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Waffenwirkungen

Sergeant Ed Yankevich hätte eigentlich als erster merken sollen, was da vorging, aber das menschliche Nervensystem arbeitet in Tausendstelsekunden und nicht schneller. Seinen Blick fest auf den Transporter gerichtet, näherte er sich dem Fahrzeug und war gut zehn Meter davon entfernt, als die Verpuffung gerade geendet hatte und die erste Strahlung den Polizeibeamten erreichte. Getroffen wurde er von Gammateilchcn, die eigentlich Photonen sind, aus denen auch das Licht besteht, aber in diesem Fall war die Energie wesentlich größer. Diese griffen bereits das Blech des Transporters an und ließen es aufleuchten wie Neon. Unmittelbar hinter der Gammastrahlung folgten Röntgenstrahlcn, ebenfalls Photonen, aber von geringerer Energie. Den Unterschied sollte Yankevich, der als erster sterben mußte, nicht spüren. Die intensive Strahlung wurde von seinen Knochen absorbiert, die sich rasch zur Rotglut erhitzten; gleichzeitig wurde jedes Neuron in seinem Hirn erregt, als wäre es eine Glühbirne. Von alledem merkte Sergeant Yankevich nichts. Er löste sich buchstäblich auf, explodierte, nachdem sein Körper einen winzigen Bruchteil der Energie absorbiert hatte. Der Rest raste durch ihn hindurch. Die Gamma- und Röntgenstrahlen breiteten sich in alle Richtungen aus und hatten eine Wirkung, die niemand vorausgesehen hatte.

Neben dem Transporter, dessen Karosserie nun in ihre Moleküle zerfallen war, stand die Satelliteneinheit »A« von ABC. In dem Ü-Wagen befanden sich mehrere Leute, die ebenso wie Sergeant Yankevich keine Zeit bekamen, ihr Schicksal zu erahnen. Auch die komplizierten und teuren elektronischen Geräte im Fahrzeug wurden auf der Stelle zerstört. Doch am Heck war die nach Süden und nach oben ausgerichtete große Parabolantenne angebracht. In ihrer Mitte ragte wie der Stempel einer Blüte der Hohlwellenleiter auf, ein Metallrohr mit quadratischem Querschnitt, dessen innere Abmessungen in etwa der Wellenlänge des Signals entsprachen, das gerade zu dem 37 000 Kilometer über dem Äquator schwebenden Satelliten gesendet wurde.

Der Hohlwellenleiter der Einheit »A« und in der Folge die Antennen der elf anderen hinter ihr aufgestellten Ü-Wagen wurden von der Gamma- und Röntgenstrahlung getroffen, die den Metallatomen die Elektronen wegriß – in manchen Fällen war das Innere der Wellenleiter mit Gold beschichtet, was den Prozeß noch intensivierte -, und diese Atome gaben ihre Energie auf der Stelle in Form von Photonen ab. Diese Photonen formten Wellen, deren Frequenz ungefähr der des zum Satelliten gesendeten Signals entsprach, mit einem entscheidenden Unterschied allerdings: Die Sender der Ü-Wagen hatten eine Maximalleistung von 1000 Watt gehabt, meist wesentlich weniger. Der Energietransfer in den Wellenleitern aber setzte eine Million Watt in einem kurzen, orgasmischen Puls frei, der nach einer knappen Mikrosekunde endete, als das Fahrzeug mit seiner Antenne in der Energiefront verdampfte. Als nächstes wurde die B-Einheit von ABC zerstört, gefolgt von den Fahrzeugen von Trans World International und NHK, das die Superbowl nach Japan übertragen hatte. Auch die acht anderen Wagen wurden atomisiert. Dieser Prozeß dauerte ungefähr fünfzehn Wack. Da die empfangenden Satelliten weit entfernt waren, würde die Energie sie erst in einer Achtelsekunde erreichen – vergleichsweise eine Ewigkeit.

Als nächstes gingen von der Explosion, die das Fahrzeug nun verschlungen hatte, Licht und Hitze aus. Zuerst ein kurzer Blitz, der vom Feuerball abgeblendct wurde, dann ein zweiter, der sich in alle Richtungen verbreitete: der für eine Kernexplosion typische zweiphasige Puls.

Der nächste Energieeffekt, die Druckwelle, war eigentlich ein sekundärer. Die Luft absorbierte die »weichen« Röntgenstrahlen und verbrannte zu einer trüben Masse, die weitere elektromagnetische Strahlung abblockte und in mechanische Energie verwandelte, die sich mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit ausbreitete. Doch ehe die Druckwelle am Boden etwas zerstören konnte, ereignete sich in weiter Ferne etwas anderes.

ABCs Video-Hauptverbindung war ein Glasfaserkabel – eine Überlandleitung mit hoher Übertragungsqualität –, aber diese lief über die A-Einheit und war schon unterbrochen, als das Stadion selbst noch keinen Schaden genommen hatte. Die Ersatzverbindung lief über den Satelliten Telstar 301; die Pazifikküste wurde von Telstar 302 versorgt. ABC benutzte die Hauptverbindungen Netz-1 und Netz-2 dieser Relaisstationen in der Umlaufbahn. Auch Trans World International, kurz TWI, die die weltweiten Rechte für die NFL-Spiele hatte und sie nach Europa, Israel und Ägypten übertrug, bediente sich des Telstar 301. TWI sendete das Videosignal an ihre europäischen Abnehmer und lieferte auch Audioverbindungen für alle europäischen Sprachen, was meist mehr als einen Kanal pro Land bedeutete. Allein in Spanien werden zum Beispiel fünf Dialekte gesprochen, die alle ihren eigenen Audiokanal auf dem Seitenband bekamen. Die NHK, die nach Japan übertrug, benutzte sowohl den JISO-F2R als auch ihren üblichen Satelliten Westar 4, der von Hughes Aerospace betrieben wurde. Das italienische Fernsehen bediente sich des Hauptkanals 1 des Trabanten Teleglobe, der dem Konglomerat Intelsat gehört, und versorgte nicht nur seine eigenen Zuschauer, sondern auch Dubai. Außerdem lieferte es den Israelis eine Alternative zu dem Material, das TWI und Telstar in den Spielpausen sendeten. Teleglobes Hauptkanal 2 übertrug nach Südamerika. Am Stadion oder in seiner Nähe waren auch CNN, ABC-Nachrichten, CBS Newsnet und der Sportkanal ESPN vertreten. Auch Lokalsender aus Denver hatten Satelliten-Ü-Wagen an Ort und Stelle und meist an Außenseiter vermietet.

Insgesamt gab es 37 aktive Ü-Wagen, die entweder über Mikrowelle oder Ku-Band 48 aktive Video- und 168 aktive Audiosignale an eine Milliarde Sportfans in 71 Ländern sendeten, als der Gamma- und Röntgenfluxus zuschlug. In den meisten Fällen erzeugte die Strahlung ein Signal in den Wellenleitern, doch in sechs Fahrzeugen wurden die Röhren im Sender selbst erregt und strahlten einen gigantischen Puls auf ihrer exakten Frequenz aus, aber das war im Grunde nebensächlich. Resonanzen und normalerweise harmlose Unregelmäßigkeiten in den Wellenleitern hatten zur Folge, daß weite Segmente der Satellitenfrequenzen von einem Störimpuls abgedeckt wurden. Nur zwei der sich über der westlichen Hemisphäre im Orbit befindlichen Satelliten wurden von den TV-Teams in Denver nicht benutzt. Was mit dem Rest geschah, ist leicht erklärt. Ihre empfindlichen Antennen waren auf den Empfang von Milliardstel Watt eingerichtet, wurden nun aber auf einmal mit einem bis zu zehntausendmal stärkeren Signal bombardiert, und das auf vielen Kanälen. Diese Spitze überlastete die Eingangsverstärker. Das die Satelliten steuernde Computerprogramm registrierte diese Überbelastung und aktivierte Trennschaltungen, um die empfindlichen Geräte vor der Überspannung zu schützen. Wäre nur ein Empfänger so in Mitleidenschaft gezogen worden, würde der Betrieb sofort wiederaufgenommen worden sein, aber kommerzielle Nachrichtensatelliten sind immens teuer. Der Bau kostet Hunderte von Millionen, und das Verbringen in die Umlaufbahn noch einmal Millionen. Als mehr als fünf Verstärker Spitzen meldeten, begann das Programm automatisch Schaltkreis zu deaktivieren, um zu verhindern, daß der Satellit ernsthaften Schaden nahm. Und als zwanzig oder mehr betroffen waren, unterbrach die Software die Stromversorgung aller Empfangseinrichtungen und sendete ein Notsignal an die Bodenstation, um ihr mitzuteilen, daß gerade etwas Ernstes passiert war. Die Sicherheitsprogramme der Satelliten waren kundenspezifisch variierte Versionen eines einzigen, sehr konservativen Programms, dessen Aufgabe der Schutz fast unersetzlicher Aktiva im Wert von Milliarden Dollar war. In einer winzigen Zeitspanne wurde ein beträchtlicher Teil der globalen Satellitenkommunikation deaktiviert. Kabel-TV und Telefonverbindungen verstummten, noch ehe die sie steuernden Techniker merkten, daß etwas katastrophal schiefgegangen war.

 

Pete Dawkins ruhte sich einen Augenblick aus und glaubte, den Geldtransporter zu schützen. Der Mann von Wells Fargo hatte sich entfernt, um wieder ein paar hundert Kilo Münzen abzuliefern, und der Beamte saß nun mit dem Rücken zu den mit Geldsäcken gefüllten Regalen auf dem Fahrzeugboden und hörte Radio. Die Chargers stellten sich gerade an der 47-Yard-Linie der Vikings auf. In diesem Augenblick glühte der Abendhimmel draußen erst gelb und dann rot auf – aber nicht in dem friedlichen, milden Licht des Sonnenuntergangs, sondern in einem unnatürlich intensiven, grellen Violett. Sein Verstand hatte kaum Zeit, das wahrzunehmen, als er von einer Million anderer Wahrnehmungen überflutet wurde. Unter Dawkins bäumte sich die Erde auf. Der gepanzerte Geldtransporter wurde hoch und auf die Seite geschleudert wie ein Spielzeug. Die offene Hecktür knallte zu, als wäre sie von einer Kanonenkugel getroffen worden. Die Karosserie des Geldtransporters schützte ihn vor der Druckwelle – die Stadionmauern übrigens auch, aber das merkte Dawkins nicht. Dennoch war er von dem Blitz, der ihn erreicht hatte, geblendet, und der Überdruck, der wie die zerschmetternde Hand eines Riesen über ihn hinweggefahren war, hatte ihn taub gemacht. Wäre Dawkins weniger desorientiert gewesen, mochte er an ein Erdbeben gedacht haben, aber diese Idee kam ihm nicht. Er hatte nur das Überleben im Sinn. Während draußen der Lärm und die Erschütterungen weitergingen, erkannte er plötzlich, daß er in einem Fahrzeug gefangen war, dessen Tank bis zu 200 Liter Benzin enthalten konnte. Er blinzelte, bis er wieder einigermaßen sehen konnte, und kroch durch die zerschmetterte Windschutzscheibe auf einen hellen Fleck zu. Daß seine Handrücken böser aussahen als der schlimmste Sonnenbrand, den er je gehabt hatte, merkte er nicht. Ebensowenig fiel ihm auf, daß er stocktaub war. Er wollte nur unbedingt ans Licht.

 

Bei Moskau befindet sich unter 60 Metern Beton das nationale Hauptquartier der sowjetischen Luftverteidigung Wojska PWO. Die neue Einrichtung war nach dem Vorbild ihrer westlichen Pendants wie ein Theater angelegt, damit so viele Personen wie möglich die Daten auf den großen Kartendisplays an der Wand sehen konnten. Die Digitaluhr über dem Display zeigte 03:00:13 Uhr Ortszeit an, 00:00:13 Uhr Zulu (Weltzeit) und 19:00:13 Uhr in Washington, D.C.

Dienst hatte Generalleutnant Iwan Grigorijewitsch Kuropatkin, ein ehemaliger (»ehemalig« hörte er gar nicht gern) Kampfpilot, der nun 51 Jahre alt war. Als dritthöchster Offizier dieses Postens arbeitete er nach dem normalen Dienstplan. Sein Rang hätte es ihm zwar erlaubt, eine angenehmere Schicht zu wählen, aber die neue sowjetische Armee sollte professionell werden, und ein professioneller Offizier, dachte er, geht mit gutem Beispiel voran. Umgeben war er von seinem üblichen Gefechtsstab, der sich aus Obersten und Majoren zusammensetzte; dazu gab es ein paar Hauptleute und Leutnants für die untergeordneten Aufgaben.

Wojska PWO hatte den Auftrag, die Sowjetunion gegen Angriffe zu verteidigen. Im Raketenzeitalter und angesichts des Fehlens wirksamer Abwehrmaßnahmen gegen ballistische Flugkörper – daran arbeiteten beide Seiten noch – war seine Pflicht weniger die Verteidigung als die Vorwarnung. Kuropatkin gefiel das zwar nicht, aber er konnte es auch nicht ändern. In einer geostationären Umlaufbahn über der Küste von Peru überwachten zwei Satelliten  – Adler-I und Adler-II – die Vereinigten Staaten und hatten die Aufgabe, einen Raketenabschuß zu melden, sobald der Flugkörper sein Silo verließ. Diese Satelliten waren auch in der Lage, einen seegestützten Abschuß aus dem Golf von Alaska zu registrieren, aber ihr Beobachtungsbereich nach Norden hin war vom Wetter abhängig, das im Augenblick scheußlich war. Das Display für die Signale der Adler im Orbit zeigte das Infrarot-Spektrum an, also vorwiegend Wärmestrahlung. Auf dem Schirm erschien nur das, was die Kamera wahrnahm; auf einen Rand oder andere computererzeugte Daten hatten die russischen Konstrukteure verzichtet, weil sie der Ansicht waren, daß so etwas nur zu überflüssigem Wirrwarr führte. Es war nicht Kuropatkin, sondern ein junger Offizier, dem etwas ins Auge fiel, als er von seinen Berechnungen aufschaute. Er wandte automatisch und ganz unwillkürlich den Blick und erkannte den Grund erst eine volle Sekunde später.

In der Mitte des Displays war ein weißer Punkt erschienen.

»Nitschewo ...«Das verwarf er sofort. »Isolieren und vergrößern!« befahl er laut. Der Oberst an den Bedienungselementen neben ihm war schon dabei.

»Zentrale USA, General. Thermische Signatur in Form eines Doppelblitzes, wahrscheinlich eine nukleare Explosion«, sagte der Oberst mechanisch. Sein fachmännisches Urteil gewann die Oberhand über seinen Verstand, der das nicht glauben wollte.

»Koordinaten?«

»Werden gerade ermittelt, General.« Die große Entfernung zwischen Satellit und Zentrale brachte eine Verzögerung mit sich. Als das Teleobjektiv im Satelliten die Signatur näher heranzuholen begann, vergrößerte sich der von dem Feuerball erzeugte Lichtfleck rasch. Das kann doch kein Fehler sein, war Kuropatkins erster Eindruck, und bei dem Anblick des heißen Flecks bekam er das Gefühl, einen Klumpen Eis in der Magengrube zu haben.

»Zentrale USA, scheint die Stadt Densva zu sein.«

»Denver? Was, zum Kuckuck, ist in Denver?« herrschte Kuropatkin ihn an. »Stellen Sie das fest.«

»Sofort, General.«

Kuropatkin griff bereits nach einem Telefon. Die Leitung verband ihn direkt mit dem Verteidigungsministerium und auch mit dem Amtssitz des sowjetischen Präsidenten. Er sprach rasch, aber klar.

»Achtung: Hier Generalleutnant Kuropatkin, PWO-Zentrale Moskau. Wir haben soeben eine nukleare Explosion in den Vereinigten Staaten registriert. Ich wiederhole: Wir haben soeben eine nukleare Explosion in den Vereinigten Staaten registriert.«

Jemand fluchte, wohl ein Mitglied von Narmonows Nachtstab.

Eine zweite Stimme, die des Offiziers vom Dienst im Verteidigungsministerium, klang sachlicher. »Wie sicher können Sie sein?«

»Doppzlblitz-Signatur«, erwiderte Kuropatkin, der von seiner eigenen Gelassenheit überrascht war. »Ich sehe gerade mit an, wie sich der Feuerball ausbreitet. Diese Detonation ist eindeutig nuklear. Ich gebe weitere Daten durch, sobald sie vorliegen – ja, was ist?« fragte er einen Major.

»General, Adler-II bekam gerade eine gewaltige Energiespitze ab. Vier SHF-Kanäle schalteten sich vorübergehend ab, ein anderer ist ganz ausgefallen«, meldete der Offizier, über den Schreibtisch des Generals gebeugt.

»Was ist passiert, was war das?«

»Das weiß ich nicht.«

»Stellen Sie es fest.«

Gerade als San Diego sich an der 47-Yard-Linie aufstellte, fiel das Bild aus. Fowler trank sein viertes Bier zu Ende und stellte das Glas ärgerlich ab. Blödes Fernsehvolk; wahrscheinlich war jemand über ein Kabel gestolpert, und ihm entging jetzt ein Teil des spannenden Spieles. Ich hätte dabeisein sollen, dachte er, trotz der Warnungen des Secret Service. Er warf einen Blick zu Elizabeth hinüber, um zu sehen, was sie sich anschaute, aber auch ihr Bild war ausgefallen. Hatte womöglich ein Marine mit dem Schneepflug das Kabel zerrissen? Gutes Personal ist schwer zu finden, motzte der Präsident insgeheim. Aber halt, es mußte an etwas anderem liegen. Baltimores Kanal 13 (WJZ), ein ABC angegliederter Sender, ließ »Störung – wir bitten um Geduld« erscheinen, während Elizabeths Kanal nun nur rosa Rauschen sendete. Sehr merkwürdig. Wie jeder männliche Fernsehzuschauer griff Fowler nach der Fernbedienung und schaltete um. Auch CNN sendete nicht, aber die Lokalstationen in Baltimore und Washington brachten ihr normales Programm. Er hatte gerade begonnen, sich Gedanken zu machen, was das zu bedeuten hatte, als es schrillte: ein mißtönendes, durchdringendes Signal, das von einem der vier Telefone auf der Ablage unter dem Couchtisch ausging. Er streckte die Hand aus und merkte erst dann, welcher Apparat das Geräusch erzeugte; er bekam eine Gänsehaut. Es war das rote Telefon, das ihn mit dem Befehlszentrum NORAD (North American Aerospace Command) im Berg Cheyenne, Colorado, verband.

»Hier spricht der Präsident«, sagte Fowler mit einer heiseren, auf einmal ängstlich klingenden Stimme.

»Mr. President, hier Major General Joe Borstein, NORAD. Sir, wir haben gerade eine nukleare Explosion in der Mitte der Vereinigten Staaten registriert.«

»Wie bitte?« fragte der Präsident nach einer Pause von zwei oder drei Sekunden.

»Sir, es hat eine nukleare Explosion stattgefunden. Wo genau, stellen wir eben noch fest, aber sie scheint sich in der Umgebung von Denver ereignet zu haben.«

»Sind Sie auch sicher?« fragte Fowler und wahrte nur mit Mühe die Fassung.

»Wir prüfen zwar im Augenblick unsere Instrumente noch einmal durch, Sir, sind aber ziemlich sicher. Sir, wir wissen nicht, was passiert ist oder auf welche Weise eine Bombe dort hinkam, aber es hat eine nukleare Explosion gegeben. Ich muß Sie dringend ersuchen, sich an einen sicheren Platz zu begeben. Mittlerweile versuchen wir herauszufinden, was sich tut.«

Fowler schaute auf. Auf den Bildschirmen hatte sich nichts geändert, und nun gingen überall in Camp David die Alarmhörner los.

 

Der Luftstützpunkt Offutt bei Omaha im Staat Nebraska war früher einmal als Fort Crook bekannt. Die ehemalige Kavalleriekaserne hat schöne, wenn auch etwas anachronistisch anmutende Unterkünfte für die höchsten Offiziere, Ziegelbauten mit rückwärtigen Ställen für Pferde, die man nicht mehr brauchte, und vor den Gebäuden einen ebenen Paradeplatz, der so groß war, daß ein Kavallerieregiment auf ihm exerzieren konnte. Nicht weit davon entfernt liegt das Hauptquartier der Befehlszentrale Strategie Air Command (SAC), ein sehr viel modernerer Komplex, vor dem in Form einer B-17 »Flying Fortress« aus dem Zweiten Weltkrieg eine Antiquität steht. Außerhalb des Gebäudes und unterirdisch liegt der 1989 fertiggestellte Befehlsstand. Dieser große Raum, witzelten Lästerzungen, war gebaut worden, weil Hollywoods Version der SAC-Zentrale immer viel eindrucksvoller wirkte als der Befehlsstand, den die SAC ursprünglich eingerichtet hatte, und da wollte die Air Force die Realität wohl der Fiktion angleichen.

Major General Chuck Timmons, stellvertretender Stabschef (Operationen), hatte die Gelegenheit genutzt, seine Wache hier und nicht in seinem Büro oben zu stehen, und aus dem Augenwinkel auf einem der acht großen Bildschirme die Superbowl mitverfolgt. Zwei andere Schirme aber zeigten in Echtzeit, was die Kameras der DPS (Abwehrunterstützungsprogramm-)Satelliten aufnahmen, und er hatte den Doppelblitz in Denver so rasch wie seine Kollegen anderswo wahrgenommen. Timmons ließ seinen Stift fallen. Hinter seinem Gefechtsstabsplatz befanden sich mehrere verglaste Räume (Einrichtungen wie diese haben zwei Geschosse), in denen rund um die Uhr über 50 Personen arbeiteten. Timmons nahm den Hörer ab und drückte den Knopf für die Leitung, die ihn mit dem leitenden Aufklärungsoffizier verband.

»Ich hab’s gesehen, Sir.«

»Ist ein Fehler möglich?«

»Negativ, Sir. Laut Testschaltung funktioniert der Satellit einwandfrei.«

»Halten Sie mich auf dem laufenden.« Timmons wandte sich an seinen Stellvertreter. »Rufen Sie den Chef. Alarmieren Sie alles Personal. Ich brauche ein volles Krisenteam und einen vollen Gefechtsstab, und zwar sofort!« Seinem für Operationen zuständigen Offizier befahl er: »Bringen Sie ›Spiegel‹ in die Luft! Und alarmieren Sie die strategischen Bombergeschwader, sie sollen sich zum sofortigen Start bereithalten. Alarm an alle betroffenen Einheiten.«

In einem verglasten Raum links hinter dem General drückte ein Sergeant auf einige Knöpfe. Die SAC hielt zwar schon seit langem ihre Flugzeuge nicht mehr rund um die Uhr in der Luft, wohl aber um die 30 Prozent der Maschinen in Alarmbereitschaft. Der Befehl ging über eine Landleitung und in Form einer computererzeugten Stimme heraus, da man zu dem Schluß gekommen war, daß ein Mensch, wenn er erregt war, undeutlich sprechen mochte. Innerhalb von 20 Sekunden war er übertragen, und die Operationsoffiziere der betroffenen Geschwader wurden sofort aktiv.

In Alarmbereitschaft waren im Moment zwei Geschwader, das 416. des Luftstützpunktes Griffiss in Plattsburg, Staat New York, das die B-52 flog, und das 384., auf der McConnell Air Force Base in Kansas; diese Einheit hatte den neuen Bomber B-1B. In Kansas hasteten die Besatzungen aus ihren Bereitschaftsräumen, wo sie sich fast alle ebenfalls die Superbowl angesehen hatten, zu bereitstehenden Fahrzeugen, die sie zu ihren bewachten Flugzeugen brachten. Der erste Mann jeder vierköpfigen Besatzung schlug auf den Notstartknopf am Bugfahrwerk und rannte dann nach hinten, um über die Leiter in die Maschine zu klettern. Noch ehe die Crews angeschnallt waren, liefen die Triebwerke an. Die Bodenmannschaften rissen die mit roten Fähnchen markierten Sicherungsbolzen heraus. Mit Gewehren bewaffnete Posten traten dem Flugzeug aus dem Weg und brachten ihre Waffen nach außen in Anschlag, um jede denkbare Bedrohung abzuwehren. Zu diesem Zeitpunkt wußte noch niemand, daß man es keinesfalls mit einer ungünstig angesetzten Übung zu tun hatte.

Die erste Maschine, die in Kansas anrollte, war die B- 1 B des Geschwaderkommandeurs. Der athletische 45jährige Colonel genoß auch das Privileg, sein Flugzeug dem Bereitschaftsgebäude am nächsten abstellen zu dürfen. Sobald seine vier Triebwerke liefen und der Weg frei war, löste er die Bremsen und rollte zur Startbahn, die er zwei Minuten später erreichte. Als er an Ort und Stelle war, erhielt er Anweisung zum Warten.

 

Eine KC-135 auf dem Stützpunkt Offutt unterlag solchen Restriktionen nicht. Die modifizierte – und 25 Jahre alte – Boeing 707 mit dem Codenamen »Spiegel« hatte einen General und einen reduzierten Gefechtsstab an Bord und startete gerade in die Abenddämmerung. Funk- und Kommunikationsgeräte an Bord waren soeben erst eingeschaltet worden, und der Offizier hatte noch nicht erfahren, was der Grund für den ganzen Aufruhr war. Am Boden wurden drei weitere identische Maschinen startklar gemacht.

»Was ist los, Chuck?« fragte der Oberbefehlshaber der SAC, CINC-SAC genannt, als er eintrat. Er trug Freizeitkleidung und hatte sich die Schuhe noch nicht zugebunden.

»Nukleare Explosion in Denver. Außerdem sind, wie wir gerade erfahren haben, Satellitenverbindungen ausgefallen. ›Spiegel‹ hat abgehoben. Ich weiß immer noch nicht genau, was los ist, aber Denver ist in die Luft geflogen.«

»Lassen Sie die Bomber aufsteigen«, befahl der CINC-SAC. Timmons gab einem Kommunikationsoffizier einen Wink, und der Befehl wurde weitergegeben. 20 Sekunden später donnerte die erste B-1B über die Startbahn.

 

Feinheiten waren jetzt fehl am Platze. Ein Captain der Marines stieß die Tür zum Blockhaus des Präsidenten auf und warf Fowler und Liz Elliot zwei weiße Parkas zu, noch ehe der erste Agent des Secret Service erschienen war.

»Bitte Beeilung, Sir!« drängte er. »Der Hubschrauber ist noch defekt.«

»Wohin?« Pete Connor kam mit aufgeknöpftem Mantel herein und bekam gerade noch mit, was der Captain gesagt hatte.

»Zum Befehlsstand, wenn Sie nichts dagegen haben. Der Hubschrauber ist defekt«, sagte der Marine noch einmal. »Kommen Sie mit, Sir!« schrie er den Präsidenten fast an.

»Bob!« rief Liz Elliot etwas besorgt. Sie wußte nicht, was der Präsident am Telefon erfahren hatte; fest stand nur, daß er blaß und geschockt aussah. Beide zogen die Parkas an und gingen ins Freie. Dort sahen sie eine ganze Korporalschaft Marines im Schnee liegen und mit geladenen Gewehren nach außen zielen. Sechs Soldaten umringten den HMMWV, kurz »Hummer« genannt, dessen Motor mit hoher Drehzahl lief.

 

Vom Stützpunkt der Marineflieger Anacostia in Washington startete die Besatzung von Marine Two – als Marine One wurde der Hubschrauber erst bezeichnet, wenn der Präsident an Bord war – in einer besorgniserregend dichten Schneewolke, gewann aber rasch an Höhe und ließ den Bodeneffekt hinter sich. Nun war die Sicht besser. Der Pilot, ein Major, drehte nach Nordwesten ab und fragte sich, was eigentlich los war. Wer überhaupt etwas wußte, konnte nur sagen, daß er nichts wußte. Aber das war für die nächsten paar Minuten nicht entscheidend. Wie bei jeder Organisation waren auch hier die Maßnahmen für den Notfall geplant und gründlich geübt worden, damit im Fall der Fälle eine Mischung aus Unentschlossenheit und Gefahr keine Panik auslöste.

 

»Was, zum Teufel, tut sich in Denver, das ich wissen sollte?« fragte General Kuropatkin in seinem Bunker bei Moskau.

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte sein Aufklärungsoffizier aufrichtig.

Wie hilfreich, dachte der General, griff nach dem Hörer und rief den militärischen Nachrichtendienst GRU an.

»Operationen/Lageraum«, meldete sich jemand.

»General Kuropatkin, POW Moskau.«

»Ich weiß, warum Sie anrufen«, versicherte der Oberst des GRU.

»Was gibt es in Denver? Vielleicht ein Atomwaffenlager oder so etwas Ähnliches?«

»Nein, General. In der Nähe befindet sich das Rocky Mountain Arsenal, wo für die Vernichtung bestimmte C-Waffen zwischengelagert werden. Es soll in ein Panzerdepot der Nationalgarde – das ist die amerikanische Reservearmee - umgewandelt werden. Und bei Denver gibt es auch die Anlage Rocky Flats, wo früher einmal Waffenkomponenten hergestellt wurden -«

»Wo genau liegt Rocky Flats?« fragte Kuropatkin.

»Nordwestlich der Stadt. Ich glaube aber, daß sich die Explosion am südlichen Stadtrand ereignet hat.«

»Korrekt. Fahren Sie fort.«

»Auch Rocky Flats wird stillgelegt. Unseren besten Informationen nach sind dort keinen Waffenkomponenten mehr zu finden.«

»Kommen Waffen beim Transport durch diese Anlage? Zum Donner, irgend etwas muß ich wissen!« Der General regte sich langsam auf.

»Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wir tappen ebenso im dunkeln wie Sie. Vielleicht weiß der KGB mehr.«

Für Ehrlichkeit konnte man einen Mann nicht bestrafen, das wußte Kuropatkin, der nun eine andere Nummer wählte. Wie die meisten Berufssoldaten hatte er für die Spione nicht viel übrig, aber dieser Anruf war notwendig.

»Staatssicherheit, Offizier vom Dienst«, sagte ein Mann.

»Bitte die Amerika-Abteilung, Offizier vom Dienst.«

»Moment, bitte.« Nach dem üblichen Klicken und Piepen meldete sich eine Frau. »Amerika-Abteilung.«

»Hier Generalleutnant Kuropatkin, PWO-Zentrale Moskau. Ich muß wissen, was sich in Denver tut.«

»Nicht sehr viel. Denver ist eine Großstadt und nach Washington das zweitgrößte Verwaltungszentrum der Bundesregierung. Im Augenblick ist es dort Sonntagabend, und da sollte nicht viel los sein.« Kuropatkin hörte Papier rascheln. »Ah, noch etwas.«

»ja?«

»Das Endspiel um die Meisterschaft im amerikanischen Football. Es wird gerade in Denver in einem neuen Stadion ausgetragen, das meines Wissens überdacht ist.«

Kuropatkin mußte sich beherrschen, um die Frau nicht zurechtzuweisen. Nebensächlichkeiten! »Das interessiert mich nicht. Gibt es dort Unruhen, Demonstrationen oder sonstige Probleme? Oder ein Waffenarsenal, eine geheime Einrichtung, von der ich nichts weiß?«

»General, Sie haben Zugang zu allen Informationen, die uns vorliegen. Was ist der Grund Ihrer Anfrage?«

»Gute Frau, es hat dort eine Atomexplosion gegeben.«

»In Denver?«

»ja!«

»Und wo genau?« fragte sie und blieb gelassener als der General.

»Augenblick.« Kuropatkin drehte sich um. »Ich brauche sofort die Koordinaten der Explosion.«

»39° 40' nördlicher Breite, 105° 6' westlicher Länge. Das sind nur ungefähre Werte«, fügte der Leutnant an der Satellitenkonsole hinzu. »Die Auflösung im Infrarotspektrum ist nicht sehr hoch, General.« Kuropatkin gab die Koordinaten weiter.

»Moment, bitte«, sagte die Frau. »Ich muß eine Karte holen.«

 

Andrej Iljitsch Narmonow schlief. In Moskau war es 3.10 Uhr am Morgen. Das Telefon weckte ihn, und einen Augenblick später ging seine Schlafzimmertür auf, was Narmonow fast in Panik versetzte, denn niemand durfte sein Schlafzimmer ohne Erlaubnis betreten. Herein kam der KGB-Major Pawel Chrulow, der stellvertretende Chef der Leibwache des Präsidenten.

»Herr Präsident, es liegt ein Notfall vor. Sie müssen sofort mit mir kommen.«

»Was ist los, Pascha?«

»In Amerika hat es eine nukleare Explosion gegeben.«

»Was? Wer hat -«

»Mehr weiß ich nicht. Wir müssen sofort in den Bcfchlsbunker. Ihr Wagen steht bereit. Zum Anziehen ist keine Zeit.« Chrulow warf ihm einen Morgenmantel zu.

Ryan drückte seine Zigarette aus und ärgerte sich immer noch über die »Störung«, wegen der er das Spiel nicht sehen konnte. Goodley kam mit zwei Dosen Coke herein. Ihr Abendessen hatten sie bereits bestellt.

»Was ist los?« fragte Goodley.

»Bildausfall.« Ryan nahm seine Dose und machte sie auf.

 

Im SAC-Hauptquartier schaute ein weiblicher Lieutenant-Colonel ganz links in der dritten Reihe der Gefechtsstabssitze auf die Übersicht der Kabel-TV-Stationen. Im Raum gab es acht in zwei Viererreihen übereinander angeordnete Fernsehgeräte, auf deren Schirme man über 50 separate Displays bringen konnte. Als Frau vom Geheimdienst wählte sie instinktiv zuerst die Nachrichtensender. Sie griff nach der Fernbedienung und stellte fest, daß weder CNN noch der Schwesterkanal CNN Headline News sendete. Nun wußte sie, daß diese Programme über verschiedene Satellitenkanäle ausgestrahlt wurden, und das weckte ihre Neugier, den vielleicht wichtigsten Aspekt der Geheimdienstarbeit. Da sie über das System auch Zugang zu anderen Kabelsendern hatte, ging sie einen nach dem anderen durch. Kein Signal von HBO. Keine Filme auf Showtime. Statt Sport gab es bei ESPN nur Gries. Sie schlug nach und stellte fest, daß mindestens vier Satelliten nicht funktionierten. An diesem Punkt stand sie auf und ging hinüber zum CINC-SAC.

»Sir, ich bin auf etwas sehr Merkwürdiges gestoßen.«

»Ja?« gab der CINC-SAC zurück, ohne sich umzudrehen.

»Mindestens vier kommerzielle Satelliten sind ausgefallen, darunter ein Telstar, ein Intelsat und ein Hughes.«

Auf diese Eröffnung hin drehte sich der CINC-SAC um. »Was können Sie mir noch sagen?«

»Sir, NORAD meldet, die Explosion habe sich im Großraum Denver ereignet, in der Nähe des Skydome, wo die Superbowl stattfindet. Der Außenminister und der Verteidigungsminister waren beim Spiel.«

»Mein Gott! Sie haben recht.«

 

Auf dem Luftstützpunkt Andrews wartete der fliegende Befehlsstand NEACP am Flugsteig auf das Eintreffen des Präsidenten oder seines Vize. Zwei der vier Triebwerke liefen.

 

Captain Jim Rosselli hatte gerade eine Stunde Dienst getan, als sein Alptraum begann. Er saß im Lageraum des National Military Command Center (NMCC) und bedauerte, daß kein Flaggoffizier anwesend war. Früher war immer ein General oder Admiral zugegen gewesen, aber seit dem Tauwetter zwischen Ost und West und den Etatkürzungen im Pentagon waren Offiziere dieses Ranges zwar immer erreichbar, aber die normale Verwaltungsarbeit wurde von Captains und Colonels erledigt. Rosselli fand, daß es auch schlimmer hätte kommen können. Wenigstens wußte er nun, wie man sich fühlte, wenn man die Verfügungsgewalt über eine Menge Atomwaffen hatte.

»Verdammt, was geht hier vor?« fragte Lieutenant Colonel Richard Barnes und starrte auf die Wand. Daß auch Rosselli keine Antwort hatte, wußte er.

»Rocky, heben wir uns das für ein andermal auf?« schlug Rosselli ruhig und in völlig gelassenem Ton vor. Gesicht und Stimme des Captains verrieten keine Erregung, aber die Hände des ehemaligen U-Boot-Kommandanten waren so feucht, daß er sie immer wieder an seinen Hosenbeinen abwischen mußte. Zum Glück ließ der marineblaue Stoff die nassen Flecken unsichtbar.

»Da haben Sie recht, Jim.«

»Holen wir General Wilkes.«

»Ja.« Barnes drückte auf einen Knopf am Geheimtelefon und rief Brigadegeneral Paul Wilkes an, einen ehemaligen Bomberpiloten, der eine Dienstunterkunft auf dem Luftstützpunkt Bolling jenseits des Potomac hatte.

»Ja«, meldete sich Wilkes bärbeißig.

»Hier Barnes. Sir, Sie werden sofort im NMCC gebraucht.« Mehr brauchte der Colonel nicht zu sagen. »Sofort« hat für Flieger eine besondere Bedeutung.

»Schon unterwegs.« Wilkes legte auf und murmelte weiter: »Zum Glück gibt’s Allradantrieb.« Er zog einen gefütterten olivgrünen Parka an, verzichtete auf Stiefel und ging hinaus. Privat fuhr er einen Toyota Land Cruiser, mit dem er gerne die Provinz erkundete. Der Motor sprang sofort an. Wilkes stieß zurück und begann die riskante Fahrt über noch nicht geräumte Straßen.

 

Der Krisenbunker in Camp David war nach Bob Fowlers Auffassung ein anachronistisches Überbleibsel aus der bösen alten Zeit. Er war unter Eisenhower gebaut worden und sollte auch einen Atomschlag überstehen können – in einer Ära, in der man die Treffgenauigkeit einer Rakete in Kilometern und nicht in Metern maß. Der Raum, in den Granit der Catoctin Mountains im Westen Marylands gesprengt, lag unter einer 18 Meter dicken Felsschicht und war bis 1975 sehr sicher und überlebensfähig gewesen. Er war neun Meter breit, zwölf Meter lang und drei Meter hoch, und in ihm arbeiteten zwölf Personen, vorwiegend Kommunikationsexperten der Navy, sechs davon Mannschaftsgrade. Die Ausrüstung war nicht ganz so modern wie in NEACP oder anderen Einrichtungen, die dem Präsidenten zur Verfügung standen. Er saß an einer Konsole, die im Stil an NASA-Geräte aus den Sechzigern erinnerte. In die Schreibtischplatte war sogar ein Aschenbecher eingelassen. Davor stand eine Reihe von Fernsehern. Der Sessel war gemütlich, die augenblickliche Lage aber nicht. Elizabeth Elliot setzte sich neben ihn.

»So«, sagte Präsident J. Robert Fowler. »Was, zum Teufel, geht hier vor?«

Der ranghöchste Offizier war, wie er sah, ein Lieutenant Commander der Navy. Nicht besonders vielversprechend, dachte er.

»Sir, Ihr Hubschrauber kann wegen eines technischen Defekts nicht starten. Eine zweite Maschine ist unterwegs, um sie zu NEACP zu bringen. Wir haben CINC-SAC und CINC-NORAD an der Leitung.« Hiermit meinte der Marineoffizier die Oberbefehlshaber aller Waffengattungen in den Großräumen: CINC-LANT war der OB Atlantik, Admiral Joshua Painter; es gab einen CINCPAC, dem alle Streitkräfte im Atlantik unterstanden; beide Posten hielten traditionell Marineoffiziere inne. Der CINC-SOUTH saß in Panama, der CINC-CENT in Bahrain, CINC-FOR in Fort McPherson in Atlanta, Georgia. Diese drei Stellen besetzte traditionell die Army. Es gab auch noch andere OBs, darunter den SACEUR (OB der alliierten Streitkräfte in Europa); dieser höchste Offizier der Nato war im Augenblick ein Viersternegeneral der Air Force. Innerhalb dieses existierenden Führungssystems hatten die OBs keine Befehlsgewalt, sondern berieten nur den Verteidigungsminister, der wiederum den Präsidenten beriet, und dessen Anweisungen gingen über den Verteidigungsminister an die CINCs.

Der Verteidigungsminister aber...

Fowler suchte den mit »NORAD« markierten Knopf und drückte darauf.

»Hier spricht der Präsident. Ich bin in meinem Lageraum in Camp David.«

»Mr. President, hier ist immer noch Major General Borstein. Der CINC-NORAD ist nicht hier; er war zur Superbowl nach Denver gefahren. Mr. President, es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß laut unseren Instrumenten die Explosion entweder in dem Superbowl-Stadion oder in seiner Nähe stattgefunden hat. Wir müssen wohl davon ausgehen, daß die Minister Bunker und Talbot und der CINC-NORAD tot sind.«

»Ja«, sagte Fowler, der bereits zu diesem Schluß gelangt war, emotionslos.

»Der Vize-CINCist im Augenblick hierher unterwegs. Bis auf weiteres bin ich der ranghöchste Offizier in NORAD.«

»Gut. So, und nun sagen Sie mir, was eigentlich passiert ist.«

»Sir, das wissen wir nicht. Der Detonation gingen keine ungewöhnlichen Vorkommnisse voraus. Es wurden keine – ich wiederhole: keine – anfliegenden ballistischen Raketen festgestellt. Wir versuchen, mit der Flugsicherung des Stapleton International Airport in Denver Kontakt aufzunehmen; man soll dort die Radarbänder auf einen möglichen Abwurf aus der Luft prüfen. Auf unseren Schirmen erschien jedenfalls nichts.«

»Hätten Sie eine anfliegende Maschine erfaßt?«

»Nicht unbedingt, Sir«, erwiderte General Borstein. »Unser System ist gut, aber man kann es überlisten, besonders mit einem einzigen Flugzeug. Mr. President, können wir einen Augenblick über Dinge reden, die sofort erledigt werden müssen?«

»Ja.«

»Sir, aufgrund meiner Befugnisse als stellvertretender CINC-NORAD habe ich meine Stellein Alarmstufe DEFCON-1 versetzt. Wie Sie wissen, ist NORAD dazu befugt und kann auch zu reinen Verteidigungszwecken nukleare Waffen freigeben.«

»Ohne meine ausdrückliche Genehmigung werden keine Kernwaffen freigegeben«, versetzte Fowler heftig.

»Sir, die einzigen Kernwaffen in unserem Arsenal sind gelagert«, entgegnete Borstein. Die anderen Leute in Uniform fanden seine Stimme bewundernswert mechanisch. »Nun schlage ich eine Telefonkonferenz mit dem CINC-SAC vor.«

»Tun Sie das«, befahl Fowler. Die Verbindung war im Nu hergestellt.

»Mr. President, hier spricht der CINC-SAC«, erklärte General Peter Fremont von der Air Force in ganz geschäftsmäßigem Ton.

»Was, zum Teufel, geht hier vor?«

»Sir, das wissen wir nicht, aber es gibt Maßnahmen, die wir sofort ergreifen müssen.«

»Fahren Sie fort.«

»Sir, ich empfehle, daß wir alle unsere strategischen Streitkräfte in eine höhere Alarmstufe versetzen. Ich schlage DEFCON-2 vor. Wenn wir es mit einem nuklearen Angriff zu tun haben, müssen unsere Kräfte in einem maximalen Bereitschaftszustand sein. Das versetzt uns in die Lage, mit dem größtmöglichen Effekt auf eine Attacke zu antworten. Dies sollte auch den Angreifer abschrecken und zum Überdenken zwingen.

Und wenn ich dem etwas hinzufügen darf, Sir: Wir sollten auch unseren Bereitschaftsgrad durch die Bank erhöhen. Zumindest könnten Militäreinheiten Hilfe leisten und Panik unter der Zivilbevölkerung verhindern. Ich empfehle DEFCON-3 für unsere konventionellen Streitkräfte.«

»Tu das lieber selektiv, Robert«, sagte Liz Elliot.

»Wer war das?« fragte Borstein.

»Ich bin die Sicherheitsberaterin«, sagte Liz eine Spur zu laut. Ihr Gesicht war nun so weiß wie ihre Seidenbluse. Fowler hatte sich noch in der Gewalt, aber Liz Elliot mußte kämpfen, um seinem Beispiel zu folgen.

»Dr. Elliot, ich habe Ihre Bekanntschaft noch nicht gemacht. Leider läßt unser Kommando- und Führungssystem selektiven Alarm nicht zu, zumindest nicht kurzfristig. Wenn wir jetzt DEFCON-3 erklären, können wir alle Einheiten aktivieren, die wir brauchen, und dann später jene auswählen, für die wir eine Aufgabe haben. Damit sparen wir mindestens eine Stunde. Das ist meine Empfehlung.«

»Dem pflichte ich bei«, erklärte General Fremont sofort.

»Gut, dann tun Sie das«, sagte Fowler. Ihm kam es vernünftig vor.

 

Die Kommunikation lief über separate Kanäle. Der CINC-SAC alarmierte die strategischen Kräfte. Dieselbe Roboterstimme, die den Alarmstart der strategischen Bomber ausgelöst hatte, gab nun die Blitzmeldung heraus. Auf den Bomberbasen des SAC war man zwar schon über den Alarm informiert, aber die Stufe DEFCON-2 machte ihn offiziell und unheilverkündend. Überlandleitungen aus Glasfaserkabeln trugen ähnliche Mitteilungen zum ELF-Funksystem der Marine im Norden der Halbinsel zwischen Michigan- und Huronsee, von wo es im Morsecode weitergegeben wurde. Die extrem niedrige Frequenz ELF ist die einzige, die auch getauchte Unterseeboote erreicht, hat aber eine sehr niedrige Übertragungsgeschwindigkeit und gibt den Booten nur das Zeichen zum Auftauchen, um ein Hochfrequenzsignal von einem Satelliten zu empfangen.

In King’s Bay (Georgia), Charleston (North Carolina) und Groton (Connecticut) und an drei anderen Orten im Pazifik erhielten die Wachoffiziere der strategischen U-Geschwader, die meist auf Versorgungsschiffen saßen, Signale über Kabel oder Satellit. Amerika hatte zu diesem Zeitpunkt 36 Raketen-U-Boote im Dienst, und von diesen waren 19 in See – auf »Abschreckungspatrouille«, wie man das nannte. Zwei wurden generalüberholt und standen daher nicht zur Verfügung. Der Rest lag mit Ausnahme von USS Ohio, das sich in Bangor in einem überdachten Dock befand, längsseits seiner Versorgungsschiffe. Alle hatten reduzierte Mannschaften an Bord, keines aber an diesem Sonntagabend seinen Kommandanten. Das machte nichts, denn alle strategischen Boote hatten zwei Besatzungen, und in jedem Fall war einer der beiden kommandierenden Offiziere höchstens 30 Autominuten von seinem Boot entfernt. Alle trugen Rufgeräte bei sich, die fast gleichzeitig lospiepten. Die Crews an Bord begannen die Boote sofort klar zum Auslaufen zu machen. Auf jedem Boot hatte der Offizier vom Dienst eine strenge Prüfung bestehen müssen, ehe er als »fürs Kommando qualifiziert« galt. Der Einsatzbefehl war klar: Wenn ein solcher Alarm einging, mußten sie so schnell wie möglich auslaufen. Die meisten Offiziere hielten das DEFCON-2 für eine Übung, aber bei den strategischen Kräften sind Übungen eine ernste Angelegenheit. Schon ließen Schlepper ihre Dieselmaschinen anlaufen, um die schiefergrauen Boote von ihren Versorgungsschiffen zu bugsieren. Deckmannschaften machten Sicherheitsleinen und Stützen los; Männer, die sich auf den Versorgungsschiffen aufgehalten hatten, kletterten über Leitern hinunter zu ihren Booten. An Bord schauten Offiziere und ihre Helfer auf den Dienstplan, um festzustellen, wer anwesend war und wer nicht. Wie alle Kriegsschiffe waren diese strategischen Boote überbemannt und konnten, falls erforderlich, ohne weiteres mit einer halben Crew auslaufen und operieren. DEFCON-2 bedeutete, daß dies angesagt war.

 

Captain Rosselli und der Stab im NMCC alarmierten die konventionellen Streitkräfte. Man brauchte nur auf Band aufgezeichnete Befehle an die individuellen Einheiten weiterzugeben: im Fall der Army an die Divisionen, bei der Luftwaffe und der Marine an die Geschwader. Die konventionellen Streitkräfte gingen auf DEFCON-2. Captain Rosselli und Colonel Barnes verständigten höhere Befehlsebenen telefonisch. Selbst Dreisternegenerälen mit 25jähriger Dienstzeit mußten sie jedesmal versichern: Nein, Sir, das ist, ich wiederhole, keine Übung.

Überall auf der Welt wurden amerikanische Einheiten in Alarmbereitschaft versetzt. Wie zu erwarten war, reagierten an hohe Bereitschaftsstufen gewöhnte Einheiten am raschesten. Zu ihnen gehörte die in Berlin stationierte amerikanische Panzerbrigade.