29
Wendepunkt
MS Carmen Vita, die, angetrieben von ihren Pielstick-Dieseln, konstant 19 Knoten lief, glitt pünktlich durch die Straße von Gibraltar, und ihre vierzigköpfige Mannschaft (weibliche Besatzungsmitglieder waren nicht an Bord, wohl aber die Ehefrauen dreier Offiziere) machte sich für das normale Routineprogramm der Wachen und der Instandhaltung bereit. In sieben Tagen sollte mit Kap Charles und Kap Henry die Küste der USA in Sicht kommen. Auf und unter Deck waren zahlreiche in ihren Abmessungen genormte Container verstaut, deren Inhalt dem Kapitän und der Mannschaft ziemlich gleichgültig war. Sinn und Zweck dieser Container war, das Schiff praktisch wie den Lkw einer Spedition verkehren zu lassen; die Besatzung brauchte sich lediglich um das Gewicht der Container zu kümmern, das wegen der im Straßenverkehr vorgeschriebenen Höchstgrenzen nur geringen Schwankungen unterworfen war.
Da das Schiff den Atlantik auf der Südroute überquerte, versprach die Fahrt ruhig und ereignislos zu verlaufen. Die heftigen Winterstürme zogen höher im Norden ihre Bahn, und der indische Kapitän war zufrieden. Mit 37 war er relativ jung für diesen verantwortungsvollen Posten, doch er hoffte, bald ein größeres und komfortableres Schiff zu bekommen. Gutes Wetter bedeutete eine rasche Überfahrt und geringen Treibstoffverbrauch, und wenn er die Carmen Vita pünktlich und mit geringen Unkosten in den Bestimmungshafen brachte, konnte er zu gegebener Zeit mit einer Beförderung rechnen.
Clark hatte Mrs. Ryan nun zehn Tage hintereinander nicht zu Gesicht bekommen. John Clark hatte ein gutes Gedächtnis für solche Dinge, geschärft durch jahrelange Tätigkeit als Agent im Ausland, bei der man nur überlebte, wenn man auf alles achtete, ob es nun wichtig erschien oder nicht. Gewiß, Jack mußte früh aufstehen – sie aber auch, denn sie hatte zweimal in der Woche früh Operationen. Clark konnte durch das Küchenfenster ihren Kopf sehen; vermutlich saß sie am Tisch, trank Kaffee und las Zeitung oder sah fern. Doch als ihr Mann aus dem Haus ging, hatte sie noch nicht einmal den Kopf gewandt. Normalerweise stand sie auf, um ihn mit einem Kuß zu verabschieden. Aber seit zehn Tagen hintereinander nichts.
Kein gutes Zeichen. Was war hier los? Jack kam mit finsterer Miene und gesenktem Kopf auf den Wagen zu. Wieder diese Grimasse, dachte Clark.
»Morgen, Doc!« rief Clark munter.
Ryan erwiderte den Gruß bedrückt. Wie Clark feststellte, hatte er die Zeitung wieder nicht dabei und ging sofort an die Dokumente. Als sie den Autobahnring erreichten, starrte er nur noch ins Leere und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Nun hielt Clark es einfach nicht mehr aus.
»Probleme daheim, Doc?«
»Ja, aber das ist meine Sache.«
»Stimmt wohl. Geht es den Kindern gut?«
»Es geht nicht um die Kinder, John. Lassen wir das Thema fallen, klar?«
»Klar.« Clark konzentrierte sich auf den Verkehr, Ryan auf seine Meldungen.
Was, zum Kuckuck, ist hier los, dachte Clark. Sei analytisch, denk die Sache durch.
Sein Chef litt nun schon seit mehr als vier Wochen unter dieser Depression, aber seit ein paar Tagen hatte sich sein Zustand noch verschlimmert. Was war der Grund – etwa Holtzmans Artikel? Ryan hatte ein familiäres Problem, aber die Kinder waren nicht betroffen. Also mußte er Ärger mit Cathy haben. Clark nahm sich vor, den Artikel und etwaige andere Berichte im Büro noch einmal durchzulesen. 70 Minuten, nachdem er Ryan abgeholt hatte – an diesem Morgen hatte nicht viel Verkehr geherrscht -, betrat Clark die ausgesprochen beeindruckend wirkende Bibliothek der CIA und setzte mit seiner Rechercheanfragc das Personal in Trab. Schwer war die Arbeit nicht, denn der Dienst bewahrte alle Presseberichte, die es über ihn gab, nach Verfassern geordnet auf. Als sie vor ihm lagen, wurde Clark das Problem sofort klar.
Holtzman hatte einen Finanz- und Sexskandal erwähnt. Und gleich nach Erscheinen des Artikels ...
»Scheiße!« flüsterte Clark. Er ließ sich vier Artikel neueren Datums kopieren und machte dann einen Spaziergang, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ein Vorteil der Arbeit beim Personenschutz – besonders, wenn man auf Ryan aufzupassen hatte – war, daß es nicht viel zu tun gab. In Langley war Ryan ein Stubenhocker, der den Gebäudekomplex nur selten verließ. Clark drehte eine flotte Runde im Gelände, las die Zeitungsartikel noch einmal und stellte eine zweite Querverbindung fest: Ein Bericht war am Sonntag erschienen. An diesem Tag war Ryan früher nach Hause zurückgekehrt und auf der Fahrt gut aufgelegt gewesen. Er hatte erwogen, gleich nach der mexikanischen Operation Urlaub zu machen, und sich sogar von Clark Tips über Florida geben lassen – aber am nächsten Morgen hatte er ausgesehen wie eine Leiche und auch die Zeitung nicht dabeigehabt. Seine Frau mußte sie gelesen haben, und vermutlich war es zwischen den beiden zu schweren Spannungen gekommen. Clark fand diese Möglichkeit recht plausibel, und das genügte ihm.
Er ging durch den elektronisch gesicherten Eingang zurück ins Gebäude und machte sich auf die Suche nach Chavez, der seinen Arbeitsplatz im neuen Bau der Hauptverwaltung hatte. Chavez saß in seinem Büro und studierte Einsatzpläne.
»Ding, holen Sie Ihren Mantel.« Zehn Minuten später waren sie auf der Ringautobahn. Chavez hatte einen Stadtplan von Baltimore auf den Knien.
»Ich hab’s«, sagte er. »Ecke Broadway und Monument Street, gleich überm Hafen.«
Russell trug einen Overall. Die Fotos von den Übertragungswagen in Chicago waren gut geworden und von einem Labor in Boulder auf Posterformat vergrößert worden. Er verglich die Fahrzeuge mit seinem weißen Ford – es handelte sich um denselben Typ Transporter – und nahm exakte Messungen vor. Die nächste Aufgabe war nicht einfach. Er hatte ein Dutzend flexible Kunststoffplatten gekauft. Daraus schnitt er nun Schablonen für das ABC-Logo, klebte sie mit Kreppband auf die Seiten des Kastenwagens und malte die Buchstaben mit Filzstift ein. Erst beim sechsten Versuch war er zufrieden und markierte die Position der Schablonen mit dem Messer. Er fand es schade, den Lack zerkratzen zu müssen, bis ihm einfiel, daß das Fahrzeug ja sowieso in die Luft fliegen würde. Im großen und ganzen war er mit seinen künstlerischen Fähigkeiten, die er seit seiner Zeit in der Gefängnislehrwerkstatt nicht mehr eingesetzt hatte, zufrieden. Wenn das Logo in Schwarz auf das weiße Fahrzeug gemalt war, würde niemand den Unterschied merken.
Anschließend fuhr er zur Zulassungsstelle, um sich gewerbliche Schilder zu besorgen. Er gab vor, den Ford für seine Elektronikfirma, die Telefonanlagen installierte, zu brauchen. Er verließ das Amt mit provisorischen Pappnummernschildern. Die endgültigen Kennzeichen aus Blech würden nach vier Arbeitstagen fertig sein. Der Führerschein war noch leichter zu ergattern. Nachdem er den von Ghosn besorgten internationalen Führerschein und seinen Paß vorgelegt und eine schriftliche Prüfung bestanden hatte, stellte ihm der Staat Colorado die kleine Karte mit dem Paßbild aus. Beim Ausfüllen eines Formulars machte er einen »Fehler«, und die Beamtin ließ ihn ein neues unterschreiben. Das verpatzte warf Russell in den Papierkorb. Oder wenigstens sah es so aus. In Wirklichkeit verschwand der Bogen in der Tasche seines Parkas.
Das Johns-Hopkins-Hospital liegt nicht im besten Viertel. Um diesen Nachteil zu kompensieren, bewachte es die Polizei von Baltimore auf eine Art und Weise, die Clark an seine Zeit in Vietnam erinnerte. Er fand gleich gegenüber vom Haupttor am Broadway einen Parkplatz und ging zusammen mit Chavez hinein, vorbei an einer Jesusstatue, deren Dimensionen und Ausführung beide bewunderten. Das richtige Gebäude in dem riesigen Komplex war nicht so leicht zu finden, aber zehn Minuten später saßen sie im Vorzimmer von Professor Caroline M. Ryan. M.D., F.A.C.S. Clark schaute in eine Illustrierte, Chavez starrte lüstern die Sprechstundenhilfe an. Mrs. Ryan erschien um 12.35 Uhr mit einem Stoß Akten unterm Arm, warf den beiden CIA-Leuten einen fragenden Blick zu und segelte wortlos in ihr Zimmer. Clark stellte mit einem Blick fest, was los war. Sie war ihm immer als eine sehr attraktive und selbstsichere Frau erschienen, aber heute sah sie fast noch schlimmer aus als ihr Mann. Das geht wirklich zu weit, dachte Clark. Er zählte bis zehn und marschierte dann einfach an der verdutzt guckenden Sprechstundenhilfe vorbei, um seine neueste Karriere zu beginnen: als Eheberater.
»Was soll das?« fragte Cathy. »Ich habe heute keine Termine.«
»Verzeihung, ich muß Sie kurz sprechen.«
»Wer sind Sie überhaupt? Wollen Sie mich über meinen Mann ausfragen?«
»Mein Name ist Clark.« Er griff in die Hemdtasche und zog den Dienstausweis hervor, den er an einer Kette um den Hals trug. »Es gibt so einiges, über das ich Sie informieren möchte.«
Cathys Blick wurde fast sofort hart, als der Zorn die Oberhand über den Schmerz gewann. »Ich weiß, das habe ich alles schon gehört.«
»Das bezweifle ich, Mrs. Ryan. Können wir uns anderswo unterhalten? Darf ich Sie zum Mittagessen einladen?«
»In dieser Gegend? Die Straßen sind alles andere als sicher.«
»So?« Clark lächelte nur, um ihr zu zeigen, für wie absurd er ihre Bemerkung hielt.
Zum ersten Mal musterte Caroline Ryan den Besucher fachmännisch. Er hatte Jacks Größe, war aber stämmiger gebaut. Seine Hände waren groß und sahen stark aus, und seine Körpersprache verriet, daß er sich vor nichts fürchtete. Sie hatte Jacks Gesicht einmal für männlich gehalten, aber dieser Mann hatte markige Züge. Er kann praktisch jeden einschüchtern, dachte sie, aber nun tut er alles, um wie ein Gentleman zu wirken, und das gelingt ihm auch. Er erinnerte sie an die Footballspieler, die hier manchmal die kleinen Patienten besuchten. Das ist auch so ein großer Teddybär, dachte sie, aber nur, weil er sich so geben will.
»Ein Stück weiter in der Monument Street ist ein Lokal.«
»Gut.« Clark nahm ihren Mantel vom Garderobenständer und half ihr geschickt hinein. Draußen gesellte sich Chavcz zu ihnen. Er war kleiner und zierlicher als Clark, wirkte aber demonstrativ bedrohlicher und sah aus wie ein Mitglied einer Gang, das gute Manieren zeigen will. Cathy wußte, daß die Straßen hier nicht sicher waren – zumindest für eine Frau ohne Begleitung –, aber Chavez ging in einer Weise vor, als überquerte er ein Schlachtfeld. Interessant, dachte sie. Bald hatten sie das kleine Restaurant erreicht, wo Clark alle in eine Ecknische plazierte. Beide Männer saßen mit dem Rücken zur Wand, damit sie die Tür und jede mögliche Bedrohung sehen konnten. Äußerlich wirkten sie entspannt und hatten beide die Jacketts aufgeknöpft.
»Sagen Sie mir erst einmal, wer Sie genau sind.« Cathy kam sich vor wie im Gangsterfilm.
»Ich bin der Fahrer Ihres Mannes«, erwiderte John, »und war früher einmal im paramilitärischen Einsatz. Bei der CIA bin ich seit fast zwanzig Jahren und arbeite nun vorwiegend im Personenschutz.«
»So etwas dürfen Sie mir doch gar nicht verraten.«
Clark schüttelte nur den Kopf. »Mrs. Ryan, wir haben noch gar nicht begonnen, gegen die Vorschriften zu verstoßen. Mein Kollege hier, Ding Chavez, ist ebenfalls beim Personenschutz.«
»Angenehm, Dr. Ryan. Eigentlich heiße ich Domingo.« Er streckte die Hand aus. »Ich arbeite ebenfalls für Ihren Mann und beschütze ihn im Auto und auf Reisen.«
»Sind Sie beide bewaffnet?«
Ding sah fast betreten drein. »Ja, Dr. Ryan.«
Damit dürfte der abenteuerliche Teil des Gesprächs wohl beendet sein, dachte Cathy. Die beiden zweifellos sehr harten Männer hatten mit Erfolg ihren ganzen Charme aufgebracht, aber damit war ihr Problem nicht gelöst. Sie setzte zu einer Bemerkung an, aber Clark kam ihr zuvor.
»Mrs. Ryan, es scheint zwischen Ihnen und Ihrem Mann Spannungen zu geben. Den Grund kann ich nur vermuten, aber fest steht für mich, daß er darunter leidet. Und das ist nicht gut für den Dienst.«
»Gentlemen, ich weiß Ihre Anteilnahme zu schätzen, aber das ist eine Privatangelegenheit.«
»Gewiß, Mrs. Ryan«, erwiderte Clark in gespenstisch höflichem Ton und holte die Fotokopien von Holtzmans Artikeln aus der Tasche. »Ist das der Stein des Anstoßes?«
»Das geht Sie gar...« Cathy kniff die Lippen zusammen.
»Dacht’ ich mir’s doch, Mrs. Ryan. Nichts davon ist wahr; ich meine den Vorwurf des unsittlichen Verhaltens. Ihr Mann verläßt praktisch nie das Haus, ohne daß einer von uns ihn begleitet. Die Natur seiner Arbeit und seiner Position verlangt, daß er jedesmal, wenn er aus dem Haus geht, das Fahrtziel einträgt – ganz wie ein Arzt, der in Bereitschaft ist. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen Kopien dieser Blätter besorgen – so weit zurückliegend, wie Sie wollen.«
»Das ist bestimmt nicht legal.«
»Wahrscheinlich nicht«, stimmte Clark zu. »Na und?«
Sie wollte ihm glauben, brachte es aber nicht fertig und entschied, ihnen auch den Grund zu sagen. »Ihre Loyalität Jack gegenüber ist beeindruckend, aber ich weiß Bescheid. Ich habe unsere Finanzakten durchgesehen und bin dahintergekommen, daß er diese Zimmer und ein Kind von ihr hat!«
»Was wissen Sie denn genau?«
»Daß Jack bei der Geburt dabei war, daß er ihr viel Geld gegeben und es mir und aller Welt verheimlicht hat. Ich weiß auch, daß die Regierung gegen ihn ermittelt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ein Ermittlungsbeamter war hier bei mir in der Klinik!«
»Dr. Ryan, weder die CIA noch das FBI ermitteln gegen Ihren Mann.«
»Wer hat mich dann aufgesucht?«
»Das weiß ich leider nicht«, antwortete Clark. Er hatte zwar eine Ahnung, fand aber, daß seine Vermutung hier nichts zur Sache tat.
»Ich weiß über Carol Zimmer Bescheid«, begann sie wieder.
»Und was wissen Sie?« fragte Clark leise. Die Reaktion überraschte ihn.
»Jack geht fremd, und zwar mit ihr!« schrie Cathy fast. »Sie hat ein Kind von ihm, und er ist so oft bei ihr, daß er keine Zeit für mich hat und mich sogar nicht mehr...« Sie hielt inne und sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen.
Clark wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte, wandte aber den Blick nicht von ihrem Gesicht und erkannte nun alles klar und deutlich. Ding, der zu jung war, um so etwas zu verstehen, sah nur peinlich berührt drein.
»Lassen Sie mich bitte ausreden?«
»Sicher, warum nicht? Es ist aus, und verlassen habe ich ihn nur nicht, weil die Kinder da sind. Nur zu, setzen Sie sich für ihn ein. Erzählen Sie mir, daß er mich noch liebt und den ganzen Kram. Er ist ja zu feige, selbst mit mir darüber zu reden. Wetten, daß er Sie geschickt hat?« schloß sie bitter.
»Erstens weiß er nicht, daß wir hier sind. Wenn er das erfährt, bin ich wahrscheinlich meinen Job los, aber das macht nichts. Ich habe ja meine Pension. Außerdem habe ich vor, gegen noch strengere Vorschriften zu verstoßen. Tja, wo fange ich an?« Clark machte eine Pause und fuhr dann fort.
»Carol Zimmer ist die Witwe des Sergeants Buck Zimmer, Air Force. Er kam im Dienst ums Leben; genau gesagt, starb er in den Armen Ihres Mannes. Das weiß ich, weil ich selbst dabei war. Buck bekam fünf Geschosse in die Brust, die beide Lungen perforierten. Der Todeskampf dauerte fünf oder sechs Minuten. Er hatte sieben Kinder – acht, wenn man das Ungeborene mitzählt. Von diesem Kind wußte Buck bei seinem Tod nichts. Carol wollte ihn mit der Nachricht überraschen.
Sergeant Zimmer war Chief bei einer Hubschrauber-Spezialeinheit der Air Force. Wir flogen in ein fremdes Land, um eine Gruppe von Soldaten der Army zu retten, die dort im verdeckten Einsatz waren.«
»Und ich war einer davon«, warf Ding zu Clarks Mißvergnügen ein. »Ich säße nicht auf diesem Stuhl, wenn Ihr Mann nicht sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte.«
»Die Soldaten waren von hier aus absichtlich von Nachschub und Unterstützung abgeschnitten worden...«
»Von wem?«
»Tut nichts zur Sache. Er ist tot«, antwortete Clark in einem Ton, der keinen Raum für Zweifel ließ. »Ihr Mann fand heraus, daß die Operation illegal war, und stellte mit Dan Murray vom FBI eine Rettungsmannschaft zusammen. Ein harter Einsatz, den wir nur mit Glück schafften. Es erstaunt mich, daß Ihnen nichts aufgefallen ist – hat Ihr Mann vielleicht Alpträume?«
»Er schläft nicht besonders gut und – ja, manchmal spricht er im Schlaf.«
»Eine Kugel verfehlte seinen Kopf um vielleicht fünf Zentimeter. Wir hatten einen Zug Soldaten, der unter Feuer lag, von einem Berg zu holen. Jack bediente die eine Schnellfeuerkanone, Buck Zimmer die andere. Buck wurde getroffen, als wir abhoben. Jack und ich versuchten ihm zu helfen, aber ich bezweifle, daß selbst die Spezialisten hier in der Klinik ihn noch hätten retten können. Es war schlimm. Er starb...« Clark mußte eine Pause machen, und Cathy erkannte, daß sein Schmerz nicht gespielt war. »In seinen letzten Worten drückte er Sorge um seine Kinder aus. Ihr Mann hielt ihn im Arm und versprach ihm, ihre Ausbildung zu sichern und die Familie zu versorgen. Mrs. Ryan, ich bin schon ewig in diesem Geschäft, aber einen anständigeren Mann als Ihren Gatten habe ich noch nie erlebt.
Als wir wieder zurück waren, löste Jack sein Versprechen ein. Natürlich. Es überrascht mich nicht, daß er Ihnen die Sache verschwieg. Gewisse Aspekte der Gesamtoperation kenne selbst ich nicht. Aber eines weiß ich: Wenn dieser Mann sein Wort gibt, hält er es auch. Und ich habe ihm geholfen. Wir holten die Familie von Florida hierher. Jack kaufte ihr ein kleines Geschäft. Ein Kind studiert schon in Georgetown, das zweite bekommt einen Studienplatz am MIT! Ah, ich habe vergessen, Ihnen von Carol Zimmer zu erzählen, die eigentlich nicht Carol heißt. Sie ist Laotin. Zimmer holte sie heraus, als der Pathet Lao die Macht übernahm, heiratete sie und zeugte ein Kind nach dem anderen. Wie auch immer, als typische ostasiatische Mutter hält sie Bildung für ein Gottesgeschenk und läßt ihre Kinder fleißig lernen. Die Familie verehrt Jack wie einen Heiligen. Wir schauen dort mindestens einmal in der Woche herein.«
»Ich will Ihnen ja glauben«, sagte Cathy. »Aber das Baby?«
»Ah, die Geburt meinen Sie? Ja, wir waren beide dort. Meine Frau half Carol - Jack fand es unschicklich, im Zimmer zu sein, und ich habe so etwas noch nie erlebt und bekomme allein schon bei der Vorstellung Angst«, gestand Clark. »Also warteten wir Feiglinge draußen. Wenn Sie wollen, stelle ich Sie der Familie Zimmer vor. Wenn nötig, wird auch Dan Murray vom FBI die Geschichte bestätigen.«
»Werden Sie da keine Schwierigkeiten bekommen?« Cathy wußte, daß sie dem sittenstrengen FBI-Mann trauen konnte.
»Meinen Job werde ich mit Sicherheit los und vielleicht sogar angeklagt – immerhin habe ich gerade gegen ein Bundesgesetz verstoßen -, bezweifle aber, daß es soweit kommt. Und Ding verliert seine Stellung wahrscheinlich auch, weil er nicht auf mich gehört und den Mund gehalten hat.«
»Scheiße«, sagte Ding und guckte dann verlegen. »Verzeihung, Dr. Ryan. John, das war Ehrensache. Wenn der Doc nicht gewesen wäre, läge ich jetzt in Kolumbien unter der Erde. Ich verdanke ihm mein Leben. Das ist wichtiger als ein Job, ’mano.«
Clark reichte ihr eine Karteikarte. »Hier sind die Daten der Operation. Sie mögen sich entsinnen, daß Jack nicht auf Admiral Greers Beerdigung war.«
»Stimmt! Bob Ritter rief mich an und...«
»Sehen Sie, damals ist es passiert. Sie können es sich von Mr. Murray bestätigen lassen.«
»Mein Gott!« Cathy erkannte mit einem Mal die Wahrheit.
»Bitte. Und alles, was in diesen Artikeln steht, ist erstunken und erlogen.«
»Wer steckt dahinter?«
»Das weiß ich nicht, aber ich werde es herausbekommen. Dr. Ryan, ich muß seit sechs Monaten mit ansehen, wie Ihr Mann langsam kaputtgeht. Ich habe so etwas in Vietnam im Gefecht erlebt, aber was Ihr Mann durchmacht, ist schlimmer. Jack spielte beim Vatikanabkommen, der Friedensregelung im Nahen Osten, eine wichtige Rolle, aber man sprach ihm überhaupt keinen Verdienst zu. Welchen Part er nun genau spielte, weiß ich nicht; er ist sehr verschwiegen. Und das ist sein Problem: Er frißt alles in sich hinein. Wenn man das übertreibt, wirkt es wie ein Krebsgeschwür oder Säure. Es verzehrt einen. Und dieser Unsinn in der Presse hat alles noch schlimmer gemacht.
Eines kann ich Ihnen sagen, Dr. Ryan: Ich habe allerhand erlebt, aber einem besseren Menschen als Ihrem Mann bin ich nicht begegnet. Sie können nicht wissen, wie oft er seine Haut riskiert hat, aber er ist bei gewissen Leuten unbeliebt, und diese Leute versuchen, ihn mit Methoden zu bekämpfen, gegen die er sich nicht wehren kann. Die typische dreckige und hinterfotzige Tour, aber ein Mann wie Jack wird mit so etwas nicht fertig, weil er sich an die Regeln hält. Sehen Sie, und das macht ihm zu schaffen.«
Nun begann Cathy zu weinen. Clark gab ihr ein Taschentuch.
»Ich dachte mir: Ich muß Ihnen das sagen. Wenn Sie wollen, prüfen Sie die Geschichte ruhig nach. Die Entscheidung liegt bei Ihnen; machen Sie sich keine Gedanken um mich oder Ding. Ich nehme Sie mit zu Carol Zimmer und ihren Kindern. Wenn ich meinen Job loswerde – zum Teufel damit. Ich bin sowieso schon viel zu lange im Geschäft.«
»Hat Jack Weihnachtsgeschenke gekauft?«
»Für Carol Zimmers Kinder? Sicher, ich habe sie selbst eingepackt. Ihr Mann kann das ja nicht, wie Sie bestimmt wissen. Ich habe sogar selbst Geschenke abgeliefert. Meine Kinder sind zu alt für Spielzeug, und die kleinen Zimmers sind prächtig. Ich spiele ganz gerne den Onkel«, fügte John mit einem aufrichtigen Lächeln hinzu.
»Das Ganze ist also gelogen?«
»Über Jacks Finanzen bin ich nicht informiert, aber der Rest ist frei erfunden. Offenbar hat man versucht, ihn über Sie zu treffen.«
In diesem Augenblick versiegten die Tränen. Cathy trocknete sich die Augen und schaute auf. »Sie haben recht. Und Sie wissen nicht, wer dahintersteckt?«
»Ich bin entschlossen, das herauszubekommen«, versprach Clark. Cathys Verhalten hatte sich radikal geändert. Beachtliche Frau, dachte Clark.
»Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie etwas erfahren haben. Und ich möchte gerne die Zimmers kennenlernen.«
»Wann machen Sie hier Schluß?«
»Ich habe nur noch ein paar Telefonate und Notizen zu erledigen. Treffen wir uns in einer Stunde?«
»Das schaffe ich gerade noch, wenn ich früher aus dem Büro gehe. Carol Zimmers 7-Eleven ist zehn Meilen von Ihrem Haus entfernt.«
»Ja, aber ich weiß nicht, wo der Markt genau liegt.«
»Dann fahren Sie mir am besten hinterher.«
»Gehen wir.« Cathy versuchte, als erste hinauszugehen, aber Chavez kam ihr zuvor und marschierte ihnen auf dem Weg zurück zur Klinik voran. Clark und Chavez beschlossen, draußen zu warten, und sahen zwei Jugendliche auf der Haube ihres Autos sitzen.
Merkwürdig, dachte Clark beim Überqueren der Straße. Zu Beginn des Gesprächs war Caroline Ryan zornig gewesen, weil sie sich betrogen gefühlt hatte. Er hingegen hatte als Stimme der Vernunft fungiert. Nun sah es umgekehrt aus. Ihr ging es viel besser, wenngleich sie nun etwas anderes bedrückte, aber ihn hatte die kalte Wut gepackt. Die konnte er gleich abreagieren.
»Runter vom Auto, du Scheißer!«
»John, langsam!« mahnte Ding.
»Sacht wer?« Der Halbwüchsige drehte sich kaum herum, wandte nur den Kopf und sah, wie eine Hand seine Schulter packte. Dann drehte sich die Welt, und eine Backsteinmauer kam rasend schnell auf sein Gesicht zu. Zum Glück bekam die meiste Wucht des Aufpralls sein Ghettoblaster ab.
»Wichser!« fauchte der Junge und zog ein Messer. Auch sein Freund, der knapp zwei Meter entfernt stand, ließ eine Klinge aufschnappen.
Clark lächelte ihnen nur zu. »Wer kommt als erster dran?«
Den Plan, das ruinierte Kofferradio zu rächen, gaben sie rasch auf. Die beiden Jugendlichen hatten ein gutes Gespür für Gefahr.
»Kannst froh sein, daß ich meine Knarre nich dabei hab’!«
»Die Messer könnt ihr auch hierlassen.«
»Bist du ’n Bulle?«
»Nein, von der Polizei bin ich nicht.« Clark ging mit ausgestreckter Hand auf die beiden zu, flankiert von Chavez, dessen Jackett, wie die beiden Lümmel feststellten, ebenfalls offen war. Sie ließen die Messer fallen und verzogen sich.
»Was geht hier vor?«
Clark drehte sich um und sah einen Polizisten mit einem großen Hund auf sie zukommen. Beide sahen sehr scharf aus. John zeigte seinen CIA-Ausweis vor. »Mir gefielen ihre Manieren nicht.«
Chavez gab dem Beamten die Messer. »Die haben sie weggeworfen, Sir.«
»Solche Dinge sollten Sie wirklich uns überlassen.«
»Da haben Sie recht, Sir«, stimmte Clark zu. »Schöner Hund.«
Der Cop steckte die Messer ein. »Schönen Tag noch«, sagte er und fragte sich, worum es hier gegangen war.
»Danke gleichfalls«, erwiderte Clark und drehte sich zu Chavez um. »Ah, hat das gutgetan!«
»Alles klar für Mexiko, John?«
»Ja. Aber vorher habe ich noch etwas zu erledigen.«
»Wer will dem Doc eins auswischen?«
»Kann ich noch nicht genau sagen.«
»Quatsch«, merkte Ding an.
»Sicher kann ich erst sein, wenn ich mit Holtzman geredet habe.«
»Wie Sie meinen. Die Frau ist übrigens toll.«
»Stimmt. Die bringt ihn schon wieder auf die Reihe«, meinte Clark.
»Ob sie wohl bei diesem Murray anruft?«
»Ist das denn wichtig?«
»Nein.« Chavez schaute die Straße entlang. »Ehrensache, Mr. Clark.«
»Ich wußte doch, daß Sie das verstehen, Ding.«
Jacqueline Zimmer ist ein bildhübsches Kind, dachte Cathy, die die Kleine auf dem Arm hielt. Sie selbst sehnte sich so nach einem dritten Kind, einem Mädchen, wenn sie und Jack Glück hatten ...
»Wir haben so viel von Ihnen gehört«, sagte Carol. »Sie sind Ärztin?«
»Ja, ich bilde als Professorin Ärzte aus.«
»Dann muß mein Ältester mal mit Ihnen reden. Er studiert in Georgetown Medizin.«
»Vielleicht kann ich ihm ein bißchen helfen. Darf ich Sie etwas fragen?«
»Gerne.«
»Ihr Mann ...«
»Buck? Der ist tot. Genaues weiß ich nicht, aber er ist im Dienst umgekommen. Alles geheim, und sehr schwer für mich«, sagte Carol ernst, ohne ihre Trauer offen zu zeigen. Sie hatte sich mit dem Verlust inzwischen abgefunden. »Buck war ein guter Mann – wie Ihr Jack. Seien Sie lieb zu ihm«, fügte Mrs. Zimmer hinzu.
»Bestimmt«, versprach Cathy. »So, können wir nun etwas unter uns lassen?«
»Wieder ein Geheimnis?«
»Ja. Jack weiß nicht, daß ich Sie kenne.«
»So? Ich weiß, daß es viele Geheimnisse gibt – na gut, ich verstehe und verrate nichts.«
»Ich will mit Jack darüber reden. Sie sollten uns einmal besuchen und meine Kinder kennenlernen. Aber fürs erste halten wir das noch geheim, ja?«
»Einverstanden. Wollen Sie ihn überraschen?«
»Genau.« Cathy reichte ihr das Kind zurück. »Wir sehen uns bald wieder.«
»Fühlen Sie sich jetzt besser, Dr. Ryan?« fragte Clark draußen auf dem Parkplatz.
»Ich möchte Ihnen danken, Mr....?«
»Sagen Sie einfach John zu mir.«
»Danke, John«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln, wie er es seit der Weihnachtsbescherung nicht mehr gesehen hatte.
»Gern geschehen.«
Clark fuhr auf der Bundesstraße 50 nach Westen, Cathy wollte heim und wandte sich nach Osten. Ihre Fingerknöchel am Steuerrad waren weiß. Nun loderte der Zorn wieder auf, aber sie war vorwiegend wütend über sich selbst. Wie hatte sie Jack so etwas zutrauen können? Wie dumm, wie kleinmütig, wie ekelhaft egozentrisch. Aber im Grunde genommen war es nicht ihre Schuld, erkannte sie, als sie in die Garage fuhr. Kaum war sie im Haus, ging sie sofort ans Telefon. Eines mußte noch erledigt werden. Sie wollte absolute Gewißheit haben.
»Hallo, Dan.«
»Cathy! Wie geht’s in der Klinik?«
»Ich habe eine Frage an Sie.«
»Schießen Sie los.«
Sie hatte sich ihren Vers bereits zurechtgelegt. »Jack macht mir Kummer...«
Murray klang nun zurückhaltend. »So?«
»Er hat Alpträume«, sagte Cathy, und das war nicht gelogen, wohl aber das Folgende: »Er spricht im Schlaf von einem Hubschrauber und einem Buck Soundso... darauf ansprechen kann ich ihn nicht, aber...«
Murray unterbrach. »Cathy, darüber kann ich am Telefon nicht reden. Das ist eine dienstliche Angelegenheit.«
»Wirklich?«
»Jawohl, Cathy. Ich bin über den Fall informiert, darf aber mit Ihnen nicht darüber reden. Tut mir leid, so lauten die Vorschriften.«
Cathy fuhr etwas besorgter fort. »Ist Jack im Augenblick davon betroffen? Will sagen...«
»Das liegt lange zurück, Cathy. Mehr kann ich nicht sagen. Wenn Sie meinen, daß Jack einen Psychiater braucht, kann ich mich umhören und...«
»Nein, so schlimm ist es inzwischen nicht mehr. Vor ein paar Monaten war es arg, scheint sich aber nun zu bessern. Ich hatte nur Angst, daß es etwas mit seinem Beruf zu tun hat...«
»Das liegt alles hinter ihm, Cathy. Ehrlich.«
»Bestimmt, Dan?«
»Absolut sicher. In einem solchen Fall würde ich Ihnen doch nichts vormachen.«
Und damit war, wie Cathy wußte, die Sache geklärt. Dan war so ehrlich wie Jack.
»Vielen Dank, Dan«, sagte sie in ihrer besten Sprechstundenstimme, die nichts verriet.
»Gern geschehen, Cathy.« Als Murray aufgelegt hatte, fragte er sich, ob er irgendwie übers Ohr gehauen worden war. Nein, entschied er dann, über diese Operation konnte sie nichts erfahren haben.
Hätte er in Cathys Küche schauen können, hätte er zu seiner Überraschung festgestellt, wie sehr er sich irrte. Cathy weinte ein letztes Mal. Sie hatte sich Gewißheit verschaffen müssen und wurde nun von ihren Gefühlen übermannt. Jetzt war sie aber ganz sicher, daß Clark die Wahrheit gesagt hatte. Jemand versuchte, ihrem Mann zu schaden, und schreckte nicht davor zurück, seine Frau und seine Kinder zu instrumentalisieren. Wer hat einen solchen Haß auf ihn, daß er so weit geht? fragte sie sich.
Wer immer es auch sein mochte, war ihr Feind. Diese Person, die sie und ihre Familie so kaltblütig wie damals diese Terroristen, nur feiger, angegriffen hatte, würde dafür büßen müssen.
»Wo waren Sie?«
»Verzeihung, Doc, ich hatte etwas zu erledigen.« Clark war über das Direktorat W&T zurückgekehrt. »Hier.«
»Was ist das?« Ryan nahm eine teure Flasche Whisky entgegen – Chivas Regal in der Steingutflasche.
»Da steckt unser Sender-Empfänger drin. Die Jungs haben vier Stück gebaut. Saubere Arbeit, was? Und hier ist das Mikrofon.« Clark gab Ryan einen grünen Stab, der nicht ganz so dick wie ein Trinkhalm war. »Sieht aus wie so ein Dingsda, das die Schnittblumen zusammenhält. Wir setzen drei ein. Die Techniker sagen, die Übertragung aus der Maschine funktioniere nach dem Multiplexverfahren, und es sei ihnen gelungen, die Verarbeitungszeit im Computer auf eins zu eins zu drücken. Wenn wir ihnen ein paar Monate zum Basteln an den Funkverbindungen gäben, meinen sie, bekämen wir die Aufzeichnung praktisch in Echtzeit.«
»Was wir haben, reicht«, meinte Jack. ›Fast perfekt‹ und dafür sofort war besser als ›perfekt‹ und zu spät. »Ich habe schon genug Mittel für Forschungsprojekte beschaffen müssen.«
»Einverstanden. Wann finden die Testflüge statt?«
»Morgen früh um zehn.«
»Super.« Clark stand auf. »Doc, Sie machen jetzt besser Schluß. Sie sehen kaputt aus.«
»Da haben Sie wohl recht. Geben Sie mir noch eine Stunde, dann verschwinde ich.«
»Gut so.«
Russell holte sie in Atlanta am Flughafen ab. Sie waren über Mexico City und Miami gekommen, wo sich der US-Zoll sehr für Drogen interessierte, nicht aber für zwei griechische Geschäftsleute, die unaufgefordert ihre Koffer öffneten. Russell, der nun Robert Friend aus Roggen, Colorado, war und sogar einen Führerschein auf diesen Namen besaß, begrüßte sie mit Handschlag und ging mit ihnen zur Gepäckausgabe.
»Waffen?« fragte Kati.
»Doch nicht hier! Daheim habe ich alles, was wir brauchen.«
»Irgendwelche Probleme?«
»Keine.« Russell hielt inne. »Nun, vielleicht gibt es doch eins.«
»Und was?« fragte Ghosn besorgt. Im Ausland fühlte er sich immer nervös, und dies war sein erster Besuch in den Staaten.
»Wo wir hinwollen, ist es tierisch kalt. Sie sollten sich dicke Mäntel besorgen.«
»Das hat Zeit«, meinte der Kommandant. Inzwischen ging es ihm sehr schlecht. Nach der letzten Chemotherapie hatte er fast zwei Tage nichts essen können, und obwohl er sich danach sehnte, drehte sich ihm schon beim Anblick der Schnellimbisse auf dem Flughafen der Magen um. »Wann geht unser Flug?«
»In anderthalb Stunden. Besorgt euch doch wenigstens ein paar dicke Pullover. In Denver ist’s null Grad.«
»Ist doch gar nicht so kalt«, wandte Kati ein, aber dann meldete sich der Naturwissenschaftler Ghosn: »Moment, hier wird in Fahrenheit gerechnet. Das wären dann ja minus 18 Grad Celsius!«
»Hab’ ich’s nicht gesagt?« fiel Russell ein. »Bei uns ist null Grad eiskalt, klar?«
»Wie Sie meinen«, sagte Kati. Eine Stunde später trugen sie dicke Wollpullover unter ihren dünnen Regenmänteln. Die fast leere Maschine der Delta Airlines startete pünktlich nach Denver. Drei Stunden später traten sie dort aus dem Abfertigungsgebäude. Ghosn hatte noch nie so viel Schnee gesehen.
»Ich kann ja kaum atmen«, klagte Kati.
»An die dünne Luft hier oben gewöhnt man sich rasch. Holt mal euer Gepäck; ich wärme das Auto für euch auf.«
»Wenn er uns verraten hat«, sagte Kati, als Russell sich entfernte, »werden wir das in ein paar Minuten merken.«
»Keine Sorge«, beruhigte Ghosn. »Er ist seltsam, aber treu.«
»Er ist ein Ungläubiger – und Heide obendrein.«
»Gewiß, aber er war wenigstens höflich genug, in meiner Gegenwart dem Imam zuzuhören. Keine Angst, er ist treu.«
»Wir werden ja sehen«, meinte Kati und ging erschöpft und schnaufend zur Gepäckausgabe. Beim Gehen schauten sich die beiden mißtrauisch um, denn Blicke, die auf einem ruhen, sind immer ein verräterisches Signal. Selbst Profis fällt es schwer, die Augen von observierten Personen zu wenden.
Ohne Zwischenfälle fanden sie ihr Gepäck, und draußen wartete Marvin. Er konnte nicht verhindern, daß sie vom eisigen Wind getroffen wurden; eine solche Kälte hatten sie noch nie erlebt. Das warme Wageninnere war also sehr willkommen.
»Wie steht es mit den Vorbereitungen?«
»Alles läuft nach Plan, Kommandant«, erwiderte Russell und fuhr an. Die beiden Araber waren von dem weiten Land und der breiten Autobahn, auf der nur knapp 90 Stundenkilometer gefahren werden durfte, und dem offenkundigen Wohlstand in der Gegend recht beeindruckt, schwiegen aber. Einen positiven Eindruck auf sie machte auch Russell, der offenbar sehr ordentlich gearbeitet und sie nicht verraten hatte. Nun konnten sie freier atmen. Kati hatte zwar eigentlich nicht mit einem Verrat gerechnet, wußte aber, daß er, je mehr er sich seinem Ziel näherte, um so verwundbarer wurde. Das war normal.
Das Farmhaus war recht geräumig. Russell hatte es vorsorglich etwas überheizt. Doch das fiel Kati nicht zuerst auf, sondern wie leicht es zu verteidigen war: rundum freies Schußfeld. Russell führte sie ins Haus und holte ihre Koffer.
»Ihr müßt todmüde sein«, merkte Russell an. »Legt euch doch erst mal aufs Ohr. Hier seid ihr sicher.« Kati befolgte den Rat, Ghosn blieb auf und ging mit Russell in die Küche, wo er erfreut feststellte, daß Marvin ein guter Koch war.
»Was ist das für ein Fleisch?« fragte Ibrahim.
»Wild – vom Reh. Daß du kein Schweinefleisch essen darfst, weiß ich, aber Reh ist doch bestimmt nicht verboten.«
Ghosn schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich habe es noch nie gegessen.«
»Es ist gut, das kann ich dir versprechen. Ich habe es heute früh gekauft und nach der Art meiner Vorfahren zubereitet. Ein Rancher hier in der Gegend züchtet Maultierhirsche. Auch Beefalo solltest du mal probieren.«
»Was, bei Allah, ist das?«
»Beefalo? Eine Kreuzung zwischen Rind und Büffel. Mein Volk ernährte sich von Büffeln, das sind die größten Kühe, die du je gesehen hast!« Russell grinste. »Gutes, mageres und gesundes Fleisch. Aber Wild ist am leckersten, Ibrahim.«
»Nenn mich bloß nicht bei meinem Namen«, sagte Ghosn, der nun seit 27 Stunden wach war, müde.
»Ich habe die Ausweise für dich und den Kommandanten besorgt.« Russell holte zwei Umschläge aus einer Schublade und warf sie auf den Tisch. »Mit den Namen, die ihr wolltet. Nun brauchen wir nur noch die Paßbilder auf den Karten zu befestigen. Das Gerät dazu habe ich hier.«
»War das schwer zu besorgen?«
Marvin lachte. »Ach was, das kriegt man in jedem Laden. Ich habe meinen eigenen Führerschein als Vorlage benutzt, Farbkopien gezogen und mir dann die Geräte für erstklassige Fälschungen besorgt. Viele Firmen benutzen Ausweiskarten mit Bild, und die Ausrüstung zu ihrer Herstellung ist genormt. Das Ganze dauert nur drei Stunden. Morgen und übermorgen haben wir dann Zeit, alles durchzugehen.«
»Gut gemacht, Marvin.«
»Trinkst du einen mit mir?«
»Meinst du Alkohol?«
»Klar, ich hab’doch gesehen, wie du mit diesem Deutschen ein Bier gezischt hast – wie hieß er noch mal?«
»Manfred Fromm.«
»Stimmt. Komm schon, ein Glas ist bestimmt nicht so schlimm wie Schweinefleisch.«
»Danke, aber ich verzichte lieber.«
»Wie du willst. Was macht Fromm?« fragte Marvin beiläufig und schaute nach dem Fleisch, das fast weich geschmort war.
»Dem geht’s gut«, erwiderte Ghosn lässig. »Er besucht gerade seine Frau.«
»Was habt ihr da eigentlich zusammengebastelt?« fragte Russell und goß sich einen Schuß Jack Daniel’s ein.
»Er hat uns beim Sprengstoff geholfen. Er ist Experte auf diesem Gebiet.«
»Super.«
Der erste Lichtblick seit Tagen, vielleicht sogar Wochen, dachte Ryan. Es gab eine leckere Mahlzeit, und er war so früh heimgekommen, daß er sie zusammen mit den Kindern einnehmen konnte. Cathy war offenbar zeitig aus der Klinik zurückgekehrt und hatte sich bei der Zubereitung Mühe gegeben. Am schönsten aber war, daß sie sich am Tisch unterhalten hatten – belangloses Geplauder zwar, aber sie hatten wenigstens wieder kommuniziert. Anschließend hatte Jack beim Abräumen geholfen. Zuletzt brachte Cathy die Kinder ins Bett, und dann waren sie allein.
»Tut mir leid, daß ich dich angekeift habe«, sagte Cathy.
»Macht nichts, ich hatte es wahrscheinlich verdient.« Ryan wollte den Frieden um jeden Preis.
»Nein, Jack, das war mein Fehler. Ich war eklig und hatte Krämpfe und Rückenschmerzen. Und du solltest weniger arbeiten und trinken.« Sie ging zu ihm hinüber und küßte ihn. »Nanu, rauchst du etwa wieder?«
Er war verdutzt; mit einem Kuß hatte er nicht gerechnet, wohl aber mit einer Explosion, wenn sie merkte, daß er wieder mit den Zigaretten angefangen hatte. »Tut mir leid, Schatz, ich hatte einen harten Tag und bin schwach geworden.«
Cathy nahm seine Hände. »Jack, ich will, daß du weniger trinkst und dir mehr Ruhe gönnst. Zuviel Alkohol und Streß, zuwenig Schlaf – das ist dein Problem. Das Rauchen gehen wir später an, aber qualme wenigstens nicht bei den Kindern. Ich war ziemlich abweisend, und das war auch falsch, aber du mußt dich mehr um deine Gesundheit kümmern. Was du treibst, ist weder für dich noch für uns gut.«
»Ich weiß.«
»So, und jetzt gehst du ins Bett. Du hast vor allem Schlaf nötig.«
Mit einer Ärztin verheiratet zu sein hat seine Nachteile – wenn es um die Gesundheit geht, duldet sie keine Widerrede. Jack gab ihr einen Kuß und ging brav ins Bett.