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Dreißig Nanosekunden

Die Schaltuhr an der Bombenhülle sprang auf 17:00:00, und der Ablauf begann.

Zuerst wurden Hochspannungskondensatoren geladen, und kleine, neben den Tritiumreservoirs angebrachte Sprengsätze zündeten und trieben Kolben durch zwei enge Metallrohre, die zur Primär- und Sekundärladung führten. Hier war keine Eile; der Zweck des Vorgangs war, Lithium-Deuterid mit dem fusionsfreundlichen Tritium zu mischen. Er dauerte zehn Sekunden.

Bei 17:00:10 sandte die Schaltuhr einen zweiten Impuls aus.

Zündzeitpunkt.

Die Kondensatoren gaben ihre Ladung über ein 50 Zentimeter langes Kabel an ein Verteilernetz ab, und dazu brauchten sie 1,66 Nanosekunden. Der Impuls fuhr durch das Verteilernetz und erreichte die Krytron-Schalter – kleine und überaus schnell arbeitende Einrichtungen, die unter Einsatz von ionisiertem und radioaktivem Krypton eine Ladung mit bemerkenswerter Präzision abgaben. Im Verteilernetz wurde die Stromstärke mittels Pulskompression erhöht und der Impuls in 70 verschiedene und jeweils exakt einen Meter lange Kabel geleitet. Diese Distanz legte der Impuls innerhalb von 3 Nanosekunden zurück. Gleich lang mußten die Kabel natürlich sein, weil alle 70 Sprengstoffplatten zur selben Zeit zu detonieren hatten. Dies wurde mit Hilfe der exakt abgemessenen Kabel und der Krytron-Schalter erreicht.

Die Impulse trafen also gleichzeitig in den Krytron-Schaltern ein. Jede Sprengstoffplatte hatte drei Zünder, sehr dünne Metallfäden, die explodierten, als der Stromstoß sie erreichte. Alle Zünder lösten einwandfrei aus, und ihre Energie erreichte nun den Sprengstoff und setzte 4,4 Nanosekunden nach dem Signal der Schaltuhr die eigentliche Detonation in Gang. Das Resultat war keine Explosion, sondern eine Implosion, da der Druck vorwiegend nach innen wirkte.

Bei den Sprengstoffplatten handelte es sich eigentlich um sehrraffinierte Laminate aus zwei mit Leicht- und Schwermetallstaub versetzten Materialien. Die äußere Schicht bestand aus einem relativ trägen Sprengstoff mit einer Detonationsgeschwindigkeit von gerade 7000 Metern pro Sekunde. Von den Zündern breitete sich die Explosionsfront radial aus und erreichte bald die Ränder der Platte. Da diese von der Außenseite gezündet worden war, raste die Front nach innen. Der Grenzbereich zwischen trägem und brisantem Sprengstoff enthielt Blasen, sogenannte Hohlräume, die die Form der Druckwelle nun von sphärisch in plan umzuwandeln begannen und sie exakt auf ihre metallischen Ziele, die sogenannten Treiber, konzentrierten. Bei den »Treibern« handelte es sich um sorgfältig geformte Stücke aus Wolfram-Rhenium, die nun von einer Druckwelle getroffen wurden, deren Geschwindigkeit 9800 Meter pro Sekunde betrug. Unter dem Wolfram-Rhenium verbarg sich eine Schicht aus Beryllium von einem Zentimeter Stärke, und diese deckte ein Millimeter starkes Uran 235 ab, das trotz seiner geringen Masse fast das Gewicht des Berylliums hatte. Diese gesamte Metallmasse wurde nun durch ein Vakuum gejagt, und da die Explosion auf einen zentralen Punkt fokussiert war, betrug die Begegnungsgeschwindigkeit der Teile 19600 Meter pro Sekunde.

Das exakte Ziel der Druckwelle und der Metallprojektile war eine zehn Kilo schwere Masse radioaktiven Plutoniums 239. Diese hatte die Gestalt eines U-förmigen Rohrs. Das Plutonium, das normalerweise eine größere Dichte hat als Blei, wurde von dem mehrere Millionen Atmosphären betragenden Implosionsdruck komprimiert, und dies mußte sehr rasch geschehen. Plutonium 239 enthält nämlich auch eine geringe, aber störende Menge des weniger stabilen und zur Frühzündung neigenden Plutonium 240. Die Wandungen des U-Rohrs wurden zusammengepreßt, und das Pu flog in die Richtung des geometrischen Mittelpunkts der Waffe.

Der dritte externe Einfluß kam von einer »Zipper« genannten Einrichtung. Auf ein drittes Signal der noch intakten Schaltuhr hin beschoß ein Teilchenbeschleuniger in Miniaturformat, ein hochkompaktes Minizyklotron, das einem Fön verblüffend ähnlich sah, ein Ziel aus Beryllium mit Deuteriumatomen und setzte riesige Mengen von Neutronen frei, die mit zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit durch ein Metallrohr ins Zentrum der Primärladung, die sogenannte »Arena«, jagten. Die Neutronen trafen genau zu dem Zeitpunkt ein, als das Plutonium 50 Prozent seiner Maximaldichtc erreicht hatte. Dieses Metall, das normalerweise doppelt so schwer wie Blei ist, war bereits zehnmal dichter und wurde rasch weiter zusammengedrückt und dabei von dem Neutronenbombardement getroffen.

Kernspaltung.

Das Plutonium hat ein Atomgewicht von 239, das die Gesamtmasse der Neutronen und Protonen in seinem Kern wiedergibt. Was nun begann, spielte sich buchstäblich an Millionen von Stellen gleichzeitig und immer auf identische Weise ab. Ein eindringendes thermisches oder »langsames« Neutron kam einem Plutoniumkern nahe genug, um in den Anziehungsbereich der Kernbindungskräfte zu gelangen. Das Neutron wurde ins Zentrum des Atoms gerissen, wo es das Energiegleichgewicht des Wirtskerns störte und ihn in einen instabilen Zustand versetzte. Der bisher stabile Kern begann wild herumzuwirbeln und wurde von Kräftefluktuationen auseinandergerissen. In den meisten Fällen verschwand ein Neutron oder Proton ganz und verwandelte sich gemäß Einsteins Formel E=mc2 in Energie, die in Form von Gamma- und Röntgenstrahlen freigesetzt wurde. Außerdem gab der Kern noch zwei oder drei zusätzliche Neutronen ab. Das war der entscheidende Faktor. Der Prozeß, der von nur einem Neutron, das zwei oder drei weitere freisetzte, in Gang gebracht worden war, setzte sich nun als Kettenreaktion fort. In einer Plutoniummasse, die 200mal dichter war als Wasser, flogen mit zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit - knapp 30 000 Kilometer pro Sekunde – die gerade freigesetzten Neutronen herum und trafen neue Ziele.

»Kettenreaktion« bedeutet, daß sich der Prozeß von selbst intensiviert fortsetzt, daß die freigesetzte Energie ohne äußere Einwirkung weitere Kernspaltungen auslöst. Die Zahl der Reaktionen verdoppelte sich nun bei jedem Schritt. Was mit einer geringen Energiemenge begonnen und nur eine Handvoll Partikel freigesetzt hatte, verdoppelte sich in Zeitabständen, die in Bruchteilen von Nanosekunden gemessen werden, immer wieder. Die Beschleunigung der Kettenreaktion wird in »Alpha« gemessen und ist die wichtigste Variable des Prozesses der Kernspaltung. Tausend Alpha bedeutet, daß die Zahl der Verdoppelungen per Mikrosekunde 21000 beträgt – ungeheuer, das ist die Zwei 1000mal mit sich selbst multipliziert. Auf dem Höhepunkt des Spaltungsprozesses – zwischen 250 und 253 – erzeugte die Bombe 1018 Watt, das ist das Hunderttausendfache der Kapazität aller Kraftwerke auf der Welt. Fromm hatte die Bombe auf diese Energieausbeute hin konzipiert – und das waren nur zehn Prozent der spezifizierten Gesamtleistung. Noch war die Sekundärladung nicht betroffen, noch blieb sie von den nur wenige Zentimeter weiter wütenden Kräften unberührt.

Aber der Spaltungsprozeß hatte kaum begonnen.

Schon durchdrangen Gammastrahlen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, die Bombenhülle, während drinnen die Druckwelle des Sprengstoffs das Plutonium weiter komprimierte. Selbst nukleare Reaktionen brauchen ihre Zeit. Andere Gammastrahlen begannen die Sekundärladung zu treffen. Die Mehrzahl der Gammateilchen jagte durch eine Gaswolke, die erst vor wenigen Mikrosekunden bei der Detonation des konventionellen Sprengstoffs entstanden war, und brachten sie auf eine Temperatur, die mit Chemikalien allein niemals zu erzielen war. Diese aus leichten Atomen wie Kohlenstoff und Sauerstoff bestehende Wolke emittierte nun eine gewaltige Menge niederfrequenter oder »weicher« Röntgenstrahlen. Bis zu diesem Punkt funktionierte die Waffe exakt so, wie Fromm und Ghosn es geplant hatten.

Der Spaltungsprozeß war gerade sieben Nanosekunden oder 0,7 Wack alt, als etwas schiefging.

Strahlung von den zerfallenden Plutoniumkernen traf das mit Tritium versetzte Lithium-Deuterid im geometrischen Mittelpunkt der Arena. Manfred Fromm, der konservativ denkende Ingenieur, hatte sich die Extraktion des Tritiums bis zuletzt aufgehoben. Tritium ist ein instabiles Gas mit einer Halbwertzeit von 12,3 Jahren, was bedeutet, daß reines Tritium nach Ablauf dieser Zeit jeweils zur Hälfte aus Tritium und zur Hälfte aus 3He besteht. »Helium drei« ist eine Form dieses leichtesten aller Elemente, deren Kern ein Neutron fehlt. Nun ließ sich dieses Element durch eine Palladiumplatte leicht herausfiltern, aber das hatte Ghosn nicht gewußt. Die Folge war ein zu einem guten Fünftel verseuchtes Tritium, und zwar mit dem denkbar ungünstigsten Material.

Das heftige Bombardement durch die Kernspaltung nebenan heizte die Lithiumverbindung auf. Dieses Material, das normalerweise nur halb so dicht ist wie Kochsalz, wurde zu einem metallischen Aggregatzustand komprimiert und erreichte eine Dichte, die größer war als die des Erdkerns. Was nun begann, war eine kleine Fusionsreaktion, die gewaltige Mengen neuer Neutronen freisetzte und außerdem zahlreiche Lithiumatome in weiteres Tritium verwandelte, dessen Kerne unter dem starken Druck verschmolzen und noch mehr Neutronen ausstrahlten. Die zusätzlich erzeugten Neutronen hatten eigentlich in das Plutonium eindringen, den Alphawert und damit die Sprengleistung der Waffe erhöhen sollen. Mit Hilfe dieser Methode hatte man Atomwaffen der zweiten Generation stärker gemacht. Doch die Gegenwart des Helium drei vergiftete die Reaktion und verwandelte fast ein Viertel aller Neutronen in nutzlose, stabile Heliumatome.

Im Lauf der nächsten paar Nanosekunden machte das nichts aus. Die Kettenreaktion im Plutonium beschleunigte sich weiter, und der Alphawert stieg um einen Faktor, der sich nur in Zahlen ausdrücken läßt.

Nun strömte Energie in die Sckundärladung. Die metallbeschichteten Halme blitzten auf und verwandelten sich in Plasma, das in die Sekundärladung gepreßt wurde. Strahlenenergie von einer Intensität, wie sie an der Oberfläche der Sonne nicht auftritt, wurde von elliptischen Flächen reflektiert, ehe sie diese verdampfen ließ, und gelangte in den Hohlraum der Sekundärladung, wo sie auf das zweite Tritiumreservoir zujagte. Auch die Lamellen aus dichtem Uran 238 vor der Arena der Sekundärladung verwandelten sich in Plasma, das durch das Vakuum flog und dann die zylindrische Hülle aus U 238, die den zentralen Behälter mit der größten Menge Lithium-Deuterid/Tritium umgab, traf und zusammendrückte. Die einwirkenden Kräfte waren so gewaltig, daß die Struktur einem Druck ausgesetzt wurde, der größer war als im Kern eines gesunden Sternes.

Aber es reichte nicht.

Die Reaktion der Primärladung war bereits am Abklingen. Die Gegenwart des Giftes 3He führte zu Neutronenmangel, und die Sprengkraft der Bombe begann die Reaktionsmasse gerade in dem Moment auseinanderzureißen, in dem die physikalischen Kräfte ein Gleichgewicht erreichten. Nur kurz stabilisierte sich die Kettenreaktion, konnte jedoch ihre geometrische Wachstumsrate nicht beibehalten; die beiden letzten Verdoppelungen fanden überhaupt nicht statt, und die geplante Gesamtleistung der Primärladung von 70000 Tonnen TNT wurde halbiert, dann noch einmal um 50 Prozent reduziert, so daß sie am Ende nur noch 11 200 Tonnen betrug.

Fromms,Konstruktion war so perfekt gewesen, wie es die Umstände und verfügbaren Materialien erlaubt hatten. Eine Waffe identischer Leistung, aber mit nur einem Viertel der Größe, wäre möglich gewesen, aber Fromms Spezifikationen waren mehr als adäquat. Ins Energiebudget war ein massiver Sicherheitsfaktor eingebaut worden. Selbst eine Leistung von 30 Kilotonnen hätte genügt, mit der »Zündkerze« in der Sekundärladung eine massive Kernfusion auszulösen, aber diese 30 Kilotonnen wurden nicht erreicht. Die Bombe war nicht explodiert, sondern nur verpufft.

Doch dieses Verpuffen entsprach 11 200 Tonnen TNT, also einem Würfel aus hochbrisantem Sprengstoff mit den Seitenlängen von 22,8 Metern, zu dessen Transport fast 400 Lastwagen oder ein mittelgroßer Frachter erforderlich gewesen wären – doch man hätte konventionellen Sprengstoff nie mit dieser tödlichen Effizienz zur Explosion bringen können. Mehr noch, eine konventionelle Bombe von diesen Dimensionen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wie auch immer, es hatte nur eine Verpuffung stattgefunden.

Bislang waren wahrnehmbare physikalische Effekte nicht über die Bombenhülle und erst recht nicht über den Transporter hinausgedrungen. Noch war die Stahlhülle relativ intakt, aber das sollte sich bald ändern. Sie war bereits von unsichtbaren Gamma- und Röntgenstrahlen durchdrungen worden. Immer noch war von der Plasmawolke, in die sich das genial konstruierte Wunderwerk vor drei Wack aufgelöst hatte, kein sichtbares Licht ausgegangen. . . doch es war bereits alles geschehen, was sich ereignen mußte. Nun ging es nur noch um die Ausbreitung der durch Naturgesetze bereits erzeugten Energie, für die ihre Manipulatoren und deren Absichten irrelevant waren.