickt hatte. Das einzige, was die Sicherheitsberaterin an Goodley störte, war die Tatsache, daß er ein Mann war. Aber es ist eben niemand perfekt.

»Und womit genau möchten Sie sich beschäftigen?« fragte sie ihn.

»Dr. Elliot, ich möchte nachrichtendienstliche Entscheidungsprozesse im Hinblick auf die jüngsten Veränderungen in Europa und im Nahen Osten überprüfen – ein recht problematisches Thema.«

»Und was ist Ihr Karriereziel? Wollen Sie lehren, schreiben oder in den Regierungsdienst eintreten?«

»Mich interessiert die Praxis. Der historische Kontext verlangt, daß die richtigen Leute die richtigen Entscheidungen treffen. Ich habe in meiner Dissertation schlüssig dargelegt, daß uns die Nachrichtendienste seit 1960 fast ununterbrochen schlecht beraten haben. Die ganze Denkart zielt in die falsche Richtung. Zumindest« – er lehnte sich zurück und versuchte entspannt zu wirken – »kommt man als Außenseiter oft zu diesem Schluß.«

»Und was ist Ihrer Ansicht nach der Grund?«

»Zum einen die Kriterien bei der Einstellung. Die Art und Weise zum Beispiel, auf die bei der CIA das Personal ausgewählt wird, bestimmt die Methoden, mit denen diese Leute Daten sammeln und analysieren. Das Ergebnis ist eine endlose Reihe sich selbst bewahrheitender Voraussagen. Wo bleibt die Objektivität, das Gespür für Trends? Prophezeite man 1989? Natürlich nicht. Und was übersieht man jetzt? Wahrscheinlich eine ganze Menge. Es wäre zur Abwechslung mal schön«, schloß Goodley, »wichtige Themen in den Griff zu bekommen, ehe sie sich zu Krisen auswachsen.«

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung.« Dr. Elliot sah die Schultern des jungen Mannes sinken, als er diskret erleichtert ausatmete. Sie beschloß nun, ein wenig mit ihm zu spielen, um ihm einen Vorgeschmack zu geben. »Tja, was können wir wohl mit Ihnen anfangen...?«

Elliot ließ ihren Blick zur Wand gegenüber schweifen. »Im Haus ist die Stelle eines Rechercheurs frei. Sie müßten sich einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen und eine strenge Geheimhaltungsverpflichtung unterschreiben. Außerdem dürfen Sie nur veröffentlichen, was vorher mit uns abgeklärt ist.«

»Das grenzt ja schon an Vorzensur«, wandte Goodley ein. »Ist das nicht verfassungswidrig?«

»Eine Regierung muß Geheimnisse wahren können, wenn sie funktionieren will. Sie könnten Zugang zu erstaunlichen Informationen bekommen. Wollen Sie nun publizieren oder sich praktisch betätigen, wie Sie gerade behauptet haben? Der öffentliche Dienst verlangt einige Opfer.«

»Nun ...«

»Bei der CIA werden in den nächsten Jahren einige wichtige Posten neu besetzt«, versprach Elliot.

»Ah, ich verstehe«, erwiderte Goodley. »Es war natürlich nie meine Absicht, vertrauliches Material zu veröffentlichen.«

»Gewiß«, stimmte Elliot zu. »Ich werde das über mein Büro regeln. Von Ihrer Dissertation war ich sehr beeindruckt. Leute mit Ihrem Verstand brauchen wir hier – vorausgesetzt, Sie sind mit den erforderlichen Einschränkungen einverstanden.«

»In diesem Fall kann ich sie wohl akzeptieren.«

»Vorzüglich.« Elizabeth Elliot lächelte. »Willkommen im Weißen Haus. Meine Sekretärin wird Sie ins Haus gegenüber in die Sicherheitsabteilung bringen. Sie müssen einen Haufen Formulare ausfüllen.«

»Für ›Secret‹ bin ich schon zugelassen.«

»Das reicht nicht. Sie brauchen die Geheimhaltungsstufe SAP/SAR, die Ihnen Zugang zu Spezialprogrammen mit besonderem Code gibt. Normalerweise dauert das ein paar Monate...«

»Monate?« fragte Goodley entsetzt.

»Normalerweise, sagte ich. Der Prozeß läßt sich ein wenig beschleunigen. Machen Sie sich also auf Wohnungssuche. Reicht Ihr Stipendium?«

»Ja.«

»Gut. Ich rufe Marcus Cabot in Langley an; er wird Sie kennenlernen wollen.« Goodley strahlte die Sicherheitsberaterin an. »Willkommen im Team.«

Der neue Mitarbeiter verstand den Wink und erhob sich. »Ich werde versuchen, Sie nicht zu enttäuschen.«

Elliot schaute ihm nach. Wie leicht die Menschen doch zu manipulieren sind, dachte sie. Mit Sex erreichte man schon viel, mit Macht und Ehrgeiz aber noch mehr. Das habe ich bereits bewiesen, sagte sich Elliot.

 

»Eine Atombombe?« fragte Bock.

»So sieht es aus«, erwiderte Kati.

»Wer weiß außerdem darüber Bescheid?«

»Nur Ghosn, der das Stück entdeckte.«

»Funktioniert sie noch?« fragte der Deutsche und fügte insgeheim hinzu: Und warum höre ich erst jetzt davon?

»Sie ist schwer beschädigt und muß erst repariert werden. Ibrahim besorgt sich gerade Bücher, um einen Überblick über die Aufgabe zu bekommen. Er glaubt, daß es möglich ist.«

Bock lehnte sich zurück. »Ist das auch kein fauler Trick der Israelis oder Amerikaner?«

»Wenn ja, dann ein sehr raffinierter«, entgegnete Kati und erklärte dann die Umstände.

»1973 ... hm, könnte passen. Ich erinnere mich noch, wie knapp die Israelis der Vernichtung durch die Syrer entgingen...« Bock schwieg einen Augenblick lang und schüttelte dann den Kopf. »Wie und wo setzt man so etwas ein...«

»Das ist die Frage.«

»Machen wir uns darüber später Gedanken. Erst muß festgestellt werden, ob die Waffe überhaupt repariert werden kann. Anschließend müssen wir die Sprengkraft bestimmen – nein, vorher müssen wir wissen, wie groß, wie schwer und schwierig transportierbar die Bombe ist. Das ist am wichtigsten. Dann käme die Sprengkraft – ich gehe davon aus, daß..« Er verstummte. »Wovon kann ich schon ausgehen? Von solchen Waffen verstehe ich so gut wie nichts. Sehr schwer können sie nicht sein, denn sie lassen sich als Artilleriegranaten verschießen, deren Durchmesser weniger als zwanzig Zentimeter beträgt.«

»Diese ist sehr viel größer, mein Freund.«

»Sie hätten mir das nicht verraten sollen, Ismael. In einer solchen Angelegenheit geht Sicherheit über alles. Diese Information können Sie niemandem anvertrauen. Menschen neigen zum Schwatzen und Prahlen. Es mag in Ihrer Organisation Spitzel geben.«

»Es ließ sich nicht vermeiden. Ghosn wird Hilfe brauchen. Haben Sie nützliche Kontakte in der DDR?«

»Welcher Art?« Kati erklärte ihm, was er brauchte. »Hm, ich kenne ein paar Ingenieure vom inzwischen eingestellten Kernforschungsprogramm in der ehemaligen DDR.«

»Warum läuft das Programm nicht mehr?«

»Honecker ließ mehrere Reaktoren der russischen Bauart errichten. Nach der Wiedervereinigung warfen westdeutsche Utnweltschützer nur einen Blick auf die Konstruktion – den Rest können Sie sich denken. Russische AKWs stehen nicht im besten Ruf.« Bock grunzte. »Ich sage Ihnen ja immer wieder, wie rückständig die Russen sind. Ihre Reaktoren waren vorwiegend für die Erzeugung von spaltbarem Material für Kernwaffen...«

»Und?«

»Und so ist es wahrscheinlich, daß die DDR ein Kernwaffenprogramm hatte. Interessant, diese Frage habe ich nie durchdacht«, merkte Bock leise an. »Was soll ich nun exakt tun?«

»Fliegen Sie nach Deutschland und suchen Sie uns Leute – eine einzelne Person wäre uns aus naheliegenden Gründen allerdings lieber –, die uns helfen können.«

Zurück nach Deutschland? dachte Bock entsetzt. »Da bräuchte ich aber...«

Kati warf seinem Freund einen Umschlag in den Schoß.

»Beirut ist schon seit Jahrhunderten eine Drehscheibe. Diese Ausweise sind besser als echte.«

»Sie werden Ihr Hauptquartier sofort verlegen müssen«, riet Bock. »Wenn ich erwischt werde, müssen Sie annehmen, daß man alle Informationen aus mir herausholt. Petra haben sie kleingekriegt, und mir wird es nicht bessergehen.«

»Ich will für Ihre Sicherheit beten. Der Umschlag enthält eine Telefonnummer. Wenn Sie wieder zurück sind, finden Sie uns anderswo.«

»Wann reise ich ab?«

»Morgen.«