19

Entwicklung

»Commodore, das kann ich nur schwer glauben«, sagte Ricks so gelassen wie möglich. Er war gebräunt und erholt aus dem Urlaub auf Hawaii zurück. Dort hatte er natürlich den U-Boot-Stützpunkt in Pearl Harbour besichtigt und davon geträumt, das U-Geschwader I zu befehligen. Dieses setzte sich zwar aus Jagd-U-Booten zusammen, aber wenn ein Jäger wie Mancuso ein strategisches Geschwader übernehmen konnte, mußte auch Ricks die Chance bekommen.

»Dr. Jones ist ein erstklassiger Fachmann«, erwiderte Bart Mancuso.

»Zweifellos, aber unsere eigenen Leute haben die Bänder analysiert und nichts gefunden.« Dies war eine nun schon seit dreißig Jahren durchgeführte, normale Prozedur. Sonarbänder von Raketen-U-Booten wurden nach einer Patrouillenfahrt an Land überprüft – früher abgehört, heute auf Bildschirm gebracht –, um sicherzustellen, daß das Boot nicht geortet worden war. »Dieser Jones war ein vorzüglicher Sonarmann, aber inzwischen ist er in der Privatwirtschaft und muß beweisen, daß er seine Honorare auch verdient. Ich will nun nicht behaupten, daß er unehrlich ist. Er muß nach Anomalien suchen, und in diesem Fall hat er einen Haufen Zufälle zu einer Hypothese verkettet. Mehr ist an der Sache nicht dran. Die Daten sind keinesfalls eindeutig  – zum Teufel, sogar fast ausschließlich spekulativ –, aber wenn sie stimmen sollten, muß man davon ausgehen, daß eine Mannschaft, die ein 688 geortet hat, nicht in der Lage war, ein russisches Boot aufzufassen. Ist das plausibel?«

»Ein gutes Argument, Harry. Jones behauptet ja nicht, ganz sicher zu sein, sondern meint, die Chance stünde drei zu eins.«

Ricks schüttelte den Kopf. »Tausend zu eins, schätze ich, und das ist noch hoch gegriffen.«

»Die Führung der Gruppe ist Ihrer Ansicht, und vor drei Tagen waren Leute von OP-2 hier, die das gleiche sagten.«

Warum führen wir dann diese Diskussion? lag Ricks schon auf der Zunge, aber die Frage konnte er natürlich nicht stellen. »Das Boot wurde doch nach dem Auslaufen auf Geräuschentwicklung geprüft, oder?« sagte er statt dessen.

Mancuso nickte. »Stimmt, von einem 688, das gerade aus der Generalüberholung kam und la funktionierte.«

»Und?«

»Die Maine ist nach wie vor ein schwarzes Loch. Das Jagdboot verlor sie bei einer Entfernung von dreitausend Yard bei fünf Knoten.«

»So, und wie stellen wir das im Bericht dar?« fragte Ricks so lässig wie möglich. Die Sache kam in seine Personalakte, und das machte sie wichtig.

Nun fühlte Mancuso sich unbehaglich, denn er hatte seine Entscheidung noch nicht getroffen. Der Bürokrat in ihm sagte, er habe alles korrekt erledigt. Er hatte Jones angehört und die Daten an die Gruppe, die Marineführung und die Experten im Pentagon weitergegeben. Deren Analyse war negativ ausgefallen: Jones sei übertrieben mißtrauisch gewesen. Der Haken war nur, daß Mancuso drei gute Jahre lang mit Jones auf USS Dallas gefahren war und sich an keine einzige Falschmeldung seines Sonarmannes erinnern konnte. Fest stand, daß das Akula sich irgendwo im Golf von Alaska befunden hatte. Von dem Zeitpunkt, zu dem die Besatzung der P-3 es aus den Augen verloren hatte, bis zu dem Moment, an dem es wieder vor seinem Stützpunkt aufgetaucht war, war es wie vom Erdboden verschwunden gewesen. Wo hatte sich die Admiral Lunin herumgetrieben? Wenn man ihren Aktionsradius berechnete und auf der Karte eintrug, war es nicht ausgeschlossen, daß sie sich im Patrouillengebiet der Maine aufgehalten, den Kontakt mit ihr abgebrochen und wieder ihren Heimathafen angelaufen hatte. Es war aber auch möglich – und sehr wahrscheinlich -, daß sie nie in der Nähe des amerikanischen Raketen-U-Bootes gewesen war. Weder Maine noch Omaha hatten sie aufgefaßt. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, daß ein russisches Boot sich der Ortung durch zwei der modernsten Kriegsschiffe entzogen hatte?

Nicht sehr groß.

»Wissen Sie, was mir Kummer macht?« fragte Mancuso.

»Was denn?«

»Wir haben jetzt seit über dreißig Jahren Raketen-U-Boote, und die sind in tiefem Wasser noch nie geortet worden. Ich war Erster Offizier auf Hammerhead, als wir bei einer Übung Georgia als Gegner hatten und glatt abgezogen wurden. Als ich die Dallas hatte, versuchte ich nie, ein Ohio zu verfolgen, und die eine Übung gegen Pulaski war die härteste Nuß, die ich je zu knacken hatte. Aber ich habe Deltas und Typhoons und alles andere, was die Russen so laufen haben, geortet und verfolgt. Victors habe ich geknipst. Wir sind so gut...« Der Geschwaderkommandant runzelte die Stirn. »Harry, wir sind es gewohnt, Spitze zu sein.«

Ricks sprach ruhig weiter. »Bart, wir sind Spitze. Das Wasser können uns höchstens die Briten reichen, und die haben wir inzwischen wohl abgehängt. In unserer Lage sind wir allein. Ich habe eine Idee.«

»Heraus damit.«

»Der Mr. Akula macht Ihnen Kummer. Gut, das kann ich verstehen. Das Akula ist ein gutes Boot, vielleicht sogar mit den späteren Modellen der Klasse 637 zu vergleichen, und auf jeden Fall das beste, was die Russen vom Stapel gelassen haben. Wir haben den Befehl, jedem Kontakt auszuweichen – aber Sie belobigten Rosselli für die Ortung eben dieses Akula. Dafür haben Sie von der Gruppe bestimmt einen Rüffel bekommen.«

»Richtig geraten, Harry. Zwei Leute waren ziemlich sauer, aber wenn ihnen meine Methoden nicht passen, sollen sie sich ruhig einen neuen Geschwaderchef suchen.«

»Was wissen wir über Admiral Lunin

»Sie wird bis Ende Januar generalüberholt.«

»Anhand früherer Erfahrungen wird sie dann etwas leiser sein.«

»Vermutlich. Dem Vernehmen nach bekommt das Boot eine neue Sonaranlage, die etwa zehn Jahre hinter unserem Entwicklungsstand liegt«, fügte Mancuso hinzu.

»Und dabei ist die Leistung der Operatoren nicht berücksichtigt. Sie können es immer noch nicht mit uns aufnehmen, und das können wir sogar beweisen.«

»Und wie?« fragte Mancuso.

»Empfehlen wir doch der Gruppe aggressivere Taktiken den Akulas gegenüber. Die Jagd-U-Boote sollen versuchen, so dicht wie möglich heranzukommen. Und wenn ein strategisches Boot die Chance bekommt, ohne die Gefahr einer Gegenortung ein Akula zu erfassen, soll das auch erlaubt sein. Wir brauchen mehr Daten über diese Burschen. Wenn sie tatsächlich eine Bedrohung darstellen, sollten unsere Informationen auf den neusten Stand gebracht werden.«

»Harry, dann springt man bei der Gruppe im Dreieck. Diese Idee kommt bestimmt nicht an.« Aber Mancuso fand an ihr Gefallen, wie Ricks sah.

Ricks schnaubte. »Na und? Wir sind die Besten, Bart. Das wissen Sie so gut wie ich. Und die Russen wissen das auch. Geben wir vernünftige Leitlinien aus.«

»Zum Beispiel?«

»Was ist die Maximaldistanz, über die ein Ohio jemals geortet wurde?«

»Viertausend Meter. Das war bei Mike Heimbach auf Scranton gegen Frank Kemeny auf Tennessee. Kemeny ortete Heimbach eine Minute früher. Ortungen über kürzere Distanzen gab es nur bei vorher abgesprochenen Tests.«

»Gut, multiplizieren wir das mit... sagen wir, fünf. Das ist mehr als sicher, Bart. Mike Heimbach hatte ein brandneues Boot mit dem ersten integrierten Sonarsystem und drei zusätzlichen Sonarmännern von Gruppe 6, wenn ich mich recht entsinne.«

Mancuso nickte. »Genau, es war ein absichtlicher Test, bei dem man die ungünstigsten Bedingungen wählte, um festzustellen, ob ein Ohio zu orten ist: Isothermisches Wasser, und Tennessee lag unter der Thermoklinealen.«

»Und gewann trotzdem«, unterstrich Ricks. »Frank hatte den Befehl, es seinem Gegner leichtzumachen, ortete ihn aber dennoch als erster. Und wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, hatte er seine Zielkoordinaten drei Minuten vor Mike fertig.«

»Wohl wahr.« Mancuso dachte einen Augenblick lang nach. »Gut, schreiben wir eine Mindestdistanz von 14 Meilen vor.«

»Fein. Ich weiß, daß ich über diese Entfernung ein Akula orten und verfolgen kann. Meine Sonarabteilung ist gut – na, das sind sie bei uns ja alle. Wenn mir dieser Bursche aus Zufall in die Quere kommt, hänge ich mich an ihn und sammle so viele Signaturdaten wie möglich. Ich ziehe einen Kreis mit einem Radius von 14 Meilen um ihn und halte mich aus diesem heraus. Dann ist eine Gegenortung absolut ausgeschlossen.«

»Vor fünf Jahren hätten uns die Gruppenchefs schon wegen dieser Unterhaltung gefeuert«, merkte Mancuso an.

»Nun, die Welt hat sich verändert. Bart, mit einem 688 kann man dicht herangehen, aber was ist damit bewiesen? Warum ist man so zögerlich, wenn man sich tatsächlich Sorgen wegen der Verwundbarkeit der strategischen Boote macht?«

»Schaffen Sie das auch wirklich?«

»Aber klar! Ich arbeite den Vorschlag für Ihren Stab aus, und Sie können ihn dann nach oben weiterleiten.«

»Ihnen ist wohl klar, daß er dann in Washington landet.«

»Sicher. Kein feiges Verstecken mehr. Sind wir vielleicht alte Tanten? Verdammt, Bart, ich habe den Befehl auf einem Kriegsschiff. Wenn mir jemand sagt, ich sei verwundbar, dann beweise ich ihm, daß das Quatsch ist. Mich hat noch niemand geortet, und das wird auch niemand schaffen. Ich bin bereit, den Beweis zu erbringen.«

Die Besprechung war ganz anders verlaufen, als Mancuso erwartet hatte. Ricks redete wie ein echter U-Boot-Fahrer, und so etwas hörte er gern.

»Haben Sie sich das auch gut überlegt? Oben werden nämlich die Fetzen fliegen, und Sie bekommen bestimmt etwas ab.«

»Sie aber auch.«

»Ich kommandiere das Geschwader und muß so etwas einstecken können.«

»Ich will’s riskieren, Bart. Gut, ich werde meine Leute schleifen müssen, ganz besonders die Leute vom Sonar und am Kartentisch, aber ich habe genug Zeit und eine ziemlich gute Besatzung.«

»Okay, dann setzen Sie Ihren Vorschlag auf. Ich werde ihn befürworten und weiterleiten.«

»Sehen Sie, wie einfach das ist?« Ricks grinste. Wer in einem Geschwader guter Skipper die Nummer eins sein will, dachte er, muß sich profilieren. Bei OP-02 im Pentagon würde der Vorschlag Aufregung verursachen, aber man würde auch nicht übersehen, daß er von Harry Ricks stammte, der als kluger und vorsichtiger Mann galt. Auf dieser Basis und angesichts Mancusos Unterstützung stand schon jetzt fest, daß seine Idee nach einigem Hin und Her Zustimmung finden würde. Harry Ricks, der beste U-Boot-Ingenieur der Navy und ein Mann, der seine Fachkenntnisse in Taten umsetzt. Kein übles Image.

»So, und wie war’s auf Hawaii?« fragte Mancuso, der von seinem Kommandanten der Maine (Besatzung »Gold«) angenehm überrascht war.

 

»Hochinteressant. Das Astrophysikalische Institut ›Karl Marx‹.« Der KGB-Oberst reichte Golowko die Schwarzweißfotos.

Der Erste Stellvertretende Vorsitzende schaute sich die Bilder an und legte sie dann hin. »Steht das Gebäude leer?«

»Praktisch. Das fanden wir im Innern – einen Frachtschein für fünf amerikanische Werkzeugmaschinen. Erstklassiges Fabrikat, sehr teuer.«

»Verwendungszweck?«

»Es gibt zahlreiche Anwendungsbereiche. Die Herstellung von Teleskopspiegeln zum Beispiel, die sich vorzüglich in die Tarnung des Instituts einfügt. Von unseren Freunden in Sarowa höre ich, daß man mit ihnen auch Komponenten von Atomwaffen formen kann.«

»Ich möchte mehr über dieses Institut wissen.«

»Im großen und ganzen wirkt es legal. Zum Leiter sollte der führende Kosmologe der DDR bestellt werden. Inzwischen ist es vom Max-Planck-Institut übernommen worden. Man plant nun einen großen Teleskopkomplex in Chile und baut für die ESA einen Satelliten mit Röntgenteleskop. Hier möchte ich anmerken, daß Röntgenteleskope sehr viel mit Atomwaffenforschung zu tun haben.«

»Wie das?«

»In verschiedenen Fachzeitschriften sind Artikel über Stellarphysik erschienen. Einer beginnt so: ›Man stelle sich das Innere eines Sternes mit einem Röntgenstrahlenfluß von soundso vor...‹, aber mit einem kleinen Unterschied: Der beschriebene Strahlenfluß ist vierzehnmal stärker als in jedem Stern.«

»Das verstehe ich nicht.« Golowko kam mit diesem Fachchinesisch nicht zurecht.

»Er sprach von physikalischen Verhältnissen, unter denen die Aktivität eine Billiarde Mal – das ist eine Eins mit fünfzehn Nullen – intensiver ist als in jedem Stern. In Wirklichkeit beschrieb er das Innere einer Wasserstoffbombe im Augenblick der Detonation.«

»Und wie konnte das die Zensur passieren?« fragte Golowko verblüfft.

»General, wie, glauben Sie, ist es um die naturwissenschaftliche Bildung unserer Zensoren bestellt? Sobald der Betreffende ›Man stelle sich das Innere eines Sternes vor...‹ sah, kam er zu dem Schluß, daß die Staatssicherheit nicht tangiert war. Der Artikel erschien vor fünfzehn Jahren und ist nicht der einzige dieser Art. Erst im Lauf der letzten Woche habe ich entdeckt, wie nutzlos unsere Sicherheitsmaßnahmen sind. Da können Sie sich ja vorstellen, wie es bei den Amerikanern aussieht. Zum Glück erfordert das Zusammentragen der Daten sehr viel Intelligenz, aber unmöglich wäre das Vorhaben keineswegs. Ich sprach in Kyschtym mit einem Team junger Ingenieure. Wenn von hier aus etwas Druck ausgeübt wird, können wir eine gründliche Studie über das Ausmaß der Offenheit in der wissenschaftlichen Literatur beginnen, die fünf bis sechs Monate in Anspruch nehmen wird. Sie beträfe das vorliegende Projekt zwar nicht direkt, könnte aber nützliche Hinweise geben. Meiner Auffassung nach haben wir die Gefahr der Entwicklung von Kernwaffen in Ländern der Dritten Welt systematisch unterschätzt.«

»Das stimmt aber nicht«, wandte Golowko ein. »Wir wissen genau, daß...«

»General, ich habe damals an dieser Studie mitgearbeitet und sage Ihnen nun, daß sie meiner Ansicht nach viel zu optimistisch war.«

Darüber dachte der Erste Stellvertretende Vorsitzende einige Sekunden lang nach. »Pjotr Iwanowitsch, Sie sind ehrlich.«

»Ich habe eher Angst«, erwiderte der Oberst.

»Wenden wir uns wieder Deutschland zu.«

»Gut. Von den Leuten, die wir der Mitarbeit am Bombenprojekt der DDR verdächtigen, sind drei nicht aufzufinden. Die Männer und ihre Familien sind verschwunden. Der Rest hat andere Arbeit gefunden. Zwei könnten an Forschungsprojekten mit einer militärischen Anwendungsmöglichkeit beteiligt sein, aber wie stellt man das einwandfrei fest? Wo ist die Grenze zwischen Kernforschung zu friedlichen Zwecken und der Arbeit an Waffen? Das weiß ich nicht.«

»Wohin sind die drei verschwunden?«

»Einer ist definitiv in Südafrika. Von den beiden anderen fehlt jede Spur.1ch empfehle eine große Operation, um festzustellen, was sich in Argentinien tut.«

»Und die Amerikaner?« fragte Golowko nachdenklich.

»Darüber weiß ich nichts Eindeutiges. Vermutlich tappen sie genauso im dunkeln wie wir.« Der Oberst machte eine Pause. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie an einer Weiterverbreitung von Kernwaffen interessiert sind. Das liefe ihrer Regierungspolitik zuwider.«

»Dann erklären Sie mir die Ausnahme Israel.«

»Die Israelis beschafften sich ihr spaltbares Material vor über zwanzig Jahren in den USA: Plutonium aus der Anlage Savannah River und angereichertes Uran aus einem Lager in Pennsylvania. Beide Transaktionen waren offenbar illegal. Die Amerikaner ermittelten und vermuten, daß dem Mossad mit Hilfe von amerikanischen Wissenschaftlern jüdischer Abstammung der spektakulärste Geheimdienstcoup aller Zeiten gelang. Anklage wurde nicht erhoben. Die einzigen Beweise stammten aus Quellen, die man vor Gericht nicht offenlegen konnte, und man hielt es für politisch nicht ratsam, undichte Stellen in einem so streng geheimen Regierungsprogramm einzugestehen. Der Fall wurde in aller Stille begraben. Amerikaner und Europäer verkauften Atomtechnologie recht locker an andere Länder – der Kapitalismus in Reinkultur; es ging um Riesensummen –, aber wir machten mit China und Deutschland denselben Fehler, nicht wahr? Nein«, schloß der Oberst, »ich glaube nicht, daß die Amerikaner mehr an Atomwaffen in deutscher Hand interessiert sind als wir.«

»Und der nächste Schritt?«

»Da bin ich nicht ganz sicher, General. Wir haben alle Spuren so weit verfolgt, wie es ging, ohne die Aufmerksamkeit des BND zu erregen. Ich finde, wir sollten einmal nachsehen, was sich in Südamerika tut. Außerdem schlage ich vorsichtige Ermittlungen beim deutschen Militär vor, um festzustellen, ob es Hinweise auf ein Kernwaffenprogramm gibt.«

»Wenn das der Fall wäre, wüßten wir inzwischen Bescheid.« Golowko runzelte die Stirn. »Verdammt, was rede ich da? Mit welchen Trägersystemen ist zu rechnen?«

»Ich tippe auf Flugzeuge. Raketen sind nicht erforderlich. Moskau ist von Ostdeutschland nicht allzuweit entfernt. Die Qualität unserer Luftabwehr kennen die Deutschen ja. Schließlich haben wir genug Gerät im Land zurückgelassen.«

»Pjotr, haben Sie noch weitere Hiobsbotschaften auf Lager?«

»Nu, und da schwärmen diese Narren im Westen von einer neuen, sicheren Welt.«

 

Das Sintern des Wolfram-Rheniums war ganz einfach. Sie benutzten einen Radiowellenofen, der einer Haushalts-Mikrowelle recht ähnlich war. Das Metallpulver wurde in eine Form geschüttet und zum Erhitzen in den Ofen geschoben. Als es grellweiß glühte – aber noch nicht flüssig wurde, denn Wolfram hat einen sehr hohen Schmelzpunkt –, erhöhte man den Druck und erreichte so die Verfestigung zu einer metallähnlichen Masse. Insgesamt wurden zwölf gekrümmte Werkstücke hergestellt und zur späteren Bearbeitung und Glättung auf einer Werkzeugmaschine in ein Regal gelegt.

Die riesige Fräsmaschine bearbeitete das letzte große Berylliumstück, ein fünfzig Zentimeter langes und maximal zwanzig Zentimeter starkes Hyperboloid. Wegen der exzentrischen Form war der Vorgang trotz der Computersteuerung diffizil.

»Wie Sie sehen, wird der anfängliche Neutronenfluß sphärisch von der Primärladung expandieren, um dann von dem Beryllium zurückgehalten zu werden«, sagte Fromm zu Kati. »Diese metallischen Elemente reflektieren Neutronen, die mit zwanzig Prozent Lichtgeschwindigkeit herumwirbeln. Wir lassen ihnen nur einen Ausweg – in den Konus. Im Innern des Hyperboloiden treffen sie dann auf einen Zylinder aus mit Tritium angereichertem Lithiumdeuterid.«

»So schnell geht das?« fragte der Kommandant erstaunt. »Dann zerstört der Sprengstoff ja alles!«

»Wer das verstehen will, muß umdenken. Der Sprengstoff zündet zwar sehr schnell, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß der ganze Detonationsprozeß nur drei Wack dauert.«

»Wie bitte? Drei was?«

»Wack.« Fromm gestattete sich ein seltenes Lächeln. »Was eine Nanosekunde ist, wissen Sie wohl – der milliardste Teil einer Sekunde, oder zehn hoch minus neun. In dieser Zeitspanne legt ein Lichtstrahl 30 Zentimeter zurück.« Er hielt die Hände entsprechend weit auseinander.

Kati nickte. »Sehr kurz.«

»Gut, ein Wack beträgt zehn Nanosekunden; in dieser Zeit legt Licht drei Meter zurück. Den Terminus ließen sich die Amerikaner in den vierziger Jahren einfallen; ein Wack ist die Zeit, die ein Lamm braucht, um einmal mit dem Schwanz zu wackeln – das sollte ein Witz sein. Mit anderen Worten, innerhalb von drei Wack oder dreißig Nanosekunden, der Zeitspanne also, in der Licht neun Meter zurücklegt, hat die Bombe den Detonationsprozeß begonnen und abgeschlossen. Chemische Sprengstoffe reagieren viele Tausende Male langsamer.«

»Ich verstehe«, sagte Kati, und das war wahr und gelogen zugleich. Er ging hinaus, um Fromm zu seinen gespenstischen Tagträumen zurückkehren zu lassen. Günther wartete draußen im Freien. »Nun, wie weit sind wir?«

»Der amerikanische Teil des Plans ist formuliert«, erwiderte Bock, entfaltete eine Landkarte und legte sie auf den Boden. »Die Bombe kommt an diese Stelle.«

»Was ist das für eine Anlage?« Bock beantwortete die Frage. »Kapazität?« fragte der Kommandant dann.

»Über sechzigtausend. Wenn die Sprengleistung wie versprochen ausfällt, gibt es innerhalb dieses Radius 100 Prozent Todesfälle; insgesamt hundert- bis zweihunderttausend Opfer.«

»Ist das alles? Bewirkt eine Atombombe denn nicht mehr?«

»Kommandant, das ist nur ein relativ kleiner Sprengsatz.«

Kati schloß die Augen und stieß einen unterdrückten Fluch aus. Vor einer Minute noch hatte er gehört, das Resultat werde jenseits all seiner Erfahrung liegen, und nun erzählte man ihm das Gegenteil. Der Kommandant war klug genug, um zu wissen, daß beide Experten recht hatten.

»Warum ausgerechnet an diesem Platz?« fragte er. Bock erklärte ihm die Sache.

»Es wäre eine große Genugtuung, wenn wir den amerikanischen Präsidenten erwischten.«

»Mag sein, aber nicht unbedingt günstig. Wir könnten versuchen, die Bombe nach Washington zu bringen, aber ich halte das Risiko einer Entdeckung für viel zu groß. Kommandant, wir müssen berücksichtigen, daß wir nur eine Bombe und daher auch nur eine einzige Chance haben. Deshalb müssen wir die Chance einer Entdeckung so gering wie möglich halten und unser Ziel vorwiegend nach Kriterien der Zweckmäßigkeit auswählen.«

»Und der deutsche Teil der Operation?«

»Wird sich leichter durchführen lassen.«

»Kann die Sache denn klappen?« fragte Kati und starrte auf die staubigen Berge des Libanon.

»Es müßte hinhauen. Ich schätze die Erfolgschancen auf sechzig Prozent.«

Nun, wenigstens werden wir die Amerikaner und Russen bestrafen, sagte sich der Kommandant und fragte sich dann: Ist das genug? Katis Züge wurden hart, als er über die Antwort nachdachte.

Es erhob sich aber nicht nur eine Frage. Kati hielt sich für einen todgeweihten Mann. Der Krankheitsverlauf war ein Auf und Ab, unerbittlich wie die Gezeiten, aber die Flut reichte nie ganz so hoch wie vor einem Jahr oder noch vor einem Monat. Im Augenblick fühlte er sich gut, wußte aber, daß das nur relativ war. Die Möglichkeit, daß er im nächsten Jahr nicht mehr lebte, war ebenso wahrscheinlich wie der Erfolg von Bocks Plan. Konnte er sterben, ohne alles für die Ausführung dieses Plans getan zu haben?

Nein. Und wenn sein Leben schon zu Ende ging, was kümmerten ihn dann die Leben anderer, Ungläubiger obendrein?

Günther ist Atheist, dachte Kati, ein Ungläubiger, und Marvin Russell ist Heide. Die Menschen, die du zu töten vorschlägst aber haben eine Religion, eine Buchreligion wie der Islam. Sie mögen irregeleitete Anhänger des Propheten Jesus sein, aber sie glauben an den Einen Gott.

Doch auch die Juden hatten ihre Heilige Schrift, wie es im Koran stand. Sie waren die spirituellen Vorfahren des Islam und wie die Araber Kinder Abrahams. Er kämpfte nicht aus religiösen Motiven gegen Israel, sondern für die Befreiung seines Volkes, das aus seinem eigenen Land vertrieben worden war – von Leuten, die ebenfalls nur vorgaben, sich von ihrer Religion leiten zu lassen.

Kati stellte sich seinen Überzeugungen mit allen ihren Widersprüchen. Israel war sein Feind. Die Amerikaner und die Russen waren seine Feinde. Das waren seine persönlichen Glaubensgrundsätze, die sein Leben bestimmt und herzlich wenig mit Allah zu tun hatten, auch wenn er bei seinen Anhängern das Gegenteil behauptete.

»Gut, Günther, arbeiten Sie weiter an Ihrem Plan.«