12
Tüftler
»Ich erhöhe um einen Zehner«, sagte Ryan.
»Bluff«, versetzte Chavez und nahm einen Schluck Bier.
»Ich bluffe nie«, gab Jack zurück.
»Ich gebe auf.« Clark warf sein Blatt hin.
»Das sagen sie alle«, bemerkte ein Sergeant der Air Force, »und ziehen einem das Fell über die Ohren.«
»Aufdecken«, forderte Chavez.
»Drei Buben.«
»Schlägt meine Achten«, meckerte der Sergeant.
»Aber nicht meine Folge.« Ding trank sein Bier aus. »Wow, jetzt liege ich mit fünf Dollar vorn.«
»Zähl nie den Gewinn am Tisch«, zitierte Clark eine Schnulze.
»Ich hasse Country & Western.« Chavez grinste. »Aber Poker macht Spaß.«
»Und ich hab’ immer geglaubt, Soldaten wären miese Zocker«, merkte der Sergeant säuerlich an. Er, ein ausgefuchster Pokerspieler, lag drei Dollar zurück. Auf langen Flügen bekam er genug Übung, wenn die Politiker einen guten Geber brauchten.
»Kartenzinken gehört bei der CIA zur Grundausbildung«, verkündete Clark und stand auf, um eine neue Runde zu holen.
»Tja, ich hätte diesen Kurs auf der Farm belegen sollen«, seufzte Ryan, der seinen Einsatz noch nicht verloren hatte. Aber jedesmal wenn er ein gutes Blatt bekommen hatte, war er von Chavez übertrumpft worden. »Demnächst lasse ich Sie mal gegen meine Frau spielen.«
»Ist sie gut?« fragte Chavez.
»Als Chirurgin teilt sie die Karten so geschickt aus, daß selbst ein Profi den Überblick verliert. Damit übt sie ihre Fingerfertigkeit«, erklärte Ryan und grinste. »Bei mir darf sie nie geben.«
»So was würde Mrs. Ryan nie tun«, sagte Clark und setzte sich wieder.
Er begann recht geschickt zu mischen. »Nun, was meinen Sie, Doc?«
»Zu Jerusalem? Die Sache läuft besser als erwartet. Und Sie?«
»Als ich zuletzt dort war, 1984, erinnerte mich die Atmosphäre an Olongapo auf den Philippinen. Spannung lag in der Luft, man fühlte sich beobachtet. Aber jetzt hat es sich abgekühlt. Wie wär’s mit einer Runde Stud?«
Der Sergeant war einverstanden. »Wenn der Geber will.«
Clark legte die verdeckten Karten aus und dann die erste offene. »Pik Neun für die Air Force. Unser Latino kriegt Karo Fünf. Die Kreuzdame geht an den Doc, und der Geber hat – sieh mal an! Ein As. Und setzt 25.«
»Und, John?« fragte Ryan nach der ersten Runde.
»Sie scheinen viel Vertrauen in meine Beobachtungsgabe zu haben, Jack. In zwei Monaten wissen wir es genau, aber vorerst sieht es gut aus.« Er teilte weitere vier Karten aus. »Oho, die Air Force kriegt vielleicht eine Sequenz hin. Was setzen Sie?«
»25.« Dem Sergeant schien das Glück hold zu sein. »Die israelische Sicherheit ist auch nicht mehr so scharf.«
»Wieso?«
»Dr. Ryan, auf Sicherheit verstehen sich die Israelis. Wenn wir früher hierherflogen, wurde um die Maschine eine Mauer hochgezogen. Aber diesmal war sie nicht ganz so hoch. Ich sprach mit zwei Männern, und die erzählten mir, daß man sich jetzt lockerer gibt – aus persönlicher Einstellung, nicht auf Anweisung von oben. Früher haben die Leute kaum mit uns geredet. Ich habe das Gefühl, daß sich hier etwas grundlegend verändert hat.«
Ryan beschloß, das Spiel aufzugeben. Mit einer Acht, einer Dame und einer Zwei war nichts anzufangen. Aber sein Manöver hatte Erfolg gehabt. Von Sergeants bekam man immer bessere Informationen als von Generälen.
»Was wir hier vor uns haben«, sagte Ghosn und schlug eine Seite in seinem Buch auf, »ist der Nachbau einer amerikanischen Fissionsbombe mit Verstärkung vom Typ Mark 12.«
»Was bedeutet das?« fragte Kati.
»Genau im Augenblick der Zündung wird Tritium in den Kern gespritzt, das mehr Neutronen und somit eine effizientere Reaktion erzeugt. Das heißt, es wird weniger spaltbares Material benötigt...«
»Aber?« Kati hörte ein Aber kommen.
Ghosn lehnte sich zurück und starrte auf den Kern der Waffe. »Aber die Einspritzvorrichtung für das Lithium wurde beim Aufprall zerstört. Die Kryton-Schalter, die Zünder für die konventionelle Hohlladung also, sind nicht mehr zuverlässig und müssen ersetzt werden. Es sind zwar noch genug intakte Sprengstoffplatten für die Ermittlung der Gesamtkonfiguration vorhanden, aber es wird sehr schwierig sein, neue herzustellen. Leider kann ich den Konstruktionsprozeß nicht einfach umkehren, sondern muß erst das theoretische Ausgangsmodell entwickeln und dann die Fertigungsmethoden praktisch neu erfinden. Wissen Sie, was dieser Prozeß ursprünglich gekostet hat?«
»Nein«, gab Kati zu.
»Mehr als die Mondlandung. An dem Projekt arbeiteten die brillantesten Köpfe der Menschheitsgeschichte: Einstein, Fermi, Bohr, Oppenheimer, Teller, Alvarez, von Neumann, Lawrence und hundert andere. Die Giganten der Physik in diesem Jahrhundert.«
»Soll das heißen, daß Sie es nicht schaffen?«
Ghosn lächelte. »Nein. Ich kriege das hin. Was anfangs nur ein Genie bewältigte, bringt später auch schon ein Bastler fertig. Zuerst brauchte man ein Genie, als es um die Erfindung ging und die Technologie so primitiv war. Alle Berechnungen mußten zum Beispiel mit mechanischen Rechenmaschinen ausgeführt werden. Die gesamte Arbeit an der ersten Wasserstoffbombe wurde mit den ersten, noch sehr einfachen Computern – ›Eniacs‹ hießen sie, glaube ich – ausgeführt. Aber heute?« Ghosn lachte über den absurden Kontrast. »Heute hat ein Videospiel mehr Computerkapazität als ein Eniac. Berechnungen, für die Einstein Monate brauchte, bewältigt ein guter Personalcomputer in Sekunden. Entscheidend aber ist, daß die Physiker damals nicht wußten, ob die Atombombe überhaupt möglich ist. Ich aber weiß das. Die Physiker hinterließen Protokolle ihrer Arbeit. Und ich habe schließlich eine Arbeitsvorlage. Ich kann die beschädigte Bombe zwar nicht nachbauen, aber als theoretisches Modell benutzen.
Tja, und wenn man mir zwei, drei Jahre Zeit gibt, schaffe ich das sogar allein.«
»Haben wir denn so viel Zeit?«
Ghosn, der bereits von seinen Eindrücken in Jerusalem berichtet hatte, schüttelte den Kopf. »Nein, Kommandant.«
Kati erklärte, welchen Auftrag er seinem deutschen Freund gegeben hatte.
»Vorzüglich. Wo ist unser neues Hauptquartier?«
Berlin war wieder die Hauptstadt Deutschlands. Auch Bock hatte sich das gewünscht, aber als Kapitale einer anderen Republik. Er war über Syrien, Griechenland und Italien eingeflogen und an den Paßkontrollen durchgewinkt worden. Anschließend hatte er sich ein Auto gemietet und war über die E 251 nach Greifswald gefahren. Günther hatte sich für einen Mercedes entschieden und rechtfertigte die Wahl damit, daß er schließlich als »Geschäftsmann« unterwegs war. Außerdem hatte er nicht das schwerste Modell genommen. Manchmal glaubte er nun, ein Mietfahrrad wäre vernünftiger gewesen. Die von der Regierung der alten DDR vernachlässigte Autobahn war eine einzige Baustelle. Typisch – die Gegenfahrbahn war bereits erneuert. Aus dem Augenwinkel sah er Hunderte von BMWs und Mercedes’ in Richtung Berlin brausen - die Kapitalisten aus dem Westen eroberten zurück, was unter einem politischen Verrat zusammengebrochen war.
Bock nahm bei Greifswald die nächste Ausfahrt und fuhr durch Chemnitz. Das Straßenbauprogramm hatte die Nebenstraßen noch nicht erreicht. Nachdem er in ein halbes Dutzend Schlaglöcher gefahren war, hielt Bock an und studierte die Karte. Nach drei Kilometern und mehreren Abzweigungen erreichte er eine ehemalige Akademikersiedlung. In der Einfahrt des Hauses, das er suchte, stand ein Trabant. Natürlich war der Rasen gepflegt, und das Haus machte bis hin zu den Gardinen einen ordentlichen Eindruck – schließlich war das hier Deutschland -, aber es herrschte eine eher spürbare als sichtbare Atmosphäre des Verfalls und der Depression. Bock parkte eine Straße weiter und ging zu Fuß zurück zum Haus.
»Ist Herr Dr. Fromm zu sprechen?« fragte er die Frau, vermutlich Fromms Gattin, die an die Tür kam.
»Wen darf ich melden?« fragte sie steif. Sie war Mitte Vierzig, ihre Haut spannte sich straff über die hohen Backenknochen, während um ihre glanzlosen blauen Augen und ihre verkniffenen, blassen Lippen zu viele Falten lagen. Nun musterte sie den Mann vor der Tür mit Interesse und vielleicht auch ein wenig Hoffnung. Obwohl Bock nicht wußte, was sie sich von ihm erwarten mochte, nutzte er die Gelegenheit.
»Einen alten Kollegen«, sagte Bock lächelnd. »Darf ich ihn überraschen?«
Nach kurzem Zögern schaute sie freundlicher. »Bitte kommen Sie herein.«
Bock wartete im Wohnzimmer und erkannte, daß sein erster Eindruck richtig gewesen war – aber der Grund dafür traf ihn hart. Das Innere des Hauses erinnerte ihn nämlich an seine Wohnung in Berlin. Auch hier war das Mobiliar Sonderanfertigung, das im Vergleich zu dem, was normalen DDR-Bürgern zur Verfügung gestanden hatte, so elegant gewesen war. Jetzt aber beeindruckte ihn das nicht mehr besonders. Vielleicht liegt es an dem Kontrast zum Mercedes, dachte Bock, als er Schritte hörte. Aber nein. Es lag am Staub. Frau Fromm hielt ihr Haus nicht so sauber, wie es sich für eine gute deutsche Hausfrau gehörte. Ein sicheres Anzeichen, daß etwas nicht stimmte.
»Bitte?« sagte Dr. Fromm, und dann weiteten sich seine Augen, als er Bock erkannte. »Du? Schön, dich wiederzusehen!«
»Schön, daß du dich an deinen alten Freund erinnerst«, erwiderte Bock lachend und streckte die Hand aus. »Es ist lange her, Manfred.«
»Allerdings, Junge! Komm mit in mein Arbeitszimmer.« Die beiden zogen sich unter dem neugierigen Blick von Frau Fromm zurück. Dr. Fromm schloß die Tür, bevor er sprach.
»Das mit deiner Frau tut mir sehr leid. Grauenhaft!«
»Das ist nun Vergangenheit. Wie geht’s dir?«
»Mies. Die Grünen haben sich auf uns eingeschossen. Der Laden wird dichtgemacht.«
Dr. Manfred Fromm war auf dem Papier der stellvertretende Direktor des AKW Lubmin Nord. Die zwanzig Jahre alte Anlage vom sowjetischen Typ WER 230 war zwar primitiv, aber dank einer kompetenten deutschen Bedienungsmannschaft durchaus konkurrenzfähig. Wie alle sowjetischen Modelle aus dieser Zeit produzierte der Reaktor Plutonium und war, wie Tschernobyl demonstriert hatte, weder besonders sicher noch leistungsstark, bot aber den Vorteil, nicht nur 816 Megawatt, sondern auch spaltbares Material für Bomben zu erzeugen.
»Die Grünen«, wiederholte Bock leise. »Diese Chaoten.« Die Grünen waren eine natürliche Konsequenz des deutschen Nationalcharakters, der einerseits vor allem, was lebt, Ehrfurcht hat und andererseits dazu neigt, dies zu töten. Die Anti-Partei hatte sich aus den extremen oder konsequenten Elementen der Umweltbewegung gebildet und Kampagnen geführt, die auch im Ostblock Mißmut erregten. Es war ihr zwar nicht gelungen, die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa zu verhindern – dazu hätte es eines Abkommens bedurft, das diese Waffen auf beiden Seiten eliminierte –, aber sie kämpfte nun erfolgreich in der ehemaligen DDR. Die Grünen waren vom Kampf gegen die katastrophale Umweltverschmutzung im Osten geradezu besessen, und ganz oben auf ihrer Liste standen die Atomkraftwerke, die sie als unglaublich unsicher bezeichneten. Bock rief sich ins Gedächtnis, daß den Grünen schon immer eine straffe politische Organisation gefehlt hatte und daß sie aus diesem Grund niemals eine wichtige Rolle in der deutschen Politik spielen konnten. Mehr noch, die Bewegung wurde nun von der Regierung, der sie einst ein Dorn im Auge gewesen war, ausgenutzt. Hatten sie früher lauthals gegen die Verschmutzung der Flüsse durch die Industrie und die Stationierung von Kernwaffen durch die Nato protestiert, führten sie nun einen ökologischen Kreuzzug im Osten. Ihr unablässiges Geheul über die Schweinerei in der alten DDR stellte sicher, daß mit der Rückkehr des Sozialismus nach Deutschland so bald nicht zu rechnen war. Bock und Fromm fragten sich sogar, ob die Grünen nicht vielleicht von Anfang an nur ein raffinierter Trick der Kapitalisten gewesen waren.
Die beiden hatten sich vor fünf Jahren kennengelernt. Damals wollte die RAF einen westdeutschen Reaktor sabotieren und hatte im Osten um technischen Rat gebeten. Dieser Plan, der erst in letzter Minute vereitelt werden konnte, kam nie an die Öffentlichkeit. Der BND hielt seinen Erfolg geheim, um nicht die gesamte westdeutsche Atomindustrie zu gefährden.
»Vor einem knappen Jahr ging die Anlage endgültig vom Netz. Ich arbeite nur noch drei Tage in der Woche; meinen Posten hat ein Besserwessi, den ich ›beraten‹ darf«, berichtete Fromm.
»Es muß doch sonst noch was für dich zu tun geben, Manfred«, meinte Bock. Fromm war nämlich auch der Chefingenieur von Honeckers militärischem Lieblingsprojekt gewesen. Russen und Deutsche, wenngleich Verbündete im Warschauer Pakt, hatten nie richtige Freunde sein können. Die Feindschaft zwischen den Nationen reichte tausend Jahre zurück, und wo die Deutschen im Sozialismus einigermaßen erfolgreich gewesen waren, hatten die Russen völlig versagt. Das Ergebnis war, daß die Streitkräfte der DDR nie dem Vergleich mit der viel größeren Bundeswehr standhalten konnten. Bis zuletzt hatten die Russen die Deutschen gefürchtet, selbst jene, die auf ihrer Seite standen, und dann aus unerklärlichen Gründen die Wiedervereinigung zugelassen. Erich Honecker war zu dem Schluß gekommen, daß solcher Argwohn strategische Auswirkungen haben könnte, und hatte einen Teil des in Greifswald und anderswo produzierten Plutoniums abzweigen lassen. Manfred Fromm verstand von Atomwaffen ebensoviel wie jeder russische oder amerikanische Experte, hatte aber seine Fachkenntnisse nie anwenden können. Die über zehn Jahre hinweg aufgebauten Plutoniumbestände waren als letzte Geste marxistischer Solidarität den Russen übergeben worden, um zu verhindern, daß sie der Bundesregierung in die Hände fielen. Dieser letzte ehrenhafte Akt hatte zu bitteren gegenseitigen Beschuldigungen geführt und das Verhältnis so verschlechtert, daß eine letzte Ladung Plutonium in dem Versteck blieb. Alle Beziehungen, die Fromm und seine Kollegen zu den Sowjets gehabt hatten, existierten nun nicht mehr.
»Ich habe ein gutes Angebot.« Fromm nahm einen großen braunen Umschlag von seinem unaufgeräumten Schreibtisch. »Ich soll nach Argentinien gehen. Leute aus dem Westen arbeiten dort schon seit Jahren mit früheren Kollegen von mir zusammen.«
»Was wird dir geboten?«
»Eine Million Mark pro Jahr bis zur Fertigstellung des Projekts, steuerfrei und auf einem Nummernkonto, eben die üblichen Lockmittel«, sagte Fromm emotionslos und verschwieg, daß dieses Angebot für ihn nicht in Frage kam. Für Faschisten arbeiten? Ausgeschlossen. Eher atmete er Wasser. Fromms Großvater war Gründungsmitglied des Spartakusbundes gewesen und kurz nach Hitlers Machtergreifung in einem der ersten Konzentrationslager ums Leben gekommen. Sein Vater, Mitglied der kommunistischen Widerstandsbewegung und eines Spionagerings, hatte wie durch ein Wunder den Krieg und die Verfolgung durch Gestapo und Sicherheitsdienst überlebt und war als geachtetes Parteimitglied gestorben. Fromm selbst hatte den Marxismus-Leninismus schon von frühester Kindheit an eingeimpft bekommen, und die Tatsache, daß er seine Stellung verloren hatte, machte ihn der neuen Gesellschaftsordnung, die zu hassen er erzogen worden war, nicht gewogener. Sein wichtigstes Berufsziel hatte er nicht erreicht und mußte sich von einem Jüngelchen aus Göttingen wie ein Laufbursche behandeln lassen. Das Schlimmste aber war: Seine Frau wollte, daß er die Stelle in Argentinien annahm, und sie machte ihm das Leben zur Hölle, weil er sich weigerte, das Angebot auch nur zu erwägen. Es lag auf der Hand zu fragen: »Was führt dich hierher, Günther? Im ganzen Land wird nach dir gefahndet, und du bist hier trotz deiner geschickten Verkleidung in Gefahr.«
Bock lächelte selbstsicher. »Erstaunlich, was Perücke und Brille ausmachen.«
»Damit ist meine Frage nicht beantwortet.«
»Bei Freunden von mir werden deine Fachkenntnisse gebraucht.«
»Und was wären das für Freunde?« fragte Fromm mißtrauisch.
»Leute, die für uns beide politisch akzeptabel sind. Ich habe Petra nicht vergessen«, erwiderte Bock.
»Tja, unser Plan damals war gut. Was ging schief?«
»Wir hatten eine Verräterin in unseren Reihen. Ihretwegen wurden drei Tage vor der Aktion die Sicherheitsmaßnahmen am AKW verschärft.«
»Eine Grüne?«
Günther lächelte bitter. »Ja, sie kriegte kalte Füße, als sie an die Zivilopfer und den Umweltschaden dachte. Na, inzwischen ist sie ein Teil der Umwelt.« Petra hatte abgedrückt. Nichts war schlimmer als Verrat, und es war nur angemessen gewesen, daß Petra die Exekution übernahm.
»Teil der Umwelt, sagtest du? Wie poetisch.« Fromms bisher erster Scherz mißlang. Er war ein ausgesprochen humorloser Mensch.
»Geld kann ich dir keins bieten, und weitere Informationen auch nicht. Du mußt dich auf der Basis dessen, was ich gerade gesagt habe, entscheiden.« Bock trug zwar keine Pistole, aber ein Messer, und er fragte sich, ob Fromm die Alternative klar war. Vermutlich nicht, dachte er. Manfred denkt zwar ideologisch pur, ist aber doch ein engstirniger Technokrat.
»Wann fahren wir los?«
»Wirst du überwacht?«
»Nein. Ich mußte wegen des argentinischen Angebots in die Schweiz«, sagte Fromm, »denn so etwas kann man in diesem Land nicht besprechen, selbst wenn es vereinigt und glücklich ist. Ich habe die Reisevorbereitungen selbst getroffen und bezweifle, daß ich überwacht werde.«
»Gut, dann fahren wir sofort. Du brauchst nichts mitzunehmen.«
»Was sage ich meiner Frau?« fragte Fromm und wunderte sich dann, daß er sich darüber überhaupt Gedanken machte. Glücklich war seine Ehe nämlich nicht gerade.
»Das ist deine Angelegenheit.«
»Laß mich wenigstens ein paar Sachen einpacken. Wie lange...?«
»Kann ich nicht sagen.«
Es dauerte eine halbe Stunde. Fromm erklärte seiner Frau, er müsse für ein paar Tage geschäftlich verreisen. Sie küßte ihn dankbar und freute sich schon auf Argentinien. Vielleicht ein Land, in dem es sich gut leben ließ. Vielleicht hatte sein alter Freund ihn zur Vernunft gebracht. Immerhin fuhr er Mercedes und wußte, was die Zukunft bot.
Drei Stunden später bestiegen Bock und Fromm eine Maschine nach Rom. Nach einem einstündigen Aufenthalt flogen sie über Istanbul nach Damaskus, wo sie in einem Hotel abstiegen, um sich die verdiente Ruhe zu gönnen.
Wenn das überhaupt möglich ist, dachte Ghosn, sieht Marvin Russell jetzt noch imposanter aus. Das wenige überschüssige Fett hatte er sich inzwischen abgeschwitzt, das tägliche Training mit den Soldaten der Bewegung hatte ihn noch muskulöser werden lassen – und so braun, daß man ihn fast mit einem Araber verwechseln konnte. Nur seine Religion störte. Seine Kameraden meldeten, er sei ein echter Heide, ein Ungläubiger, der ausgerechnet die Sonne anbetete. Das versetzte die Moslems in Unruhe. Doch Leute bemühten sich diskret, ihn zum wahren Glauben, dem Islam, zu bekehren, und es hieß, daß er ihnen respektvoll zuhörte. Außerdem ging die Rede, daß er mit jeder Waffe und über jede Entfernung absolut sicher traf und der tödlichste Nahkämpfer war, dem man je begegnet war – er hatte einen Ausbilder fast zum Krüppel geschlagen -, und daß er sich im Gelände so leise und listig bewegte wie ein Fuchs. Der geborene Krieger, war die allgemeine Einschätzung. Abgesehen von seiner exzentrischen Religion wurde er von den anderen bewundert und gemocht.
»Marvin, wenn du dich so weiterentwickelst, krieg’ ich Angst vor dir!« sagte Ghosn lachend zu seinem amerikanischen Freund.
»Ibrahim, zu euch zu kommen war der beste Entschluß meines Lebens. Ich wußte ja gar nicht, daß auch andere Leute so saumäßig behandelt werden wie mein Volk – aber ihr könnt besser zurückschlagen. Ihr habt echt Mut.« Ghosn blinzelte – das von einem Mann, der einem Polizisten den Hals gebrochen hatte, als wär’s ein dürrer Ast gewesen. »Ehrlich, ich will euch helfen, will tun, was ich kann.«
»Für einen richtigen Krieger haben wir immer Platz.« Mit besseren Sprachkenntnissen gäbe er einen guten Ausbilder ab, dachte Ghosn. »So, und ich muß jetzt fort.«
»Wo willst du hin?«
»Zu einem Haus von uns im Osten.« In Wirklichkeit stand es im Norden. »Ich habe eine schwierige Arbeit zu erledigen.«
»An dem Ding, das wir ausgegraben haben?« fragte Russell beiläufig – nach Ghosns Geschmack fast zu beiläufig. Aber der Indianer konnte doch unmöglich Bescheid wissen. Vorsicht war eine Sache, Paranoia eine andere.
»Nein, es geht um ein anderes Projekt. Tut mir leid, mein Freund, aber wir müssen die Sicherheit ernst nehmen.«
Marvin nickte. »Klar, Mann. Schlampige Sicherheit hat meinen Bruder das Leben gekostet. Bis später.«
Ghosn ging zu seinem Wagen, fuhr aus dem Lager und blieb eine Stunde lang auf der Landstraße nach Damaskus. Ausländern ist meist nicht klar, wie klein der Nahe Osten eigentlich ist – oder zumindest die wichtigen Gebiete. Jerusalem ist von Damaskus nur zwei Autostunden entfernt, und wenn nicht die sprichwörtlichen Welten die beiden Städte getrennt hätten... bisher jedenfalls, sagte sich Ghosn. In letzter Zeit hatte er ominöse Gerüchte aus Syrien gehört. War selbst diese Regierung des Kampfes müde? Eigentlich unvorstellbar, aber unmöglich war heutzutage gar nichts mehr.
Fünf Kilometer vor Damaskus entdeckte er das andere Auto am vereinbarten Platz. Er fuhr daran vorbei und zwei Kilometer weiter und wendete erst, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß er nicht observiert wurde. Eine Minute später hielt er hinter dem Fahrzeug an. Die beiden Insassen stiegen wie abgemacht aus, und der Fahrer, ein Mann aus der Bewegung, fuhr einfach weg.
»Morgen, Günther.«
»Tag, Ibrahim. Das ist mein Freund Manfred.« Nachdem die beiden in den Fond gestiegen waren, fuhr der Ingenieur sofort los.
Ghosn musterte den Neuen durch den Rückspiegel. Älter als Bock, eingesunkene Augen. Er war für das Klima falsch gekleidet und schwitzte wie ein Schwein. Ibrahim reichte ihm eine Wasserflasche aus Kunststoff. Der Neue wischte den Flaschenhals mit einem Taschentuch ab, ehe er trank. Sind wir Araber dir nicht hygienisch genug? fragte sich Ghosn empört. Nun, das ging ihn nichts an.
Die Fahrt zu ihrem neuen Haus dauerte zwei Stunden. Obwohl der Sonnenstand dem aufmerksamen Beobachter die Richtung verraten hätte, wählte Ghosn Umwege. Da er nicht wußte, welche Ausbildung dieser Manfred genossen hatte, nahm er die bestmögliche an und setzte alle Tricks ein, die er kannte. Nur ein trainierter Späher hätte ihre Route rekonstruieren können.
Kati hatte eine gute Wahl getroffen. Bis vor einigen Monaten hatte das Gebäude der Hisb’Allah als Befehlszentrale gedient. Es war in einen steilen Hang gegraben, und man hatte das Wellblechdach mit Erde bedeckt und mit Macchiasträuchern bepflanzt. Nur ein Mann mit geschultem Auge, der genau wußte, wonach er suchte, hätte es je entdecken können. Zudem verstand man sich bei der Hisb’Allah ganz besonders gut auf das Enttarnen von Spitzeln. Ein Feldweg führte am Haus vorbei zu einem verlassenen Gehöft, dessen Land selbst für Opium und Hanf, die hier vorwiegend angebaut wurden, zu ausgelaugt war. Das Innere des Gebäudes war ungefähr 100 Quadratmeter groß und bot sogar Platz für ein paar Fahrzeuge. Der Nachteil war nur, daß man hier, sollte es ein Erdbeben geben, was in der Region nicht selten vorkam, in einer Todesfalle saß. Ghosn fuhr den Wagen zwischen zwei Stützen hinein, außer Sichtweite. Dann ließ er einen Vorhang aus Tarnnetz fallen. Jawohl, Kati hatte eine gute Wahl getroffen.
Wie immer, wenn es um die Sicherheit ging, stand man vor einer schweren Wahl. Einerseits bedeutete jeder Eingeweihte mehr ein zusätzliches Risiko. Andererseits brauchte man ein paar Leute als Wachen. Kati hatte zehn Mitglieder seiner Leibwache abkommandiert, alles Männer, die für ihr Geschick und ihre Treue bekannt waren. Sie kannten Ghosn und Bock vom Sehen, und ihr Führer trat vor, um Manfred zu begrüßen.
»Was gibt’s hier?« fragte Fromm auf deutsch.
»Was es hier gibt«, versetzte Ghosn auf englisch, »ist hochinteressant.«
Fromm hatte seine Lektion gelernt.
»Kommen Sie bitte mit.« Ghosn führte sie zu einer Tür, vor der ein Mann mit einem Gewehr stand. Der Ingenieur nickte; der Posten nickte knapp zurück. Ghosn ging voran in den Raum, zog an einer Schnur, und Leuchtstoffröhren gingen an. Eine große Werkbank aus Stahl war mit einer Plane abgedeckt. Ghosn, dem die dramatischen Gesten inzwischen über waren, zog den Stoff kommentarlos weg. Nun war es Zeit für die richtige Arbeit.
»Gott im Himmel!« rief Fromm.
»So was hab’ ich noch nie gesehen«, gestand Bock. »So sieht also eine Atombombe aus ...«
Fromm setzte seine Brille auf und musterte eine Minute lang eingehend den Mechanismus. Dann schaute er auf.
»Ein amerikanisches Modell, aber nicht in Amerika hergestellt.« »Anders verkabelt. Primitiv, vielleicht dreißig Jahre alt – nein, älter in der Konstruktion, aber neueren Herstellungsdatums. Diese Platinen sind aus den späten Sechzigern oder frühen Siebzigern. Eine sowjetische Bombe? Aus dem Waffenlager in Aserbaidschan vielleicht?«
Ghosn schüttelte nur den Kopf.
»Aus Israel? Ist das denn möglich?« Diese Frage wurde mit einem Nicken beantwortet.
»Es ist möglich, mein Freund. Hier liegt sie.«
»Sie ist für den Abwurf von Flugzeugen bestimmt. Mit Tritium-Einspritzung, die die Sprengleistung auf schätzungsweise fünfzig bis siebzig Kilotonnen erhöht. Radar- und Aufschlagzünder. Sie wurde abgeworfen, detonierte aber nicht. Wieso?«
»Weil sie offenbar nicht scharf gemacht worden war. Alles, was wir geborgen haben, liegt vor Ihnen«, sagte Ghosn, der schon von Fromm beeindruckt war.
Fromm langte in die Bombe und tastete nach Buchsen. »Sie haben recht. Hochinteressant.« Nun entstand eine lange Pause. »Sie wissen wohl, daß sie wahrscheinlich repariert oder gar...«
»Ja?« fragte Ghosn, der die Antwort kannte, dazwischen.
»Aus diesem Modell kann man eine Zündeinrichtung machen.«
»Wofür?« wollte Bock wissen.
»Für eine Wasserstoffbombe«, erklärte Ghosn. »Das hatte ich schon vermutet.«
»Sie wäre natürlich klotzig und längst nicht so effizient wie moderne Konstruktionen, primitiv, aber wirkungsvoll, wie man sagt...« Fromm schaute auf. »Soll ich bei der Reparatur helfen?«
»Sind Sie dazu bereit?« fragte Ghosn.
»Zehn, nein, zwanzig Jahre lang habe ich studiert und geforscht und dachte schon, ich würde nie... Wie soll sie eingesetzt werden?«
»Macht Ihnen die Frage Kummer?«
»Doch nicht etwa in Deutschland?«
»Natürlich nicht«, versetzte Ghosn fast ärgerlich. Was hatte die Organisation schon gegen die Deutschen?
Bei Bock aber fiel der Groschen. Er schloß kurz die Augen und prägte sich den Gedanken ein.
»Gut, ich will Ihnen helfen.«
»Sie werden auch gut bezahlt«, versprach Ghosn und erkannte gleich, daß das ein Fehler gewesen war.
»So etwas tu’ ich nicht für Geld! Halten Sie mich für einen Söldner?« fragte Fromm entrüstet.
»Verzeihung, ich wollte Sie nicht beleidigen. Ein Fachmann muß eine entsprechende Vergütung bekommen. Wir sind keine Bettler.«
Und ich auch nicht, hätte Fromm beinahe gesagt, aber er blieb vernünftig. Schließlich war er nicht in Argentinien. Diese Männer waren keine Faschisten oder Kapitalisten, sondern Genossen, Revolutionäre, die es im Augenblick genau wie er wegen der politischen Umwälzungen schwer hatten. Andererseits war er sicher, daß es ihnen finanziell sehr gutging. Von den Sowjets hatten die Araber ihre Waffen nie umsonst bekommen, sondern harte Devisen zahlen müssen, selbst unter Breschnew und Andropow, und was den Sowjets, damals noch Vertreter der reinen Lehre, recht gewesen war ...
»Bitte, verzeihen Sie mir. Ich habe nur gesagt, was Sache ist, und wollte Sie nicht beleidigen. Daß Sie keine Bettler sind, weiß ich. Sie sind Soldaten der Revolution, Freiheitskämpfer, und es ist mir eine Ehre, Ihnen zu helfen, so gut ich kann.« Er winkte ab. »Zahlen Sie, was Sie für angemessen halten« – eine Menge, mehr als eine mickrigeMillion! – »aber vergessen Sie nicht, daß ich mich nicht verkaufe.«
»Es ist mir ein Vergnügen, einen Ehrenmann kennenzulernen«, sagte Ghosn und schaute zufrieden drein.
Bock fand, daß die beiden etwas zu dick aufgetragen hatten, schwieg aber. Er ahnte schon, wie man Fromm für seine Mühe entlohnen würde.
»So«, sagte Ghosn. »Und wo fangen wir an?«
»Bei der Theorie«, erwiderte Fromm. »Ich brauche Papier und Bleistift.«
»Und wer sind Sie?« fragte Ryan.
»Ben Goodley, Sir.«
»Aus Boston?« Der Dialekt war unüberhörbar.
»Ja, Sir. Kennedy-Institut. Ich war Assistent an der Uni und bin jetzt Assistent im Weißen Haus.«
»Nancy?« Ryan wandte sich an seine Sekretärin.
»Der Direktor hat ihn auf Ihren Terminkalender setzen lassen, Dr. Ryan.«
»Na, schön, Dr. Goodley«, sagte Ryan mit einem Lächeln, »kommen Sie rein.« Clark setzte sich auf seinen Platz, nachdem er den Neuen abgeschätzt hatte.
»Kaffee?«
»Haben Sie koffeinfreien?« fragte Goodley.
»Wenn Sie hier arbeiten wollen, junger Mann, gewöhnen Sie sich besser an das echte Gebräu. Nehmen Sie Platz. So, und was tun Sie in unserem Palazzo Arcano?«
»Die Kurzversion: Ich suche einen Job. Meine Dissertation befaßte sich mit nachrichtendienstlichen Operationen, ihrer Geschichte und ihren Zukunftsperspektiven. Ich muß an der Uni zwar noch einige Arbeiten abschließen, will dann aber in die Praxis.«
Jack nickte. So war auch er zur CIA gekommen. »Ihre Unbedenklichkeitsbescheinigungen?«
»Top Secret und SAP/SAR. Letztere ist neu. TS hatte ich bereits, weil ich im Zuge meiner Arbeit am Kennedy-Institut Zugang zu Präsidentenarchiven brauchte – vorwiegend in Washington, aber auch in Boston, wo John F. Kennedys Papiere liegen, und die sind immer noch streng geheim. Ich gehörte sogar zu dem Team, das die Dokumente aus der Kubakrise sichtete.«
»Unter Dr. Nicholas Bledsoe?«
»Genau.«
»Ich stimme zwar nicht mit allen seinen Schlüssen überein, aber seine Forschungsarbeit war erstklassig.« Jack hob seinen Becher zum Salut.
Goodley hatte fast die Hälfte dieser Monographie verfaßt, einschließlich der Schlußfolgerungen. »Darf ich nach Ihren Einwänden fragen?«
»Chruschtschow handelte im Grunde genommen irrational. Ich bin der Ansicht – wie die Dokumente beweisen –, daß er die Raketen nicht mit Bedacht, sondern auf einen Impuls hin stationierte.«
»Einspruch. Unsere Studie identifizierte als Hauptsorge der Sowjets unsere Mittelstreckenraketen in Europa und ganz besonders in der Türkei. Der Schluß, daß die Raketen auf Kuba nur ein Stratagem zur Stabilisierung der Lage im europäischen Theater war, liegt nahe.«
»Ihnen lagen aber nicht alle existierenden Informationen vor«, sagte Jack.
»Zum Beispiel?« fragte Goodley und verbarg seinen Ärger.
»Zum Beispiel Material, das uns Oleg Penkowskij und andere zuspielten. Diese Dokumente liegen immer noch unter Verschluß und werden auch erst in zwanzig Jahren freigegeben.«
»Ist eine Sperrfrist von fünfzig Jahren nicht ein bißchen lang?«
»In der Tat«, stimmte Ryan zu. »Aber das hat seinen Grund. Manche dieser Informationen sind noch – nun, nicht gerade aktuell, aber sie könnten Tricks verraten, die wir lieber für uns behalten.«
»Treibt man da die Geheimniskrämerei nicht etwas zu weit?« fragte Goodley und bemühe sich um einen objektiven Ton.
»Nehmen wir einmal an, daß damals ein Agent BANANE für uns arbeitete. Gut, er starb inzwischen eines natürlichen Todes, rekrutierte aber den Agenten BIRNE, und der ist noch aktiv. Finden die Sowjets heraus, wer BANANE war, haben sie einen Ansatzpunkt. Außerdem muß man bestimmte Methoden der Nachrichtenübermittlung berücksichtigen. Man spielt schon seit einer Ewigkeit Fußball, aber ein Querpaß ist immer noch ein Querpaß. Früher habe ich auch so gedacht wie Sie, Ben. Sie werden lernen, daß unsere Methoden hier einen guten Grund haben.«
Bürokratenmentalität, dachte Goodley.
»Fiel Ihnen übrigens auf, daß Chruschtschow auf seinen letzten Tonbändern Bledsoes Thesen praktisch widerlegte? Ach ja, und noch etwas.«
»Bitte?«
»Nehmen wir einmal an, daß Kennedy im Frühjahr 1961 harte Informationen vorlagen, klare Hinweise auf Chruschtschows Absicht, das sowjetische System zu verändern. 1958 warf er Marschall Schukow aus dem Präsidium und versuchte, die KP zu reformieren. Sagen wir mal, daß Kennedy über Interna Bescheid wußte und im kleinen Finger spürte, daß eine Annäherung der Blöcke möglich war, wenn er den Russen etwas Spielraum ließ. Perestroika also, nur dreißig Jahre früher. Setzen wir den Fall, daß der Präsident aus politischen Gründen entschied, weiter Druck auf Nikita auszuüben. Das würde bedeuten, daß die Sechziger nichts als ein Riesenfehler waren. Der Vietnamkrieg und alles andere – ein einziger gigantischer und unnötiger Schlamassel.«
»Das kann ich nicht glauben. Ich habe die Archive selbst durchgesehen. Es wäre auch nicht konsequent und vereinbar mit allem, was wir...«
»Ein Politiker und konsequent?« unterbrach Ryan. »Das ist ein revolutionäres Konzept.«
»Wenn Sie behaupten, daß sich das tatsächlich so zugetragen hat ...«
»Das war reine Hypothese«, sagte Jack und zog die Brauen hoch. Verdammt, dachte er, alle Informationen liegen doch vor; man braucht sie bloß zusammenzufügen. Daß das noch niemand getan hatte, bewies nur, daß sich hier wieder einmal ein größeres und bedenklicheres Problem manifestierte. Doch die meisten Sorgen machten ihm gewisse Dinge hier im Haus. Die Geschichte überließ er den Historikern ... bis er eines Tages wieder als Professor in ihre Reihen treten würde. Und wann ist es soweit, Jack? fragte er sich.
»Das wird doch kein Mensch glauben.«
»Die meisten Menschen glauben auch, daß Lyndon Johnson die Vorwahlen in New Hampshire an Eugene McCarthy wegen der Tet-Offensive verlor. Willkommen in der Firma, Dr. Goodley. Wissen Sie, was beim Erkennen der Wahrheit das Schwerste ist?«
»Und was wäre das?«
»Die Erkenntnis, daß man eins übergebraten bekommen hat. Das Ganze ist nicht so einfach, wie Sie denken.«
»Und die Auflösung des Warschauer Pakts?«
»Typischer Fall. Es lagen alle möglichen Hinweise vor, aber wir versagten trotzdem schmählich. Nun, ganz trifft das nicht zu. Viele junge Leute im DI – Direktorat Intelligence«, erklärte Jack überflüssigerweise, was Goodley gönnerhaft fand, »schlugen Krach, aber die Abteilungsleiter taten die Sache ab.«
»Und Sie, Sir?«
»Wenn der Direktor nichts dagegen einzuwenden hat, können Sie sich den Großteil meiner Analysen ansehen. Die Mehrzahl unserer Agenten und Informanten traf es auch unvorbereitet. Wir hätten es alle besser machen können, ich selbst eingeschlossen. Wenn ich eine Schwäche habe, ist es die Überbetonung der Taktik.«
»Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht?«
»So ungefähr«, gab Ryan zu. »Das ist die große Falle, aber die Erkenntnis an sich nützt auch nicht immer.«
»Deshalb hat man mich wohl hierhergeschickt«, merkte Goodley an.
Jack grinste. »So ähnlich hab’ ich hier auch mal angefangen. Wo wollen Sie starten, Dr. Goodley?«
Ben hatte natürlich bereits eine klare Vorstellung. Wenn Ryan nicht ahnte, was ihm blühte, war das sein Problem.
»Und wo besorgst du die Computer?« fragte Bock. Fromm hatte sich mit Papier und Bleistift in Klausur begeben.
»In Israel erst einmal, vielleicht auch in Jordanien oder Südzypern«, erwiderte Ghosn.
»Das wird teuflisch teuer«, warnte Bock.
»Nach dem Preis der computergesteuerten Werkzeugmaschinen habe ich mich bereits erkundigt. Die kosten allerhand.« So viel aber auch wieder nicht, dachte Ghosn. Er verfügte über Summen, von denen dieser Ungläubige nur träumen konnte. »Was dein Freund braucht, bekommt er.«