40
Kollisionen
»Ryan, können wir sicher sein, daß wir es mit Narmonow zu tun haben?«
»Mit wem sonst, Mr. President?«
»Verflucht noch mal, Ryan, diese Meldungen stammten von Ihnen!«
»Mr. President, bitte beruhigen Sie sich«, sagte Ryan, der selbst nicht unbedingt gelassen klang. »Jawohl, ich brachte Ihnen diese Information, teilte Ihnen aber auch mit, daß sie unbestätigt ist. Außerdem erwähnte ich vor einigen Minuten, wir hätten Anlaß zu der Vermutung, daß sie von Anfang an falsch war.«
»Kennen Sie Ihre eigenen Daten nicht? Sie waren doch derjenige, der uns vor verschwundenen Kernwaffen warnte!« rief Liz Elliot. »Nun, jetzt sind sie wieder aufgetaucht – wie beabsichtigt hier bei uns!«
Himmel, die ist ja noch konfuser als er, dachte Helen D’Agustino und tauschte einen Blick mit Pete Connor, der kreidebleich geworden war. Das ging alles viel zu schnell ...
»Liz, ich muß immer wieder betonen, daß unsere Informationen zu spärlich sind. Für eine fundierte Einschätzung liegen nicht genug Daten vor.«
»Warum haben die Russen ihre nuklearen Kräfte alarmiert?«
»Aus demselben Grund wie wir!« schrie Ryan zurück. »Wenn beide Seiten Zurückhaltung übten, kämen wir vielleicht –«
»Ryan, machen Sie mir keine Vorschriften«, sagte Fowler leise. »Von Ihnen will ich nur Informationen haben. Die Entscheidungen werden hier getroffen.«
Jack wandte sich vom Telefon ab. Jetzt verliert er die Nerven, dachte Goodley. Der stellvertretende Direktor, der blaß und schlecht aussah, starrte aus dem Fenster auf den Innenhof und das fast leere Gebäude dahinter. Nach ein paar tiefen Atemzügen drehte er sich wieder um.
»Mr. President«, sagte Jack sehr beherrscht, »unserer Auffassung nach führt Präsident Narmonow die sowjetische Regierung. Die Ursache der Explosion in Denver ist uns unbekannt, aber es weist bei uns nichts darauf hin, daß die Waffe sowjetischen Ursprungs war. Unserer Meinung nach wäre eine solche sowjetische Operation der pure Wahnsinn, und selbst wenn das Militär die Macht übernommen haben sollte – aber auch darauf weist nichts hin, Sir -, ist die Wahrscheinlichkeit einer solchen Fehlkalkulation gleich Null. Soweit die Position der CIA.«
»Und Kadischow?« fragte Fowler.
»Sir, erst gestern und heute stießen wir auf Indizien, die darauf hindeuten könnten, daß seine Meldungen falsch sind. Eine Begegnung mit Narmonow läßt sich nicht verifizieren, und –«
»Eine? Sie können nur einen Treff nicht bestätigen?« fragte Liz Elliot dazwischen.
»Würden Sie mich bitte ausreden lassen?« fauchte Jack zurück und verlor erneut die Beherrschung. »Verdammt, darauf ist Goodley gestoßen, nicht ich!« Er machte eine Atempause. »Dr. Goodley fielen feine Varianten in den Meldungen auf, und er beschloß, sie zu überprüfen. Kadischows Meldungen basierten angeblich alle auf persönlichen Begegnungen mit Narmonow. In einem Fall können wir die Terminpläne der beiden Männer nicht in Einklang bringen und sind daher nicht sicher, daß ein Treffen stattgefunden hat. Und wenn die beiden sich nicht getroffen haben, ist Kadischow ein Lügner.«
»An die Möglichkeit eines geheimen Treffens haben Sie wohl gedacht«, kommentierte Liz Elliot beißend. »Oder meinen Sie, daß ein solches Thema bei einem normalen Termin behandelt wird? Glauben Sie, daß er sich bei einer Routinebesprechung über die Möglichkeit eines Putsches ausläßt?«
»Ich kann nur wiederholen, daß diese Meldung nie bestätigt worden ist – nicht von uns, nicht von den Briten und auch sonst von niemandem.«
»Ryan, man muß doch davon ausgehen, daß eine auf einen Putsch hinarbeitende Verschwörung streng geheim bleiben muß, besonders in einem Land wie der Sowjetunion«, meinte Fowler.
»Natürlich.«
»Mit einer Bestätigung aus anderen Quellen ist dann nicht unbedingt zu rechnen?« Nun kehrte Fowler wieder den Staatsanwalt heraus.
»Nein, Sir«, räumte Ryan ein.
»Dann sind seine Informationen also die besten, die wir haben, oder?«
»Jawohl, Mr. President, vorausgesetzt, sie sind wahr.«
»Und es liegen Ihnen keine eindeutigen Beweise zu ihrer Bestätigung vor?«
»Korrekt, Mr. President.«
»Es gibt aber auch keine harten Fakten, die sie entwerten?«
»Sir, wir haben Anlaß –«
»Beantworten Sie meine Frage!«
Ryan ballte die rechte Faust. »Nein, Mr. President, harte Fakten haben wir nicht.«
»Und im Lauf der letzten Jahre hat Kadischow uns gute und verläßliche Informationen geliefert?«
»Jawohl, Sir.«
»Sind dies angesichts seiner bisherigen Leistungen die besten verfügbaren Informationen?«
»Ja, Sir.«
»Danke. Dr. Ryan, versuchen Sie, sich weitere Informationen zu verschaffen. Wenn Sie etwas haben, höre ich es mir an.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
Jack erhob sich langsam. Seine Beinmuskeln waren vom Streß verkrampft und schmerzten. Er trat ans Fenster und steckte sich eine Zigarette an. »Verdammt, ich hab’ Mist gebaut«, erklärte er der Welt. »Ich hab’s vermasselt.«
»Das war nicht Ihre Schuld, Jack«, tröstete Goodley.
Jack fuhr herum. »Das wird sich auf meinem Grabstein aber toll ausnehmen: ›Es war nicht seine Schuld, daß die Welt in die Luft flog!‹«
»Langsam, Jack, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.«
»Wirklich nicht? Haben Sie ihre Stimmen gehört?«
Der sowjetische Flugzeugträger Kusnezow brachte seine Maschinen anders als die amerikanischen Träger in die Luft. Sein Bug ähnelte einer Sprungschanze. Die erste MiG-29 raste los, die steile Rampe hinauf und schoß in die Luft. Diese Startmethode belastete zwar Piloten und Maschinen, funktionierte aber. Ein zweites Flugzeug folgte und ging zusammen mit dem ersten auf Ostkurs. Kaum waren sie aufgestiegen, da hörte der Pilot des Führerflugzeugs ein Summen im Kopfhörer.
»Klingt wie unsere Notruffrequenz«, sagte er zu seinem Flügelmann.
»Da, Ostsüdost. Eindeutig von uns. Wer ist das wohl?«
»Keine Ahnung.« Der Pilot des Führerflugzeugs verständigte die Kusnezow und erhielt Anweisung, einmal nachzusehen.
»Hier Falcon-2«, meldete die Hawkeye. »Zwei Maschinen des russischen Trägers im Anflug, hohe Geschwindigkeit, Richtung drei-eins-fünf und zwo-fünf-null Meilen von Stick.«
Captain Richards schaute aufs taktische Display. »Spade, hier Stick. Herangehen und verscheuchen.«
»Roger«, erwiderte Jackson. Da seine Maschine gerade betankt worden war, konnte er nun weitere drei Stunden in der Luft bleiben. Außerdem hatte er noch sechs Raketen übrig.
»›Verscheuchen?‹« fragte Lieutenant Walters.
»Shredder, ich weiß auch nicht, was hier gespielt wird.« Jackson zog den Knüppel nach links. Sanchez folgte seinem Beispiel und ging auf Distanz.
Die beiden Paare flogen mit einer Begegnungsgeschwindigkeit von rund 1600 Stundenkilometern aufeinander zu. Vier Minuten später wurden die Radare der Tomcats aktiv. Normalerweise hätte das den russischen Piloten zu verstehen gegeben, daß amerikanische Jäger in der Gegend waren und Gefahr drohte. Doch da die Signale der neuen amerikanischen Radare ganz verstohlen tasteten, wurden sie von den Russen nicht erfaßt.
Wie sich herausstellte, war das unerheblich. Wenige Sekunden später gingen die Suchradare der Russen an.
»Zwei Jäger im Anflug!«
Der Pilot der russischen Führermaschine schaute auf seinen Radarschirm und runzelte die Stirn. Die beiden MiGs sollten nur ihren eigenen Verband schützen. Nach Eingang des Alarms waren die beiden Jäger aufgestiegen. Der Pilot flog nun einen Rettungseinsatz und hatte nicht die geringste Lust, mit den Amerikanern dumme Spiele zu treiben, obendrein bei Nacht. Daß die Amerikaner ihn ausgemacht hatten, wußte er. Sein Warngerät registrierte die Impulse des Frühwarnsystems an Bord der Hawkeye.
»Rechtskurve«, befahl er. »Gehen wir auf 1000 Meter runter und suchen nach dem Summer.« Sein Radar ließ er eingeschaltet, um zu beweisen, daß er nicht mit sich spaßen ließ.
»Sie weichen nach links aus und gehen tiefer.«
»Bud, Sie übernehmen die Führung«, sagte Jackson. Sanchez hatte die meisten Raketen. Robby wollte ihm Rückendeckung geben.
»Stick, hier Falcon-2. Die beiden anfliegenden Jäger weichen nach Süden aus und gehen in den Tiefflug.«
Richards sah, wie die Kursvektoren für die beiden russischen Maschinen sich änderten. Sie waren im Augenblick zwar nicht auf einem Direktkurs zum Verband der Theodore Roosevelt, würden ihm aber recht nahe kommen.
»Was haben die vor?«
»Nun, sie wissen nicht, wo wir sind«, meinte der Operationsoffizier. »Ihre Radare sind aber aktiv.«
»Dann suchen sie wohl nach uns?«
»Das würde ich vermuten.«
»Na, jetzt wissen wir wenigstens, woher die anderen vier kamen.« Captain Richards griff nach dem Mikrofon, um mit Jackson und Sanchez zu reden.
»Abschießen«, lautete der Befehl. Robby setzte sich über Sanchez, der schräg hinter den MiGs in Position ging.
»Ich habe die Amerikaner verloren.«
»Vergessen wir die! Schließlich suchen wir nach dem Summer.« Der Pilot des Führungsflugzeugs verdrehte den Hals. »Moment, ist das ein Blinklicht? An der Oberfläche in zwei Uhr?«
»Ja, ich hab’s.«
»Ich gehe runter. Folgen Sie mir!«
»Achtung, sie weichen nach rechts unten aus«, rief Bud. »Ich greife an.«
Er lag nun knapp 2000 Meter hinter den MiGs. Sanchez wählte eine Sidewinder und setzte sich hinter den dem Führungsflugzeug folgenden Jäger. Als die Tomcat weiter aufholte, hörte er ein Trillern im Kopfhörer und feuerte seinen Flugkörper ab. Die AIM-9M Sidewinder fauchte von ihrer Startschiene und traf das Steuerbordtriebwerk der MiG-29, die explodierte. Gleich darauf ließ er eine zweite Sidewinder los.
»Ein Abschuß.«
»Was zum ... !« Der Pilot des russischen Führerflugzeugs hatte den Blitz aus dem Augenwinkel mitbekommen und sah nun, wie die Maschine seines Kameraden abstürzte und einen Feuerschweif hinter sich herzog. Er riß mit der einen Hand den Knüppel nach links, mit der anderen gab er Leuchtkugeln und Düppelstreifen frei. Seine Augen suchten die Nacht nach dem Angreifer ab.
Sanchez’ zweite Rakete flog rechts vorbei, aber das machte nichts. Er folgte dem Gegner weiter, und als die MiG nach rechts abdrehte, geriet sie genau in den Schußbereich seiner 20-Millimeter-Bordkanone. Ein kurzer Feuerstoß riß der MiG einen Teil der Tragfläche weg. Der Pilot betätigte gerade noch rechtzeitig den Schleudersitz. Sanchez sah, wie sich der Fallschirm öffnete. Als er eine Minute später einen Kreis flog, stellte er fest, daß beide Russen offenbar überlebt hatten. Bud war das recht.
»Zwei Abschüsse. Stick, zwei Fallschirme öffneten sich... Moment, da unten sind ja drei Blinklichter«, rief Jackson und gab die Position durch. Gleich darauf startete ein Hubschrauber von der Theodore Roosevelt.
»Spade, ist das immer so einfach?« fragte Walters.
»Ich hatte die Russen für gewitzter gehalten«, gab der Captain zu. »Das ist ja wie am ersten Tag der Entenjagdzeit.«
Zehn Minuten später setzte die Kusnezow einen Funkspruch an ihre beiden MiGs ab und erhielt keine Antwort.
Der Hubschrauber der Air Force kehrte von Rocky Flats zurück. Major Griggs stieg mit fünf Männern aus; alle trugen Schutzanzüge. Zwei rannten los und fanden Brandmeister Callaghan in der Nähe der Pionierpanzer.
»Wenn wir Glück haben, sind wir in zehn Minuten durch«, rief Colonel Lyle vom Führerfahrzeug.
»Wer hat hier den Befehl?« fragte ein Mann vom NEST-Team.
»Wer sind Sie?«
»Parsons, Teamleiter.« Laurence Parsons führte den Trupp vom Dienst der Organisation Nuclear Emergency Search Team. Auch sie hatte heute versagt, denn sie hatte die Aufgabe, nukleare Waffen ausfindig zu machen, ehe sie explodierten. Drei solcher Teams waren rund um die Uhr einsatzbereit: eines bei Washington, ein zweites in Nevada und seit kurzem ein drittes in Rocky Flats, um nach der Einstellung der Kernwaffenproduktion Arbeitsplätze zu erhalten. Man hatte natürlich damit gerechnet, daß die Teams immer rechtzeitig eingreifen konnten. Parsons hatte einen Geigerzähler in der Hand, und was er sah, gefiel ihm überhaupt nicht. »Wie lange sind Ihre Leute schon hier?«
»Ungefähr eine halbe Stunde, vielleicht auch 40 Minuten.«
»Ich gebe Ihnen noch zehn Minuten, dann müssen alle von hier weg. Sie kriegen hier massive Strahlung ab.«
»Was soll das heißen? Der Major sagte gerde, der Fallout sei –«
»Die Strahlung rührt von Neutronenaktivierung her. Hier ist es heiß!«
Callaghan zog bei der Vorstellung, daß ihn etwas Unsichtbares, nicht Spürbares angriff, eine Grimasse. »Im Stadion sind noch Menschen, zu denen wir fast vorgedrungen sind.«
»Dann holen Sie sie raus, aber schnell!« Parsons und seine Kollegen gingen zurück zum Hubschrauber, um sich an ihre Arbeit zu machen. Dort fanden sie einen Zivilisten vor.
»Wer sind Sie?« herrschte Parsons den Mann an.
»FBI! Was ist hier passiert?«
»Raten Sie mal!«
»Washington verlangt Informationen!«
»Larry, hier ist es heißer als am Stadion«, meldete ein Mann vom NEST.
»Kann ich mir denken«, meinte Parsons. »Detonation am Bodennullpunkt.« Er streckte die Hand aus. »Auf der anderen Seite, in Lee. Diese Seite lag im Schatten des Gebäudes.«
»Was können Sie mir sagen?« fragte der FBI-Agent.
»Nicht viel«, schrie Parsons, um den Lärm des Rotors zu übertönen. »Explosion am Boden, Leistung unter zwanzig KT. Mehr weiß ich noch nicht.«
»Ist es hier gefährlich?«
»Und ob! Wo richten wir unseren Posten ein?«
»Vielleicht im Aurora Presbyterian Hospital«, schlug ein Mann vom NEST vor. »Gegenüber vom Aurora-Center. Zwei Meilen in Windrichtung. Dort sollte es erträglich sein.«
»Wissen Sie, wo das ist?« fragte Parsons.
»Ja!««
»Dann nichts wie los. Ken, sagen Sie diesen Leuten, sie sollen so schnell wie möglich verschwinden. Hier ist es 20 Prozent heißer als am Stadion. Wir müssen Proben nehmen. Ken, Sie sorgen dafür, daß die Gegend in zehn, maximal fünfzehn Minuten geräumt wird. Schleifen Sie die Männer weg, wenn’s sein muß. Fangen Sie hier an!«
»Ja.«
Der FBI-Agent duckte sich, als der Hubschrauber abhob. Nun rannte der Mann vom NEST an den Löschfahrzeugen entlang und gab den Besatzungen mit Gesten zu verstehen, sie sollten sich zurückziehen. Auch der FBI-Agent beschloß, Parsons’ Rat zu beherzigen. Nach einigen Minuten stieg er in seinen Wagen und fuhr nach Nordosten.
»Verdammt, ich hab’ den Gammaschein vergessen«, sagte Major Griggs.
»Besten Dank!« Callaghan mußte schreien, um den Lärm des Panzers zu übertönen.
»Schon gut, bei hundert machen Sie Schluß. Hundert sind nicht so tragisch.«
Callaghan hörte die Löschfahrzeuge abfahren. »Und die Menschen im Stadion?« Der Brandmeister ging an die Sprechanlage am Heck des Panzers. »Hören Sie, wir müssen in zehn Minuten hier verschwinden. Treten Sie mal aufs Gas!««
»Wird gemacht«, erwiderte der Kommandant. »Bringen Sie sich in Sicherheit. Ich zähle bis zehn.«
Griggs sprang vom Fahrzeug. Callaghan rannte zur Seite. Der Fahrer stieß zehn Meter zurück, jagte den Motor auf seine Maximaldrehzahl hoch und löste dann die Bremse. Der M728 zerquetschte fünf Autos und schob sie beiseite. Seine Geschwindigkeit war auf 1,5 Stundenkilometer gefallen, aber er blieb nicht stehen. Seine Ketten rissen den Asphalt auf, und dann brach er durch.
Die unmittelbare Umgebung des Stadionbaus war erstaunlich intakt. Die Trümmer des Daches und der oberen Wand waren Hunderte von Metern weit geschleudert worden, aber hier lagen nur kleine Haufen Ziegel- und Betonbrocken. Mit einem Fahrzeug kam man hier nicht durch, wohl aber zu Fuß. Die Feuerwehrleute gingen vor und bespritzten den Asphalt, der noch so heiß war, daß das Wasser verdampfte. Callaghan lief vor dem Panzer her und winkte seine Leute zur Seite.
»Wissen Sie, woran mich das erinnert?« fragte ein Mitglied des NEST-Teams, als der Hubschrauber über dem Stadion kreiste.
»Ja. An Tschernobyl. Auch dort war die Feuerwehr im Einsatz.« Parsons verdrängte diesen Gedanken gleich wieder. »Fliegen Sie mal mit dem Wind«, wies er den Piloten an. »Andy, wie schätzen Sie das ein?«
»Detonation am Bodennullpunkt, und 100 KT sind ausgeschlossen, Larry. Das waren noch nicht einmal 25.«
»Warum lag NORAD mit seiner Schätzung so schief?«
»Schuld war der Parkplatz. Asphalt und die ganzen brennenden Fahrzeuge – echt, Asphalt ist der perfekte schwarze Strahler! Überraschend, daß der thermische Puls nicht noch stärker aussah –, und obendrein ist die ganze Umgebung mit Schnee und Eis bedeckt. NORAD erhielt also eine Megareflexion plus einen gewaltigen Energiekontrast.«
»Klingt plausibel, Andy«, stimmte Parsons zu. »Terroristen?«
»Darauf würde ich im Augenblick tippen. Aber sicher können wir erst sein, wenn wir Rückstände haben.«
Der Gefechtslärm war abgeklungen. Vereinzelte Schüsse verrieten dem Kommandanten des Bradley, daß sich die Russen zurückzogen, vielleicht sogar in ihre eigene Kaserne. Vernünftig, denn beide Seiten hatten viele Panzer verloren, und der Kampf sollte nun eher von der Infanterie und ihren Kampffahrzeugen weitergeführt werden. Fußsoldaten sind gewitzter als die Männer von der Panzertruppe, weil sie nur ein Hemd am Leib und keinen Bleifuß haben. Sie sind verwundbar, und das zwingt zum Denken. Nun wechselte er wieder die Stellung. Der Schützenpanzer hielt kurz vor einer Straßenecke, und ein Mann sprang ab, um zu spähen.
»Nichts, Sergeant, alles ist – halt! Da bewegt sich was, drei Kilometer entfernt...« Der Soldat schaute durchs Fernglas. »BRDM mit Lenlflugkörpern!«
Aha, dachte der Sergeant, das wären dann die Späher der nächsten Angriffswelle. Seine Aufgabe war fest umrissen. Späher hatten zwei Funktionen zu erfüllen: den Feind ausmachen und an der Gewinnung von Erkenntnissen zu hindern.
»Und noch einer!«
»Bereit zum Abfahren!« befahl er dem Fahrer und fügte für den Schützen hinzu: »Ziele rechts.«
»Bereit, Sergeant.«
»Los!« Der Bradley fuhr mit einem Ruck an und rasch auf die Kreuzung. Wie an der Schießbude, dachte der Schütze, und schwenkte seinen Turm. Zwei Spähpanzer BRDM hielten direkt auf sie zu. Der Schütze griff das erste Fahrzeug an und zerstörte das auf dem Dach montierte Abschußgerät für Panzerabwehrraketen. Der BRDM brach nach links aus und rammte geparkte Fahrzeuge. Nun zielte der Schütze auf das zweite Fahrzeug, das scharf nach rechts ausweichen wollte – aber die Straße war zu schmal. Der Schütze führte das Feuer seiner Schnellfeuerkanone ins Ziel und sah es explodieren. Aber –
»Los, sofort zurück!« schrie der Sergeant in die Bordsprechanlage. Weiter hinten hatte ein dritter BRDM gelauert. Der Bradley zog sich auf seine alte Stellung zurück und hatte kaum den Schutz der Häuser erreicht, als eine Rakete über die Kreuzung fauchte und einen Lenkdraht hinter sich herzog. Ein paar hundert Meter weiter explodierte sie.
»Zeit, daß wir verschwinden«, sagte der Kommandant. »Wenden!« Dann schaltete er sein Funkgerät ein. »Hier Delta 33. Wir haben Kontakt mit Spähpanzern. Zwei abgeschossen, aber ein Dritter hat uns entdeckt. Der Gegner geht wieder vor, Sir.«
»General, wir haben sie über die Linie zurückgedrängt und können unsere Stellung halten, aber wenn der Feind Verstärkung heranführt, sind wir erledigt«, meldete Colonel Long. »Sir, wir brauchen Hilfe.«
»Gut, in zehn Minuten erhalten Sie Luftunterstützung.«
»Ein guter Anfang, aber das reicht nicht, Sir.«
Der SACEUR wandte sich an seinen Operationsoffizier. »Was ist verfügbar?«
»Die Zweite der 11. Kavallerie, Sir. Sie verläßt gerade ihre Kaserne.«
»Was steht zwischen ihr und Berlin?«
»An Russen? So gut wie nichts. Wenn sie sich beeilen ...««
»Setzen Sie sie in Bewegung.« Der SACEUR ging zurück an seinen Schreibtisch und rief Washington an.
»Ja, was gibt’s?« fragte Fowler.
»Sir, die Russen bringen offenbar Verstärkung nach Berlin. Ich habe gerade die 2. Schwadron des 11. gepanzerten Kavallerieregiments nach Berlin beordert. Es sind auch Flugzeuge unterwegs, die eingreifen und aufklären sollen.«
»Haben Sie eine Ahnung, was die Russen vorhaben?«
»Nein, Sir. Das Ganze macht überhaupt keinen Sinn, aber wir erleiden weitere Verluste. Was sagt Moskau, Mr. President?«
»Man will wissen, warum wir sie angegriffen haben, General.«
»Sind die total verrückt geworden?« rief der SACEUR und fragte sich insgeheim: Oder steckt da etwas anderes, sehr Beängstigendes dahinter?
»General«, sagte eine Frau – wahrscheinlich diese Elliot, dachte der SACEUR. »Ich muß hier Klarheit haben. Sind Sie sicher, daß die Sowjets zuerst angegriffen haben?«
»Absolut«, erwiderte der SACEUR hitzig. »Der Kommandeur unserer Brigade ist wahrscheinlich gefallen. Sein Stellvertreter ist Lieutenant Colonel Edward Long, ein guter Mann, den ich persönlich kenne. Er meldet, die Russen hätten ohne Warnung das Feuer eröffnet, als die Brigade auf den Alarm aus Washington reagierte. Unsere Kanonen waren noch nicht einmal geladen. Ich wiederhole: Die Russen haben definitiv zuerst geschossen. Darf ich nun Verstärkung nach Berlin schicken?«
»Was passiert, wenn Sie das unterlassen?« fragte Fowler.
»Sir, dann haben Sie 5000 Beileidschreiben zu verfassen.«
»Gut, dann schicken Sie Verstärkung. Offensivoperationen haben aber zu unterbleiben. Wir sind bemüht, die Lage in den Griff zu bekommen.«
»Viel Glück, Mr. President. So, und nun muß ich mich um mein Kommando kümmern.«
PRÄSIDENT NARMONOW:
WIR HABEN AUS EUROPA ERFAHREN, DASS EIN SOWJETISCHES PANZERREGIMENT OHNE WARNUNG UNSERE DORT STATIONIERTE BRIGADE ANGEGRIFFEN HAT. ICH SPRACH GERADE MIT UNSEREM OB EUROPA UND BEKAM DAS BESTÄTIGT. WAS IST LOS? WARUM HABEN IHRE TRUPPEN ANGEGRIFFEN?
»Haben wir schon etwas aus Berlin gehört?« fragte Narmonow.
Der Verteidigungsminister schüttelte den Kopf. »Nein, die ersten Späher sollten sich erst jetzt in Bewegung setzen. Die Funkkommunikation ist katastrophal, weil VHF sich quasioptisch ausbreitet und in bebauten Gebieten kaum funktioniert. Uns liegen nur Fragmente vor, überwiegend Funkverkehr zwischen Unterführern. Es ist uns nicht gelungen, Verbindung mit dem Regimentskommandeur aufzunehmen. Gut möglich, daß er nicht mehr lebt. Schließlich haben es die Amerikaner immer zuerst auf die Führer abgesehen.«
»Wir wissen also nicht, was vorgeht?«
»So ist es. Aber ich bin absolut sicher, daß kein sowjetischer Kommandeur ohne guten Grund das Feuer auf Amerikaner eröffnen würde.«
Golowko schloß die Augen und fluchte leise. Beim Verteidigungsminister begann sich der Streß bemerkbar zu machen.
»Sergej Nikolajewitsch?« fragte Narmonow.
»Das KGB hat nichts weiter zu melden. Es ist damit zu rechnen, daß alle landgestützten amerikanischen Raketen und auch alle strategischen U-Boote in See in voller Alarmbereitschaft sind. Wir gehen davon aus, daß alle amerikanischen Raketen-U-Boote binnen weniger Stunden ihre Häfen verlassen haben.«
»Und unsere?«
»Eines läuft gerade aus, der Rest macht sich klar. Es wird wohl ein Gutteil des Tages vergehen, bis sie alle in See sind.«
»Warum geht das bei uns so langsam?« wollte Narmonow wissen.
»Weil die Amerikaner für jedes Boot zwei komplette Besatzungen haben, wir aber nur eine. Diese Art von Alarmstart fällt ihnen also leichter.«
»Soll das heißen, daß ihre strategischen Kräfte ganz oder fast bereit sind, unsere aber nicht?«
»Alle unsere landgestützten Raketen sind startbereit.«
»Präsident Narmonow, was wollen Sie den Amerikanern zu Antwort geben?«
»Tja, was sage ich nun?« fragte Andrej Iljitsch.
Ein Oberst trat ein und reichte dem Verteidigungsminister ein Stück Papier. »Meldung aus Berlin.«
»Die Amerikaner befinden sich im Ostteil von Berlin und nahmen unsere ersten vier Spähpanzer unter Feuer. Der Kommandeur kam in seinem Fahrzeug um. Wir erwiderten das Feuer und schossen zwei amerikanische Panzer ab ... noch immer kein Kontakt mit unserem Regiment.« Der Verteidigungsminister sah sich die andere Meldung an. »Träger Kusnezovv meldet, daß der Funkkontakt mit zwei Patrouillenflugzeugen verlorenging. Die Maschinen empfingen ein Notsignal und gingen auf Suche. 400 Kilometer weiter östlich liegt ein amerikanischer Trägerverband. Kusnezow bittet um Anweisungen.«
»Was hat das zu bedeuten?«
Der Verteidigungsminister prüfte die Zeitangaben auf der zweiten Meldung. »Wenn unsere Maschinen jetzt nicht zurückgekehrt sind, muß ihnen sehr bald der Treibstoff ausgehen. Wir müssen annehmen, daß sie aus unbekannten Gründen verlorengingen. Die Nähe des amerikanischen Trägers macht mir Kummer ... Was, zum Teufel, treiben diese Kerle?«
PRÄSIDENT FOWLER:
ICH BIN SICHER, DASS KEIN SOWJETISCHER KOMMANDEUR AMERIKANISCHE TRUPPEN OHNE BEFEHL ANGREIFEN WÜRDE, UND EINEN SOLCHEN BEFEHL GAB ES NICHT. WIR SANDTEN WEITERE TRUPPEN ZWECKS AUFKLÄRUNG NACH BERLIN, ABER SIE WURDEN IM OSTEN DER STADT VON IHREN EINHEITEN, DIE WEIT VON IHREM LAGER ENTFERNT WAREN, ANGEGRIFFEN. WAS TUN SIE?
»Wovon redet er? Was tue ich? Verdammt, was treibt er?« grollte Fowler. Eine Leuchte flammte auf; die Leitung von der CIA. Der Präsident drückte auf einen Knopf und fügte der Konferenzschaltung einen neuen Teilnehmer hinzu.
»Kommt darauf an, mit wem wir es zu tun haben«, warnte Liz Elliot.
»Ja, was gibt’s?«
»Mr. President, bei uns hier herrscht schlicht und einfach Konfusion.«
»Ryan! Wir wollen keine Analysen, sondern Daten! Haben Sie welche?« kreischte Liz.
»Die Schiffe der sowjetischen Nordflotte laufen aus, darunter ein Raketen-U-Boot.«
»Ihre landgestützten Raketen sind also in voller Alarmbereitschaft?«
»Korrekt.«
»Und sie verstärken auch ihre seegestützten Raketenkräfte?«
»Jawohl, Mr. President.«
»Haben Sie auch gute Nachrichten?«
»Sir, ich kann nur melden, daß derzeit keine verläßlichen Nachrichten vorliegen, und daß Sie –«
»Hören Sie, Ryan. Zum letzten Mal: Ich will von Ihnen Daten haben und sonst nichts. Sie haben mir diesen Kadischow-Kram gebracht, und jetzt behaupten Sie auf einmal, er wäre falsch. Warum sollte ich Ihnen nun glauben?«
»Sir, ich sagte ausdrücklich, die Meldung sei unbestätigt.«
»Ich glaube, daß die Bestätigung jetzt vorliegt«, sagte Liz. »General Borstein, mit welcher Bedrohung haben wir zu rechnen, wenn alle sowjetischen Raketen startbereit sind?«
»Am schnellsten erreichen uns ihre ICBM. Vermutlich zielt ein Regiment SS-18 auf den Großraum Washington. Die meisten anderen sind auf unsere Silos in den Dakotas und die U-Boot-StützpLinkte in Charleston, King’s Bay, Bangor und anderswo gerichtet. Die Vorwarnzeit beträgt 25 Minuten.«
»Und wir stellen hier auch ein Ziel dar?« fragte Liz.
»Das muß man annehmen, Dr. Elliot.«
»Man wird also versuchen, mit SS-18 zu erledigen, was der ersten Waffe entging?«
»Ja, vorausgesetzt, die Russen steckten hinter dem Anschlag in Denver.«
»General Fremont, wann trifft der zweite NEACP ein?«
»Dr. Elliot, die Maschine startete vor zehn Minuten und wird in 95 Minuten in Hagerstown landen. Es weht ein kräftiger Rückenwind.« Der CINC-SAC bereute den letzten Satz fast sofort.
»Wenn sie also an einen Angriff denken und ihn im Lauf der nächsten anderthalb Stunden führen, sind wir hier erledigt?«
»Jawohl.«
»Elizabeth, es ist unsere Aufgabe, das zu verhindern. Vergessen Sie das nicht«, mahnte Fowler leise.
Die Sicherheitsberaterin schaute zum Präsidenten hinüber. Ihr Gesicht wirkte so zerbrechlich wie Glas. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie war die wichtigste Beraterin des mächtigsten Mannes der Welt und befand sich, bewacht von treuen Dienern, in einem der sichersten Räume, aber in weniger als 30 Minuten konnte sie auf die Entscheidung eines gesichts- und namenlosen Russen hin, der womöglich schon auf den Knopf gedrückt hatte, tot sein. Tot, nur noch Asche im Wind, mehr nicht. Alles, wofür sie gearbeitet hatte, die Bücher, Vorlesungen und Seminare, endete dann in einem grellen, alles vernichtenden Blitz.
»Robert, wir wissen ja noch nicht einmal, mit wem wir kommunizieren«, sagte sie mit unsicherer Stimme.
»Zurück zur Nachricht aus Moskau, Mr. President«, meinte General Fremont. »›Weitere Truppen zwecks Aufklärung.‹ Sir, das klingt nach Verstärkung.«
Ein junger Feuerwehrmann fand den ersten Überlebenden, der von der Laderampe im Erdgeschoß nach oben kroch. Erstaunlich, daß er die Detonation überhaupt überstanden hatte. Er hatte Verbrennungen zweiten Grades an den Händen erlitten und sich beim Kriechen Glas- und Betonsplitter in seine Wunden gepreßt. Der Feuerwehrmann hob den Verletzten, einen Polizisten, auf und trug ihn zum Evakuierungssammelpunkt. Aus zwei verbliebenen Löschfahrzeugen wurden beide Männer mit Wasser besprüht. Anschließend wurden sie ausgezogen und noch einmal abgespritzt. Der Polizeibeamte war halb bei Bewußtsein und versuchte während der Fahrt, dem Feuerwehrmann etwas zu verstehen zu geben. Aber dieser war zu ausgekühlt, erschöpft und verängstigt, um ihm Beachtung zu schenken. Er hatte seine Pflicht getan, und es würde ihm vielleicht sein Leben kosten. Die Erfahrung war viel zu überwältigend für den Zwanzigjährigen, der nur auf den nassen Boden des Krankenwagens starrte und unter seiner Decke fröstelte.
Den Haupteingang hatte ein Sturz aus Spannbeton gekrönt, der von der Druckwelle zerschmettert worden war und dessen Trümmer den Weg versperrten. Ein Soldat stieg aus dem Panzer und schlang das Stahlseil der hinter dem Turm montierten Winde um den größten Betonbrocken. Währenddessen schaute Brandmeister Callaghan auf die Uhr. Zum Aufgeben war es nun zu spät. Er war entschlossen, den Einsatz zu Ende zu führen, auch wenn er ihn mit dem Leben bezahlen müßte.
Das Seil straffte sich, und das Trümmerteil wurde aus dem Weg gezogen. Ein Wunder, daß der Rest des Eingangs nicht einstürzte. Callaghan ging voran durch die schuttübersäte Öffnung, gefolgt von Colonel Lyle.
Die Notbeleuchtung brannte, alle Sprinkler schienen zu laufen. Callaghan fiel wieder ein, daß an dieser Stelle die Hauptwasserleitung ins Stadium geführt wurde; das erklärte die rauschenden Wasserschleier. Er hörte auch noch andere Geräusche, solche, die von Menschen kamen. Callaghan betrat eine Herrentoilette und fand zwei Frauen im Wasser sitzend vor. Ihre Jacken waren mit Erbrochenem bespritzt.
»Holt sie raus!« rief er seinen Männern zu. »Ausschwärmen, rasch umsehen und so rasch wie möglich wieder hierher zurückkommen!« Callaghan suchte die Kabinen in der Toilette ab – alle leer. Sie hatten sich die ganze Mühe gemacht, um dann zwei Frauen in der falschen Toilette zu finden. Nur zwei. Der Brandmeister warf Colonel Lyle einen Blick zu. Zu sagen gab es eigentlich nichts. Sie traten hinaus in die Eingangshalle.
Callaghan erkannte erst nach einem Augenblick, daß er vor einem Zugang zu der unteren Ebene des Stadions stand. Vor kurzer Zeit hätte er von diesem Punkt auf die südlichen Ränge und das Dach sehen sollen, aber nun erblickte er die Berge, die sich gegen den orangenen Abendhimmel abzeichneten. Wie in Trance ging er auf die Öffnung zu.
Es bot sich eine Szene wie aus der Hölle. Aus irgendwelchen Gründen war dieser Abschnitt gegen die Druckwelle abgeschirmt gewesen, nicht aber gegen die Hitze. Vielleicht 300 Sitze waren intakt geblieben, und es saßen Menschen darauf – die Überreste von Menschen. Sie waren tiefschwarz, verkohlt wie auf dem Grill vergessenes Fleisch, und sahen schlimmer aus als jedes Brandopfer, das Callaghan in seiner fast 30jährigen Dienstzeit bei der Feuerwehr gesehen hatte. Mindestens 300 saßen da, der Stelle zugewandt, an dem sich das Spielfeld befunden hatte.
»Geh’n wir, Brandmeister«, sagte Colonel Lyle und zog ihn weg. Callaghan brach jäh zusammen, und Lyle sah, daß er sich unter seiner Gasmaske erbrach. Er riß ihm die Maske weg und richtete ihn auf. »Zeit zum Verschwinden. Hier gibt es nichts mehr zu tun. Sie haben Ihre Pflicht getan.« Wie sich herausstellte, waren noch vier weitere Menschen am Leben. Die Feuerwehrleute legten sie auf das Heck des Panzers, der zum Evakuierungssammelpunkt fuhr. Die restlichen Männer von der Feuerwehr wuschen sich ab und entfernten sich dann ebenfalls.
Der vielleicht einzig günstige Aspekt des Tages war die Schneedecke, dachte Larry Parsons. Sie hatte die Hitzeeinwirkung auf die umstehenden Gebäude gemildert. Statt Hunderten von Gebäuden brannten nur wenige. Besser noch, die Nachmittagssonne des Vortages hatte den Schnee in den Gärten und auf den Dächern angeschmolzen, und als er wieder gefror, hatte sich eine Eiskruste gebildet. Diese Kruste suchte Parsons nun nach Materialresten ab. Er und seine Leute arbeiteten mit Szintillometern. Eine fast unglaubliche Tatsache war, daß eine Atombombe bei der Explosion einen Großteil ihrer Masse in Energie verwandelte, der Gesamtverlust an Materie aber minimal war. Abgesehen davon ist Materie nur sehr schwer zu zerstören. Parsons Suche nach Bombenrückständen war einfacher, als man glaubt. Das Material war schwarz, lag auf einer ebenen weißen Fläche und war hoch radioaktiv. Nun konnte er gut drei Kilometer vom Stadion entfernt unter sechs heißen Flecken wählen. Er hatte sich für den heißesten entschieden. In seinem bleibeschichteten Schutzanzug trottete er über einen schneebedeckten Rasen. Hier wohnt wohl ein älteres Ehepaar, dachte er, denn es gab keine Hinweise auf Kinder, die einen Schneemann gebaut oder sich hingelegt hatten, um einen Adler zu machen. Das Prasseln seines Instruments wurde lauter... da.
Die Partikel waren kaum größer als Staubkörner, aber sehr zahlreich; wahrscheinlichhandelte es sich um pulverisierten Splitt und Überreste der Decke des Parkplatzes. Wenn Parsons Glück hatte, waren sie in der Mitte des Feuerballs in die Höhe gerissen worden, und es hatten sich Rückstände der Bombe an ihnen festgesetzt. Aber nur, wenn er Glück hatte. Parsons schaufelte eine Kelle voll auf und schüttete die Probe in einen Plastikbeutel, den er einem Kollegen zuwarf. Dieser warf die strahlenden Reste in einen Eimer aus Blei.
»Heißes Zeug, Larry!«
»Ich weiß. Ich nehme noch ein paar Proben.« Nachdem er eine zweite in den Beutel getan hatte, hob er sein Sprechfunkgerät.
»Hier Parsons. Haben Sie was?«
»Ja, drei Prachtexemplare, Larry. Das reicht wohl für eine Analyse.«
»Wir treffen uns am Hubschrauber.«
»Schon unterwegs.«
Parsons und sein Partner entfernten sich und achteten nicht auf die Menschen, die an den Fenstern standen und sie mit großen Augen musterten; die gingen ihn im Augenblick nichts an. Zum Glück haben sie mich nicht mit Fragen belästigt, dachte er. Der Hubschrauber stand mit kreisendem Rotor mitten auf einer Straße.
»Wohin?« fragte Andy Bowler.
»Zu unserem Posten im Einkaufszentrum. Dort sollte es schön kalt sein. Sie fliegen mit den Proben zurück in die Zentrale und untersuchen sie im Spektrometer.«
»Sie sollten besser mitkommen.«
»Geht nicht«, meinte Parsons und schüttelte den Kopf. »Ich muß Washington verständigen. Irgend jemand hat Mist gebaut; die Bombe war wesentlich kleiner, als man uns sagte. Das muß ich weitergeben.«
Im Konferenzraum endeten mindestens 40 Telefonleitungen, und eine verband Ryan direkt mit zu Hause. Ein elektronisches Zwitschern weckte seine Aufmerksamkeit. Jack drückte auf den blinkenden Knopf und nahm den Hörer ab.
»Ryan.«
»Jack, was ist los?« fragte Cathy Ryan ihren Mann. Ihre Stimme klang besorgt, aber nicht panisch.
»Was meinst du?«
»Im Regionalfernsehen hieß es, in Denver sei eine Atombombe losgegangen. Ist denn Krieg?«
»Cathy, ich kann jetzt – nein, Schatz, es ist kein Krieg.«
»Jack, die Bilder waren im Fernsehen. Ist da etwas, das ich wissen sollte?«
»Viel mehr als du weiß ich auch nicht. Es ist etwas passiert, aber was es war, wissen wir nicht genau. Wir bemühen uns gerade, es herauszufinden. Der Präsident und die Sicherheitsberaterin sind in Camp David, und -«
»Elliot?«
»Ja. Sie stehen im Augenblick mit den Russen in Verbindung. So, Schatz, ich hab’ jetzt zu tun.«
»Soll ich die Kinder anderswo unterbringen?«
Die richtige, anständige Entscheidung wäre nun gewesen, seiner Frau zu sagen, sie solle daheim bleiben und das Risiko mit allen anderen Bürgern teilen. Tatsache aber war, daß Jack keinen sicheren Platz kannte. Er schaute aus dem Fenster und suchte nach einer Antwort. – »Nein.«
»Berät Liz Elliot den Präsidenten?«
»Ja.«
»Jack, sie ist kleinlich und hat einen schwachen Charakter. Sie mag intelligent sein, aber innerlich ist sie schwach.«
»Ich weiß, Cathy. So, und jetzt hab’ ich hier wirklich zu tun.«
»Ich hab’ dich lieb.«
»Ich dich auch, mein Herz. Mach’s gut.« Jack legte auf. »Die Sache ist publik«, verkündete er. »Das Fernsehen bringt sogar Bilder.«
»Jack!« rief der Diensthabende. »AP meldet gerade Feuergefechte zwischen amerikanischen und sowjetischen Einheiten in Berlin. Reuters berichtet über die Explosion in Denver.«
Ryan rief Murray an. »Bekommen Sie die Meldungen der Nachrichtenagenturen?«
»Jack, ich wußte, daß das nicht klappen kann.«
»Wie bitte? Was meinen Sie?«
»Der Präsident wies uns an, die Fernsehanstalten an der Berichterstattung zu hindern. Wahrscheinlich haben wir irgendwo Mist gebaut.«
»Ist ja toll. Sie hätten diesen Befehl verweigern sollen, Dan.«
»Versucht hab’ ich’s.«
Es gab einfach zu viele Redundanzen, zu viele Knotenpunkte der Kommunikation. Zwei die USA versorgenden Satelliten funktionierten noch, ebenso fast alle Mikrowellen-Relaisstationen des Vorgängersystems. Die TV-Netze waren nicht nur in New York und Atlanta aktiv. Nach einem diskreten Anruf aus dem Rockefeller Center übernahm NBC Los Angeles die Rolle der Zentrale. CBS und ABC gelang ähnliches in Washington und Chicago. Wütende Reporter teilten der Öffentlichkeit mit, FBI-Agenten hielten in der bisher schändlichsten Verletzung des 1. Verfassungszusatzes das Personal der Sendezentralen ›wie Geiseln‹. ABC war über den Tod seines Teams empört, aber das wurde angesichts der Sensationsstory zur Nebensache. Die sprichwörtliche Katze war aus dem Sack, und in der Pressestelle des Weißen Hauses liefen die Drähte heiß. Viele Reporter kannten auch die Nummer von Camp David. Ein Kommentar des Präsidenten blieb aus, und das machte alles noch schlimmer. CBS-Reporter in Omaha, Nebraska, brauchten nur am SCA-Hauptquartier vorbeizufahren, um die verstärkten Wachen und die fehlenden Bomber zu bemerken. Ihre Fotos wurden binnen Minuten landesweit verbreitet, aber die beste und schlechteste Arbeit leisteten die Nachrichtenredaktionen der Lokalsender. Kaum eine Stadt in den USA hat nicht ein Arsenal der Nationalgarde oder eine Kaserne für die Reservisten. Die Aktivität dort ließ sich ebenso verbergen wie der Sonnenaufgang, und aus den Druckern kamen Meldungen der Nachrichtenagenturen über geschäftiges Treiben auf allen Basen. Man brauchte diese Berichte also nur noch mit dem wenige Minuten langen Videoband von KOLD Denver, das nun fast permanent ausgestrahlt wurde, zu unterstreichen, um den Bürgern zu erklären, was sich warum abspielte.
Alle Telefone des Aurora Presbyterian Hospitals wurden benutzt. Parsons hätte sich mit Gewalt Zugang zu einer Leitung verschaffen können, fand es aber einfacher, über die Straße in das so gut wie verlassene Einkaufszentrum zu rennen. Dort stieß er auf einen FBI-Agenten in der blauen »Razzia«-Jacke, die ihn in großen Blockbuchstaben identifizierte.
»Waren Sie gerade am Stadion?«
»Ja.««
»Ich muß telefonieren.«
»Sparen Sie Ihr Kleingeld.« Sie standen vor einem Hemenbekleidungsgeschäft. Die Tür war mit einer Alarmanlage gesichert, wirkte aber billig. Der Agent zog seine Dienstpistole und feuerte fünfmal durch die Scheibe. »Nach Ihnen, Kollege.«
Parsons rannte an die Theke und wählte die Nummer der FBI-Zentrale in Washington. Schweigen.
»Wo rufen Sie an?«
»Washington, D.C.«
»Die Fernleitungen sind unterbrochen.«
»Wie bitte? Die Telefonleitungen sollten doch nicht betroffen sein.«
»Wir haben die Leitungen gekappt. Befehl aus Washington«, erklärte der Agent.
»Welcher Idiot hat das angeordnet?«
»Der Präsident.«
»Ist ja super. Ich muß unbedingt eine Nachricht durchgeben.«
»Augenblick.« Der Agent wählte seine Dienststelle an.
»Hoskins.«
»Hier Larry Parsons, Teamleiter NEST. Könnten Sie etwas nach Washington weitergeben?«
»Sicher.«
»Die Bomben detonierte am Bodennullpunkt und war weniger als 15 Kilotonnen stark. Wir haben Proben der Rückstände, die nun zur spektroskopischen Untersuchung nach Rocky Flats geflogen werden. Können Sie das weitermelden?«
»Ja, das geht.«
»Okay.« Parsons legte auf.
»Sie haben Teile der Bombe?« fragte der FBI-Agent ungläubig.
»Klingt verrückt, was? Ja, das ist der Fallout – Bombenrückstände, die sich an Erdpartikeln festsetzen.«
»Und was fangen Sie damit an?«
»Dem läßt sich allerhand entnehmen. Kommen Sie«, sagte Parsons zu dem Agenten. Die beiden rannten über die Straße und zurück ins Krankenhaus. Ein FBI-Agent ist ein nützlicher Begleiter, fand Parsons.
»Jack, über Walt Hoskins ging eine Nachricht aus Denver ein. Die Bombe explodierte am Boden und hatte eine Sprengleistung von rund 50 Kilotonnen. Die Leute vom NEST haben Rückstände geborgen und werden sie nun analysieren.«
Ryan machte sich Notizen. »Die Zahl der Opfer?«
»Davon sagte man nichts.«
»50 Kilotonnen«, merkte der Mann von W&T an. »Kleiner, als die Werte von den Satelliten vermuten ließen, aber immer noch viel zu groß für eine Terroristenwaffe.«
Die F-16C war für diesen Einsatz nicht gerade ideal, aber schnell. Vier Maschinen waren erst vor 20 Minuten in Ramstein auf den DEFCON-3-Alarm hin gestartet und nach Osten und an die ehemalige innerdeutsche Grenze, die man immer noch als solche bezeichnete, geflogen. Dort hatte sie ein neuer Befehl erreicht und über den Südrand Berlins beordert, wo sie feststellen sollten, was sich in der Kaserne der Berliner Brigade tat. Vier F-15 Eagle aus Bitburg stießen dazu und gaben ihnen Deckung aus der Höhe. Alle acht Kampfflugzeuge der US-Luftwaffe waren für den Luftkampf bewaffnet und trugen statt Bomben Zusatz-Treibstofftanks unter den Rümpfen. Aus 3000 Meter sahen die Piloten Blitze und Explosionen am Boden. Der Schwarm F- 16 spaltete sich in zwei Paare auf und ging in den Sturzflug, um sich die Szene aus der Nähe anzusehen; die Eagles kreisten darüber. Wie sich später herausstellen sollte, bekamen es die Piloten mit zwei Problemen zu tun. Erstens waren sie von der plötzlichen Wendung der Dinge zu überrascht, um alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, und zweitens hatten die geringen Flugzeugverluste über dem Irak sie vergessen lassen, daß hier andere Bedingungen herrschten.
Das russische Panzerregiment war mit Luftabwehrraketen SA-8 und SA- 11 und der üblichen Anzahl von Fla-Panzern Schilka 23 Millimeter ausgerüstet. Der Kommandeur der Fla-Batterie hatte auf diesen Augenblick gewartet und sein Radar, anders als es die Iraker getan hatten, schlau inaktiv gelassen. Den Feuerbefehl gab er erst, als die amerikanischen Flugzeuge bis auf knapp 1000 Meter waren.
Kaum hatten ihre Warngeräte angesprochen, da stieg vom Rand des russischen Militärlagers auch schon ein Schwarm von Raketen auf, dem die in größerer Höhe fliegenden Eagles leicht ausweichen konnten. Die F-16 Fighting Falcons aber, die direkt in die SAM-Falle flogen, hatten so gut wie keine Chance. Zwei wurden binnen Sekunden zerrissen. Das zweite Paar wich der ersten Salve aus, doch eine Maschine geriet in die Splitterwolke der zweiten. Der Pilot rettete sich mit dem Schleudersitz, kam aber bei dem zu harten Aufprall auf das Dach eines Mietshauses ums Leben. Die vierte F-16 floh in Firsthöhe und jagte mit vollem Nachbrenner nach Westen. Zwei Eagles stießen zu ihr. Insgesamt stürzten fünf amerikanische Maschinen im Stadtgebiet ab. Nur ein Pilot überlebte. Die entkommenen Flugzeuge funkten die Nachricht an den OB der US-Luftwaffe Europa in Ramstein, der sofort zwölf F-16 mit schwereren Waffen ausrüsten ließ. Die zweite Welle sollte mehr Eindruck machen.
PRÄSIDENT NARMONOW:
WIR ENTSANDTEN FLUGZEUGE NACH BERLIN, UM DIE LAGE EINZUSCHÄTZEN. SIE WURDEN OHNE WARNUNG VON SOWJETISCHEN RAKETEN ABGESCHOSSEN. WARUM?
»Was soll das bedeuten?«
»›Ohne Warnung abgeschossen<? Die Flugzeuge schickte man, weil dort gekämpft wird! Das Regiment hat Luftabwehrkräfte«, erklärte der Verteidigungsminister, »die aber nur aus Raketen bestehen, die nicht in große Höhen reichen. Hätten die Amerikaner sich aus 10 000 Metern informiert, hätten wir ihnen nichts anhaben können. Sie müssen also im Tiefflug angekommen sein, um ihren Truppen Luftunterstützung zu geben. Nur unter diesen Bedingungen konnten wir sie erwischen.«
»Uns liegen aber keine Informationen vor?«
»Richtig, und wir haben immer noch keinen Kontakt hergestellt.«
»Dann werden wir diese Nachricht aus Washington nicht beantworten.«
»Das wäre ein Fehler«, sagte Golowko.
»Die Lage ist ohnehin schon gefährlich genug«, rief Narmonow ärgerlich. »Wir haben keine Ahnung, was dort vor sich geht. Wie kann ich reagieren, wenn er behauptet, Informationen zu haben, über die wir nicht verfügen?«
»Mit Ihrem Schweigen bestätigten Sie den Vorfall.«
»Wir geben nichts zu!« schrie der Verteidigungsminister. »Es wäre überhaupt nicht so weit gekommen, wenn man uns nicht angegriffen hätte, und außerdem steht nicht fest, ob sich der Vorfall überhaupt ereignete.«
»Teilen wir ihnen das mit«, schlug Golowko vor. »Wenn sie erkennen, daß wir ebenso konfus sind wie sie, verstehen sie vielleicht, daß –«
»Sie werden uns weder verstehen noch glauben. Man hat uns bereits beschuldigt, den Angriff geführt zu haben, und wird uns auch nicht abnehmen, daß wir die Lage in Berlin nicht unter Kontrolle haben.«
Narmonow zog sich an einen Ecktisch zurück und schenkte sich eine Tasse Tee ein, während Golowko und der Verteidigungsminister diskutierten. Der sowjetische Präsident schaute zur Decke. Die Befehlszentrale ging auf Stalin zurück und war am Ende eines Nebengleises der Moskauer U-Bahn von Lasar Kaganowitsch erbaut worden, Stalins liebstem jüdischen Antisemiten und treuestem Handlanger. Sie lag 100 Meter tief in der Erde, und nun erfuhr er von seinen Leuten, daß auch sie keine wirkliche Sicherheit bot.
Was denkt Fowler nur? fragte sich Narmonow. Der Tod so vieler amerikanischer Bürger mußte den Mann erschüttert haben, aber wie konnte er glauben, daß die Sowjets dafür verantwortlich waren? Und was ging im Augenblick eigentlich wirklich vor? Ein Gefecht in Berlin, ein möglicher Zusammenstoß zwischen Marineeinheiten im Mittelmeer, Ereignisse, die in keinem Zusammenhang standen – oder?
Kam es darauf überhaupt an? Narmonow starrte auf ein Bild an der Wand und erkannte, daß diese Punkte in der Tat nebensächlich waren. Mit Fowler hatte er gemeinsam, daß für sie als Politiker der Schein mehr Gewicht hatte als die Realität, und Wahrnehmungen wichtiger waren als Fakten. Der Amerikaner hatte ihn in Rom in einer trivialen Angelegenheit angelogen. Log er jetzt auch? Und wenn das der Fall war, galt aller Fortschritt der vergangenen zehn Jahre nichts mehr. Alles war umsonst gewesen.
Wie brechen Kriege aus? fragte sich Narmonow still in seiner Ecke. In der Geschichte waren Eroberungskriege von starken Führern vom Zaun gebrochen worden, denen es nach mehr Macht gelüstet hatte. Die Zeit der Männer mit imperialistischen Ambitionen aber war vorbei; den letzten dieser Verbrecher hatte der Tod vor nicht allzu langer Zeit ereilt. Der Umschwung war im 20. Jahrhundert gekommen. Wie hatte der Erste Weltkrieg begonnen? Ein Attentäter mit TB hatte einen dröhnenden Hanswurst umgebracht, der bei seiner eigenen Familie so unbeliebt gewesen war, daß sie noch nicht einmal zu seiner Beerdigung kommen wollte. Eine anmaßende diplomatische Note hatte Zar Nikolaus bewogen, einem Volk, für das er geringe Sympathien empfand, zu Hilfe zu kommen, und dann hatten die Fahrpläne für die Mobilisierung das Geschehen bestimmt. Wie sich Narmonow entsann, hatte Nikolaus die letzte Chance gehabt. Es hatte in seiner Macht gestanden, den Krieg zu verhindern. Aber da ihm die Kraft fehlte, hatte er aus Furcht und Schwäche den Mobilisierungsbefehl unterzeichnet, einen Schlußstrich unter eine Ära gezogen und eine neue beginnen lassen. Ausgebrochen war der Konflikt, weil kleine, furchtsame Männer weniger Angst vor einem Krieg hatten als davor, Schwäche zeigen zu müssen.
Fowler ist so ein Mensch, sagte sich Narmonow. Stolz und arrogant, ein Mann, der mich in einer Kleinigkeit anlog, weil er befürchtete, er könne in meiner Achtung sinken. Er muß empört über die vielen Toten sein und weitere Opfer fürchten, aber mehr noch fürchtet er, Schwäche zu zeigen. Und mein Land ist einem solchen Mann ausgeliefert.
Narmonow saß in einer netten Falle. Die Ironie der Lage hätte ein verkniffenes, bitteres Lächeln auslösen können, aber der sowjetische Präsident stellte die Tasse ab, weil sein Magen keine heiße, bittere Flüssigkeit mehr vertrug. Auch er durfte keine Schwäche zeigen – oder? Das würde Fowler nur zu noch irrationaleren Akten ermuntern. Andrej Iljitsch Narmonow fragte sich, ob das, was ervon Jonathan Robert Fowler hielt, vielleicht auch auf ihn zutraf... Aber nun mußte er eine Antwort formulieren. Passivität konnte als Schwäche ausgelegt werden.
»Keine Antwort?« fragte Fowler den Verwaltungsunteroffizier.
»Nein, Sir, noch nichts«, antwortete Orontia, ohne den Blick vom Monitor zu wenden.
»Mein Gott«, murmelte der Präsident. »Die vielen Toten...«
Undich könnte auch zu ihnen gehören, dachte Liz Elliot. Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe, rollte an wie die Brandung am Strand, brach sich, wich zurück und kehrte wieder. Jemand wollte uns töten, und mich auch. Dabei wissen wir nicht einmal, wer das getan hat und warum.
»Das darf nicht so weitergehen.«
Wir wissen noch nicht einmal, was wir verhindern wollen. Wer steckt dahinter? Und was ist das Motiv? Liz schaute auf die Uhr und berechnete die Zeit bis zum Eintreffen des NEACP. Wir hätten den Hubschrauber nehmen sollen, dachte sie. Warum haben wir uns nicht nach Hagerstown bringen lassen? Nun sitzen wir hier fest, stellen ein perfektes Ziel dar, und wenn sie uns umbringen wollen, werden sie uns diesmal erwischen.
»Wie können wir dem Einhalt gebieten? Er antwortet ja nicht einmal.«
Sea Devil 13, ein U-Abwehrflugzeug Orion P-3C, war von seinem Stützpunkt Kodiak aufgestiegen und wurde nun in der geringen Höhe von 170 Metern von Turbulenzen durchgeschüttelt. Zehn Meilen südwestlich der Position der Maine legte es die erste, aus zehn DIFAR-Sonarbojen bestehende Linie. Hinten in der Maschine waren die Sonaroperatoren fest in ihren Sitzen mit den hohen Rücklehnen angeschnallt, hatten meist die Flüstertüren griffbereit und versuchten, die Werte auf ihren Displays zu analysieren. Erst nach einigen Minuten ergab sich ein klareres Bild.
»Verdammt, das ist ja mein Boot«, sagte Jim Rosselli, wählte Bangor an und verlangte Commodore Mancuso.
»Bart, was ist los?«
»Maine meldet eine Kollision, Schrauben- und Wellenschaden. Im Augenblick gibt ihr eine P-3Deckung, und Omaha läuft mit voller Kraft auf sie zu. Soweit die guten Nachrichten. Die schlechten sind, daß Maine ein Akula verfolgte.«
»Maine hat was getan?«
»Harrys Idee, von der er mich und OP-02 überzeugte. Zu spät, sich jetzt darüber aufzuregen. Die Lage sollte entspannt sein; das Akula war weit entfernt. Sie wissen ja, was Harry letztes Jahr mit der Omaha anstellte.«
»Allerdings. Ich dachte, er hat nicht alle Tassen im Schrank.«
»Hören Sie, das geht bestimmt gut. Ich lasse im Augenblick meine Boote auslaufen, Jim. Wenn Sie mich nicht weiter brauchen, würde ich mich jetzt gerne um meine Arbeit kümmern.«
»Gut.« Rosselli legte auf.
»Was gibt’s?« fragte Rocky Barnes.
Rosselli reichte ihm die Meldung. »Mein altes Boot hat im Golf von Alaska eine Havarie erlitten, und in der Gegend schnüffelt ein Russe herum.«
»Sagten Sie nicht, das Ohio sei sehr leise? Die Russen wissen bestimmt nicht, wo Maine liegt.«
»Richtig.«
»Kopf hoch, Jim. Ich habe wahrscheinlich ein paar von den Piloten, die es über Berlin erwischte, gekannt.«
»Wo, zum Kuckuck, bleibt Wilkes? Er sollte schon längst hier sein«, meinte Rosselli. »Mit seinem Allradantrieb muß er doch durchkommen.«
»Keine Ahnung. Was läuft hier eigentlich?«
»Weiß der Teufel, Rocky.«
»Ah, da geht eine Antwort ein«, meldete Chief Orontia. »Eine lange.«
PRÄSIDENT FOWLER:
ÜBER DIE VON IHNEN ERWÄHNTE ANGELEGENHEIT LIEGEN UNS KEINE INFORMATIONEN AUS BERLIN VOR. MEIN BEFEHL GING AN UNSERE TRUPPEN, UND WENN SIE IHN ERHALTEN HABEN, WERDEN SIE NUR MASSNAHMEN ZUR SELBSTVERTEIDIGUNG ERGREIFEN. UNSERE VERSUCHE, MIT IHNEN KONTAKT AUFZUNEHMEN, GEHEN WEITER, ABER UNSER ERSTER VERSUCH, SIE ZU ERREICHEN, WURDE VON AMERIKANISCHEN TRUPPEN VERHINDERT, DIE WEIT VON IHREM LAGER ENTFERNT WAREN. SIE BESCHULDIGEN UNS, DAS FEUER ERÖFFNET ZU HABEN. ICH VERSICHERTE IHNEN BEREITS, DASS UNSERE STREITKRÄFTE KEINEN BEFEHL ZUM ANGRIFF ERHIELTEN. EINDEUTIG STEHT FÜR UNS NUR FEST, DASS IHRE VERBÄNDE SICH WEIT IN UNSERER ZONE DER STADT BEFANDEN, ALS SIE ANGRIFFEN.
MR. PRESIDENT, ICH KANN IHRE WORTE NICHT MIT DEN UNS VORLIEGENDEN FAKTEN IN EINKLANG BRINGEN. DIES SOLL KEIN VORWURF SEIN, ABER ICH WEISS NICHT, WIE ICH IHNEN SONST NOCH VERSICHERN KANN, DASS SOWJETISCHE KRÄFTE NICHTS GEGEN AMERIKANISCHE TRUPPEN UNTERNOMMEN HABEN.
SIE HABEN IHRE STREITKRÄFTE IN ALARMBEREITSCHAFT VERSETZT UND BEZEICHNEN DAS ALS REINE DEFENSIVMASSNAHME. WIR HABEN ABER HINWEISE, DASS IHRE STRATEGISCHEN KRÄFTE IN HÖCHSTER BEREITSCHAFT SIND. EINERSEITS SAGEN SIE, SIE HÄTTEN KEINEN ANLASS ZU GLAUBEN, DASS WIR FÜR DIESE INFAMIE VERANTWORTLICH SIND, ANDERERSEITS SIND IHRE STRATEGISCHEN WAFFEN IN ALARMBEREITSCHAFT UND AUF MEIN LAND GERICHTET. WAS SOLL ICH DAVON HALTEN? SIE VERLANGEN EINEN BEWEIS UNSERER GUTEN ABSICHTEN, ABER ALLE IHRE MASSNAHMEN WEISEN AUF DAS GEGENTEIL HIN.
»Nur großes Geschrei«, bemerkte Liz Elliot sofort. »Wer da am anderen Ende sitzt, ist durcheinander. Sehr gut, vielleicht gewinnen wir doch noch die Oberhand.«
»Gut?« frage der CINC-SAC. »Ist Ihnen klar, daß dieser Mensch zwar Angst hat, aber auch eine ganze Menge Raketen? Ich interpretiere das anders, Dr. Elliot. Ich habe den Eindruck, daß er zornig ist und uns unsere Anfragen glatt wieder auftischt.«
»Wie meinen Sie das, General?«
»Er sagt, er sei über unseren Alarmzustand informiert. Gut, das überrascht mich nicht, aber er betont auch, daß unsere Waffen auf ihn zielen. Er beschuldigt uns nun, ihn zu bedrohen – mit Kernwaffen, Mr. President. Und das halte ich für wichtiger als diesen Kleinkram in Berlin.«
»Dem stimme ich zu«, erklärte General Borstein. »Er versucht, uns mit Gepolter einzuschüchtern. Wir fragen nach ein paar abgeschossenen Flugzeugen, aber er serviert uns das.«
Fowler stellte wieder die Verbindung zur CIA her. »Ryan, haben Sie die letzte Nachricht gelesen?«
»Jawohl, Sir.«
»Was halten Sie von Narmonows geistiger Verfassung?«
»Im Augenblick ist er ein bißchen aufgebracht, und unsere Verteidigungsbereitschaft macht ihm Sorgen. Er versucht wohl, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden.«
»Ich sehe das anders. Der Mann ist durcheinander.«
»Wer ist das nicht?« fragte Jack. »Natürlich ist er durcheinander. Geht uns das nicht allen so?«
»Ryan, wir haben die Lage hier im Griff.«
»Das Gegenteil habe ich nie behauptet, Liz«, versetzte Jack und verkniff sich, was er wirklich sagen wollte. »Die Situation ist ernst, und er ist über sie so besorgt wie wir. Wie alle Beteiligten versucht er herauszufinden, was eigentlich passiert. Der Haken ist nur, daß niemand so richtig Bescheid weiß.«
»Und wessen Schuld ist das?« fragte Fowler gereizt. »Das ist schließlich Ihre Aufgabe.«
»Jawohl, Mr. President, und wir arbeiten an dem Fall. Viele Leute geben sich die beste Mühe.«
»Robert, klingt dieser Mann wie Narmonow? Sie kennen ihn doch, haben Zeit mit ihm verbracht.«
»Das kann ich wirklich nicht sagen, Elizabeth.«
»Die einzig plausible Erklärung ...«
»Liz, wer sagt denn, daß es hier mit Logik zugehen muß?« fragte Ryan.
»General Borstein, die Waffe hatte eine hohe Sprengleistung, nicht wahr?«
»Ja, das zeigten unsere Instrumente an.«
»Wer verfügt über so starke Bomben?«
»Wir, die Russen, die Briten und Franzosen. Vielleicht hat China solche Waffen, aber das bezweifeln wir; sie wären klotzig und primitiv. Israel besitzt Gefechtsköpfe dieses Kalibers. Indien, Pakistan und Südafrika haben Fisionswaffen, aber nicht in dieser Größenordnung.«
»Ryan, ist diese Information korrekt?« fragte Liz Elliot.
»Jawohl.«
»Großbritannien, Frankreich und Israel scheiden aus. Wer steckt also dahinter?«
»Verflucht noch mal, Liz, das wissen wir nicht! Wir spielen hier keinen Sherlock-Holmes-Krimi durch. Kombiniere dies, eliminiere das; dabei erfahren wir nicht, wer es war! Aus dem Fehlen von Informationen lassen sich keine Schlüsse ziehen.«
»Kennt die CIA alle Staaten, die über solche Waffen verfügen?« fragte Fowler.
»Jawohl, Sir, dieser Auffassung bin ich.«
»Und wie sicher können Sie sein?«
»Bis heute hätte ich mein Leben darauf gewettet.«
»Sie sagen also wieder mal nicht die Wahrheit.«
Jack erhob sich von seinem Sessel. »Sir, Sie mögen Präsident der Vereinigten Staaten sein, aber ich muß Sie bitten, mich nie wieder der Lüge zu beschuldigen! Meine Frau rief gerade an und wollte wissen, ob sie die Kinder in Sicherheit bringen soll. Wenn Sie glauben, daß ich in einer solchen Situation dumme Spiele treibe, dann sind Sie derjenige, der Hilfe braucht!«
»Danke, Ryan, das genügt.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
»Guter Gott!« rief der Offizier vom Dienst.
Ryan schaute sich nach einem Papierkorb um und schaffte es gerade noch, fiel auf die Knie und erbrach sich. Dann griff er nach einer Dose Coke, spülte sich den Mund aus und spuckte die Flüssigkeit in den Papierkorb. Niemand sagte ein Wort.
Jack richtete sich auf. »Sie blicken nicht durch«, sagte er leise und steckte sich eine Zigarette an. »Sie blicken einfach nicht durch. Im Grunde ist das ganz einfach. Es besteht ein Unterschied zwischen Unwissenheit und der Erkenntnis seiner eigenen Unwissenheit. Wir stecken in einer Krise, und bei allen Beteiligten bricht ihre alte Natur wieder durch. Der Präsident denkt wie ein Jurist, versucht die Fassade zu wahren, tut, worauf er sich versteht, geht die Beweismittel durch, baut seine Anklage auf, vernimmt Zeugen, versucht alles aufs Wesentliche zu reduzieren. Liz ist auf die Tatsache fixiert, daß sie hätte in die Luft fliegen können, und unfähig, das zu vergessen. Nun denn.« Ryan zuckte die Achseln. »Das kann ich wohl verstehen. Ich war auch schon einmal in einer solchen Situation. Als Politikwissenschaftlerin sucht sie nach einem theoretischen Modell und bläst das nun dem Präsidenten ein. Ihr Szenarium ist elegant, basiert aber auf Unsinn. Habe ich recht, Ben?«
»Sie haben etwas ausgelassen, Jack«, meinte Goodley.
Ryan schüttelte den Kopf. »Nein, Ben, dazu komme ich noch. Weil ich die Beherrschung verloren habe, hört man jetzt nicht mehr auf mich. Ich hätte das wissen sollen; ich wurde ja gewarnt und sah es sogar kommen, aber trotzdem brauste ich auf. Und der Clou ist, daß Fowler sein Amt mir zu verdanken hat. Wäre ich nicht gewesen, säße er noch heute in Columbus, Ohio, und Liz Elliot hielte in Bennington jungen Studentinnen Vorlesungen.« Jack trat wieder ans Fenster. Draußen war es dunkel, und die Raumbeleuchtung machte aus der Scheibe einen Spiegel.
»Wovon reden Sie?«
»Das, meine Herren, ist geheim. Na, vielleicht setzt man mal folgendes auf meinen Grabstein: Hier ruht John Patrick Ryan. Er versuchte, das Richtige zu tun – und seht nur, was er anrichtete. Hoffentlich kommen Cathy und die Kinder durch ...«
»Immer mit der Ruhe, so schlimm ist es noch nicht«, besänftigte der Offizier vom Dienst, aber alle Anwesenden fröstelten nun.
Jack drehte sich um. »Wirklich nicht? Sehen Sie denn nicht, worauf die Sache hinausläuft? Fowler und Elliot hören auf niemanden. Sie sind wie taub. Dennis Bunkers Rat oder Brent Talbots hätten sie vielleicht befolgt, aber diese beiden sind nun nur noch Fallout irgendwo über Colorado. Ich bin der einzige Berater, den sie im Augenblick haben, und ich bin abgesägt worden.«