39
Echos
Elizabeth Elliot starrte ausdruckslos die Wand gegenüber an und trank Kaffee. Das ist die einzige Erklärung, dachte sie. Alle Warnungen waren ignoriert worden. Nun paßte alles zusammen. Das sowjetische Militär hatte einen Machtkampf begonnen und dabei Bob Fowler zum Ziel gewählt. Eigentlich hätten wir beim Spiel sein sollen, dachte sie. Bob wollte hin, und jeder rechnete mit seinem Erscheinen, weil Dennis Bunker eine Mannschaft gehörte. Auch ich wäre dort gewesen. Und wäre jetzt tot. Wenn sie Bob umbringen wollten, hatten sie auch die Absicht, mich zu töten ...
PRÄSIDENT NARMONOW:
ICH STELLE MIT BEFRIEDIGUNG FEST, DASS WIR UNS ÜBER DIE NOTWENDIGKEIT VON VORSICHT UND VERNUNFT EINIG SIND. ICH WERDE NUN ZUSAMMEN MIT MEINEN BERATERN VERSUCHEN, DEN GRUND FÜR DIESEN ENTSETZLICHEN VORFALL FESTZUSTELLEN, UND WERDE SIE WEITER INFORMIERT HALTEN.
Die Antwort ging fast augenblicklich ein.
PRÄSIDENT FOWLER:
WIR BLEIBEN AN DER LEITUNG.
»Das war recht einfach«, meinte Fowler und blickte auf den Bildschirm.
»Wirklich?« fragte Liz Elliot.
»Was meinen Sie?«
»Robert, es fand eine nukleare Explosion an einem Ort statt, an dem Sie sich eigentlich aufhalten sollten. Das wäre Nummer eins. Nummer zwei: Es gingen Berichte über verschwundene sowjetische Kernwaffen ein. Nummer drei: Können wir denn sicher sein, daß es wirklich Narmonow ist, der da am anderen Ende sitzt?«
»Wie bitte?«
»Unsere besten Informationen weisen auf die Möglichkeit eines Putschs in Rußland hin. Wir verhalten uns aber so, als hätten wir diese Hinweise nie erhalten – Obwohl hier bei uns eine Bombe explodiert ist, die gut eine taktische Kernwaffe genau des Typs gewesen sein mag, der unseren Vermutungen nach verschwunden ist. Wir haben es bislang versäumt, alle politischen Dimensionen zu berücksichtigen.« Dr. Elliot sprach ins Mikrofon: »General Borstein, wie leicht ist es, eine Atombombe in die USA einzuschmuggeln?«
»Angesichts unserer Grenzkontrollen wäre das ein Kinderspiel«, kam die Antwort von NORAD. »Was wollen Sie damit sagen, Dr. Elliot?«
»Ich will damit sagen, daß wir nun schon seit einiger Zeit deutliche Hinweise auf Narmonows politische Schwierigkeiten bekommen – sein Militär macht Ärger, hieß es, und es gäbe eine nukleare Dimension. Was, wenn es putscht, am günstigsten in der Nacht von Sonntag auf Montag, wenn alles schläft? Wir gingen bisher immer von der Annahme aus, daß der nukleare Aspekt ein innenpolitisches Druckmittel ist – aber was, wenn die Operation sehr viel heimtückischer ist? Wenn man versuchte, unsere Regierung zu enthaupten, um uns an Maßnahmen gegen den Putsch zu hindern? Gut, die Bombe geht hoch, Durling ist wie jetzt gerade im NEACP, und sie nehmen Kontakt mit ihm auf. Da sie seine Reaktion voraussagen können, verfassen sie ihre Erklärungen über den heißen Draht im voraus. Wir gehen automatisch auf eine höhere Alarmstufe, sie auch – verstehen Sie jetzt? Wir sind nicht mehr in der Lage, uns in den Putsch einzumischen.«
»Mr. President, Sie sollten erst den Rat der Nachrichtendienste einholen, ehe Sie diese Möglichkeit in Betracht ziehen«, sagte der CINC-SAC.
An einem anderen Telefon ging eine Leuchte an. Der Verwaltungsunteroffizier hob ab.
»Für Sie, Mr. President. NMCC.«
»Wer spricht?« fragte Fowler.
»Sir, hier Captain Jim Rosselli, National Military Command Center. Es liegen zwei Berichte über Zusammenstöße zwischen amerikanischen und sowjetischen Streitkräften vor. USS Theodore Roosevelt meldet, vier anfliegende russische MiG-29 abgeschossen zu haben –«
»Was? Warum?«
»Sir, gemäß den derzeit geltenden Regeln hat der Kapitän das Recht, Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen. Auf Theodore Roosevelt gilt nun DEFCON-2, was bedeutet, daß er einen größeren Entscheidungsspielraum hat. Sir, die zweite Meldung lautet wie folgt: Unbestätigten Berichten zufolge kam es in Berlin zu einem Gefecht zwischen russischen und amerikanischen Panzern. Laut SACEUR wurde ein Funkspruch unterbrochen – offenbar mit Gewalt. Ehe er abbrach, meldete ein Captain der US-Army, sowjetische Panzer hätten das Lager der Brigade im Süden Berlins angegriffen und eines unserer Bataillone praktisch aufgerieben. Diese beiden Meldungen gingen fast gleichzeitig, in einem Zeitabstand von nur zwei Minuten, ein, Mr. President. Wir sind nun bemüht, den Kontakt mit Berlin wiederherzustellen, und stehen in Verbindung mit SACEUR in Mons, Belgien.«
»Himmel noch mal«, sagte Fowler. »Elizabeth, wie paßt das in Ihr Szenarium?«
»Das beweist, daß sie es ernst meinen und uns vor Einmischung warnen.«
Die meisten amerikanischen Kräfte waren aus dem Lager entkommen. Der höchste Offizier vor Ort hatte auf der Stelle beschlossen, im Wald und in dem das Hauptquartier der Brigade umgebenden Wohnviertel Deckung zu nehmen. Er war ein Lieutenant Colonel, der stellvertretende Kommandeur der Einheit. Der Oberst, der sonst den Befehl führte, war nirgends aufzufinden, und sein Stellvertreter wog nun seine Optionen ab. Die Brigade setzte sich aus zwei mechanisierten Infanteriebataillonen und einem Panzerbataillon zusammen, von dessen 52 M1A1 nur neun entkommen waren. Er sah noch den Feuerschein der in ihrem Lager brennenden Fahrzeuge.
Erst DEFCON-3 aus heiterem Himmel, und nur Minuten später dieser Überraschungsangriff. Über 40 Panzer und 100 Mann verloren, ohne Warnung abgeschossen. Er war entschlossen, das nicht hinzunehmen.
Verteilt über das Lager der Brigade, die schon vor seiner Geburt in Berlin stationiert gewesen war, existierten Verteidigungsstellungen. Der Oberst ließ die verbliebenen Abrams anrollen und seine Schützenpanzer »Bradley« Salven von Panzerabwehrraketen TOW-2 abfeuern.
Die russischen Panzer hatten inzwischen das Lager überrannt und machten nun halt, weil keine weiteren Befehle vorlagen. Die Bataillonskommandeure waren hinter dem wilden Sturmangriff der T-80 über die Linie zurückgeblieben und hatten ihre Formationen daher nicht im Griff, und vom Regimentskommandeur fehlte jede Spur. Die Panzer hielten also an und nach Zielen Ausschau. Auch der stellvertretende Chef des Regiments war verschollen, und als der ranghöchste Bataillonskommandeur das erkannte, raste sein Fahrzeug zum Befehlspanzer, den er nun zu übernehmen hatte. Erstaunliche Situation, dachte er. Erst die Inspektion, dann der Alarm aus Moskau, und gleich darauf hatten die Amerikaner zu schießen begonnen. Er wußte nicht, was vorging. Wie er feststellte, brannte in den Gebäuden der Kaserne noch Licht, das seinen Panzer von hinten illuminierte, als sei er ein Ziel auf dem Übungsgelände.
»Befehlspanzer in zwei Uhr, zeichnet sich ab, fährt von links nach rechts«, sagte ein Sergeant zu einem Corporal.
»Identifiziert«, erwiderte der Schütze über die Sprechanlage.
»Feuer.«
»Schon unterwegs.« Der Corporal drückte ab. Die Abdeckung flog vom Raketenrohr, die TOW-2 fauchte heraus und zog einen dünnen Lenkdraht hinter sich her. Das Ziel war ungefähr 2500 Meter entfernt. Der Schütze hielt es im Fadenkreuz und sah acht Sekunden später mit Befriedigung eine Detonation in der Mitte des Turmes.
»Ziel«, sagte der Kommandant des Bradley und meinte damit einen Volltreffer. »Feuer einstellen. Suchen wir uns den nächsten Kerl... Panzer in zehn Uhr, kommt hinterm PX hervor!«
Der Turm drehte sich nach links. »Identifiziert!«
»So, und was hält die CIA von der Sache?« fragte Fowler.
»Sir, wir haben nach wie vor nur vereinzelte und unzusammenhängende Informationen«, erwiderte Ryan.
»Wenige hundert Meilen hinter Roosevelt liegt ein sowjetischer Trägerverband, der mit MiG-29 ausgerüstet ist«, sagte Admiral Painter.
»Libyen ist noch näher, und unser Freund, der Oberst, hat hundert solcher Maschinen.«
»Die um Mitternacht übers Meer fliegen?« fragte Painter. »Wann haben die Libyer das je getan – und außerdem nur gut zwanzig Meilen von einem unserer Trägerverbände entfernt?«
»Was tut sich in Berlin?« fragte Liz Elliot.
»Das wissen wir nicht!« Ryan hielt inne und atmete tief ein. »Vergessen Sie nicht, daß die Lage verworren ist.«
»Und wenn SPINNAKER recht hatte, Ryan?« hakte Liz Elliot nach.
»Was meinen Sie damit?«
»Was, wenn in Moskau im Augenblick ein Putsch im Gang ist? Wenn man hier eine Bombe gezündet hat, um uns zu enthaupten, am Eingreifen zu hindern?«
»Das ist völliger Unsinn«, versetzte Ryan. »Einen Krieg riskieren? Wozu? Was würden wir im Falle eines Coups denn unternehmen? Sofort angreifen?«
»Mag sein, daß das sowjetische Militär damit rechnet«, erklärte Liz Elliot.
»Unwahrscheinlich. Ich glaube eher, daß uns SPINNAKER von Anfang an angelogen hat.«
»Haben Sie sich das aus den Fingern gesogen?« fragte Fowler, dem erst jetzt aufging, daß die Bombe ihm gegolten haben mochte und daß Elizabeths theoretisches Modell des russischen Plans das einzig plausible war.
»Nein, Sir!« gab Ryan aufgebracht zurück. »Vergessen Sie nicht, daß ich hier der angebliche Falke bin. Das russische Militär ist zu intelligent, um einen solchen Wahnsinn zu versuchen. Das Risiko wäre viel zu groß.«
»Dann erklären Sie mal die Angriffe auf unsere Einheiten!« forderte Liz Elliot.
»Es steht noch nicht mit Sicherheit fest, daß sie überhaupt stattgefunden haben.«
»Glauben Sie nun etwa, daß unsere eigenen Leute lügen?« fragte Fowler.
»Mr. President, Sie haben das nicht durchdacht. Gut, nehmen wir einmal an, daß in der Sowjetunion gerade ein Putsch im Gange ist – ich kann diese Hypothese zwar nicht akzeptieren, aber gehen wir einmal davon aus. Die Bombenexplosion sollte verhindern, daß wir uns einmischen. Warum dann unsere Einheiten angreifen, wenn man uns untätig halten will?«
»Um uns zu beweisen, daß man es ernst meint«, schoß Liz Elliot zurück.
»Unfug! Das liefe ja darauf hinaus, uns zu beweisen, daß man die Bombe hier zur Explosion gebracht hat. Erwartet man vielleicht, wir würden auf einen nuklearen Angriff nicht reagieren?« fragte Ryan und antwortete dann selbst: »Das ergibt überhaupt keinen Sinn!«
»Dann machen Sie doch mal einen besseren Vorschlag«, meinte Fowler.
»Mr. President, wir sind in den allerersten Stadien einer Krise. Bisher liegen nur vereinzelte und verworrene Informationen vor. Es ist gefährlich, da etwas hineinzuinterpretieren, bevor wir mehr wissen.«
»Es ist Ihre Aufgabe, mir Informationen zu liefern, und nicht, mir Lektionen im Krisenmanagement zu erteilen!« brüllte Fowler ins Mikrofon. »Wenn Sie etwas Vernünftiges haben, können Sie sich wieder bei mir melden.«
»Himmel noch mal, was denken die eigentlich?« fragte Ryan.
»Geht hier etwas vor, von dem ich nichts weiß?« fragte Goodley. Der junge Akademiker sah so beunruhigt aus, wie Ryan sich fühlte.
»Warum sollte es Ihnen bessergehen als dem Rest der Welt?« fauchte Jack zurück und bereute das gleich. »Willkommen im Krisenmanagement. Niemand weiß einen Dreck, und trotzdem werden von Ihnen die richtigen Entscheidungen erwartet. Aber hier geht’s leider nicht.«
»Die Sache mit dem Träger macht mir angst«, bemerkte der Mann von W&T.
»Falsch. Wenn wir nur vier Flugzeuge abgeschossen haben, ist lediglich ein halbes Dutzend Menschen betroffen«, erklärte Ryan. »Der Bodenkampf ist eine andere Sache. Kummer sollte uns eher das Gefecht in Berlin machen, falls es stattfindet. Das wäre fast so ernst wie ein Angriff auf unsere strategischen Einheiten. Versuchen wir einmal, SACEUR zu erreichen.«
Die in Berlin verbliebenen neun M1 A1 rasten zusammen mit einer Gruppe von Schützenpanzern durch die Stadt nach Norden. Die Straßenbeleuchtung brannte, Menschen steckten die Köpfe aus den Fenstern, und es mußte den wenigen Zuschauern sofort klar sein, daß dies keine Übung war. Von den Motoren aller Fahrzeuge waren die Drehzahlbegrenzer entfernt worden, und sie verstießen allesamt gegen das auf Amerikas Autobahnen gültige Tempolimit von 107 Stundenkilometern. 1,5 Kilometer nördlich ihres Lagers wandten sie sich nach Osten. Führer der Formation war ein altgedienter Unteroffizier, der nun schon zum dritten Mal in der einstmals geteilten Stadt stationiert war und sich gut auskannte. Er hatte eine günstige Stelle im Sinn und hoffte nur, daß die Russen sie nicht vor ihm erreichten: einen Bauplatz, an dem ein Mahnmal für die Opfer der Mauer entstand. Von hier aus waren die in Kürze aufzulösenden Lager der Russen und Amerikaner zu übersehen, und Planierraupen hatten einen hohen Erdwall aufgeschüttet, auf dem eine Plastik aufgestellt werden sollte. Die russischen Panzer kurvten ziellos auf dem eingenommenen Gebiet herum und warteten offenbar auf ihre Infanterie. Sie wurden von den Bradleys mit TOW belegt und schossen zurück in den Wald.
»Verdammt, die machen die Jungs in den Bradleys ein«, sagte der Kommandeur der Einheit, ein Captain, dessen Panzer der letzte seiner Kompanie war. »In Stellung gehen.« Das nahm eine weitere Minute in Anspruch. Die Panzer waren nun in Deckung, nur ihre Türme und Kanonen ragten noch über den Erdwall hinaus. »Feuer frei!«
Alle neun Panzer schossen gleichzeitig. Der Abstand betrug nur gut 2000 Meter, und nun kam die Überraschung von der anderen Seite. Fünf russische Panzer fielen der ersten Salve zum Opfer und Sekunden darauf, als die Abrams zum Schnellfeuer übergingen, sechs weitere.
Im Wald bei den Bradleys sah der stellvertretende Kommandeur der Brigade die Nordflanke der Russen zusammenbrechen. Eine bessere Bezeichnung fiel ihm nicht ein. Das nördlichste russische Bataillon versuchte, sich zu reorientieren, aber seine Gegner hatten alle Gefechtserfahrung und waren nun im Vorteil. Er fragte sich zwar, warum die Russen ihren Angriff nicht weiter vortrugen, hatte aber im Augenblick keine Zeit, solche Gedanken weiterzuverfolgen. Fest stand für ihn nur, daß sie Mist gebaut hatten, und das war gut für ihn und seine Männer.
»Sir, ich habe die 7. Armee.« Ein Sergeant reichte ihm ein Mikrofon. »Was ist bei Ihnen los?«
»General, hier spricht Lieutenant Colonel Long. Wir wurden gerade von dem uns gegenüberliegenden sowjetischen Regiment angegriffen. Sie kamen ohne Warnung in unsere Kaserne gestürmt wie General Stuart. Wir haben den Angriff zum Stillstand gebracht, aber fast alle unsere Panzer verloren. Nun brauchen wir Verstärkung, Sir.«
»Verluste?«
»Sir, ich habe über 40 Panzer, acht Bradleys und mindestens zweihundert Mann verloren.«
»Ihr Gegner?«
»Ein Panzerregiment. Mehr bisher nicht, aber die haben ja in der Gegend viele Freunde, Sir. Ich könnte auch ein paar brauchen.«
»Ich will sehen, was ich tun kann.«
General Kuropatkin schaute auf seine Statuskonsole. Alle Radarsysteme, die nicht gerade gewartet wurden, waren in Betrieb. Spähsatelliten hatten ihm verraten, daß zwei Stützpunkte strategischer Bombergeschwader leer waren. Das bedeutete, daß die Maschinen nun begleitet von ihren Tankern KC-135 in der Luft und im Anflug auf die Sowjetunion waren. Bei den landgestützten Interkontinentalraketen mußte ebenfalls die höchste Alarmstufe herrschen. Seine Adlersatelliten würden ihm Raketenstarts melden, was bedeutete, daß es sein Land noch genau 30 Minuten lang geben würde. 30 Minuten, dachte der General. 30 Minuten und die Geistesverfassung des amerikanischen Präsidenten entschieden über Leben und Tod seines Landes.
»Verstärkte Luftaktivität über Deutschland«, meldete ein Oberst. »Von Ramstein und Bitburg sind insgesamt acht amerikanische Kampfflugzeuge aufgestiegen und auf Ostkurs gegangen.«
»Was wissen wir über den amerikanischen Stealth-Bomber?«
»Eine Staffel von 18 Maschinen ist in Ramstein. Angeblich führen die Amerikaner sie ihren kaufinteressierten Nato-Verbündeten vor.«
»Diese Maschinen könnten jetzt alle in der Luft sein«, stellte Kuropatkin fest, »und zwar mit Kernwaffen an Bord.«
»Korrekt, der Typ kann leicht zwei B-61 tragen. Wenn sie in großer Höhe anfliegen, können sie über Moskau sein, ehe wir uns versehen...«
»Und mit ihrer Technologie bringen sie ihre Bomben exakt ins Ziel... zweieinhalb Stunden nach dem Start... mein Gott.« Wenn eine Bombe so eingestellt wurde, daß sie erst in den Boden eindrang und dann detonierte, konnte sie den Bunker des Präsidenten zerstören. Kuropatkin griff zum Telefon. »Ich muß den Präsidenten sprechen.«
»Ja, General, was gibt’s?« fragte Narmonow.
»Wir haben Hinweise auf amerikanische Aktivität im deutschen Luftraum.«
»Das ist noch nicht alles. Ein Garderegiment in Berlin meldet einen Angriff durch amerikanische Truppen.«
»Das ist ja Wahnsinn!«
Und die Meldung kam keine fünf Minuten nach der Versicherung meines Freundes Fowler, er werde nichts Provokatives unternehmen, dachte Narmonow. »Fassen Sie sich kurz. Ich habe hier schon genug zu tun.«
»Präsident Narmonow, vor zwei Wochen landete eine Staffel F-117A Stealth auf dem Stützpunkt Ramstein und sollte angeblich den Nato-Alliierten vorgeführt werden. Die Amerikaner behaupten, sie verkaufen zu wollen. Jedes dieser Flugzeuge kann zwei Bomben mit einer Sprengleistung von je einer halben Megatonne tragen.«
»Und?«
»Ich kann sie nicht orten. Für unseren Radar sind sie praktisch unsichtbar.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nachdem sie ihren Stützpunkt verlassen haben und in der Luft betankt worden sind, können sie in weniger als drei Stunden über Moskau sein. Wir würden genauso überrascht wie die Iraker.«
»Sind sie wirklich so effektiv?«
»Wir ließen deshalb soviel Personal im Irak zurück, um die Wirkung der amerikanischen Waffen genau beobachten zu können. Diese Flugzeuge erschienen nie auf den Radarschirmen – weder auf unseren noch den französischen, die Saddam hatte. So gut sind sie.«
»Warum sollten die Amerikaner so etwas tun?« fragte Narmonow.
»Warum sollten sie unser Regiment in Berlin angreifen?«
»Ich dachte, dieser Bunker sei vor allem, was sie in ihrem Arsenal haben, sicher.«
»Gegen eine mit großer Zielgenauigkeit abgeworfene Kernwaffe nützen auch die hundert Meter Erde über uns nichts«, erklärte der Verteidigungsminister und fügte in Gedanken hinzu: Den alten Wettstreit zwischen Geschoß und Panzer gewinnt immer das Geschoß ...
»Zurück zu Berlin«, meinte Narmonow. »Wissen Sie, was sich dort zugetragen hat?«
»Nein. Meldungen kamen bisher nur von Offizieren niederer Ränge.«
»Lassen Sie jemanden vor Ort erkunden. Weisen Sie unsere Leute an, sich zurückzuziehen, falls es ihre Sicherheit erlaubt, und ausschließlich Defensivmaßnahmen zu ergreifen. Irgendwelche Einwände?«
»Nein, das halte ich für klug.«
Das National Photographic Intelligence Center (NPIC) befindet sich auf der Marinewerft Washington in einem von mehreren fensterlosen Gebäuden, in denen hochgeheime Aktivitäten der Regierung stattfinden. Im Augenblick waren zwei mit Kameras bestückte Aufklärungssatelliten KH-12 und zwei Radarbilder aufnehmende Trabanten KH-12 »Lacrosse« in der Umlaufbahn. Um 00:26:46 Uhr Zuluzeit kam ein KH-1 1 in Sichtweite von Denver. Alle Kameras an Bord wurden auf die Stadt und besonders auf die südlichen Vororte gerichtet. Die Bilder sandte der Späher in Echtzeit nach Fort Belvoir in Virginia; von dort aus gingen sie über Glasfaserkabel ans NPIC, wo sie auf Zweizollvideoband aufgenommen wurden. Mit der Analyse begann man sofort.
Die Maschine war eine DC-10. Kati und Ghosn, die über ihr Glück erfreut und überrascht waren, gönnten sich wieder Sitze in der ersten Klasse. Bekanntgeworden war die Nachricht erst wenige Minuten vor Aufruf ihres Fluges. Nachdem Reuters die Meldung verbreitet hatte, war die Katastrophe nicht mehr geheimzuhalten.
AP und UPI, die natürlich auch alle Fernsehstationen mit Nachrichten versorgten, hatten sie sofort aufgegriffen. Bei den Lokalsendern war man überrascht, daß die drei großen Netze keine Sondersendungen brachten, und unterbrach die Programme mit der Sensationsmeldung. Kati hingegen war bloß überrascht von der Stille. Als sich die Nachricht wie eine Woge im Terminal ausbreitete, hatte es weder Geschrei noch Panik gegeben, sondern nur ein gespenstisches Schweigen, das einem auf einmal erlaubte, die sonst vom Stimmengewirr übertönten Hintergrundgeräusche zu vernehmen. Also so reagieren die Amerikaner auf Tod und Tragik, dachte der Kommandant. Der Mangel an Leidenschaft überraschte ihn.
Nun, bald hatte er das Ganze ja sowieso hinter sich. Die DC-10 beschleunigte und hob ab. Wenige Minuten später schwebte sie über internationalen Gewässern einem neutralen, sicheren Land entgegen. Nur noch ein Anschlußflug, dachte jeder für sich. Noch einmal umsteigen, und dann waren sie ganz untergetaucht.
Wer hätte mit soviel Glück gerechnet?
»Die Infrarot-Emissionen sind bemerkenswert«, dachte der Fotoanalytiker laut. Er wertete zum ersten Mal die Nachwirkungen einer Kernexplosion aus. »Schäden und Sekundärbrände bis zu einer Meile vom Stadion, von dem nicht viel zu sehen ist. Zuviel Rauch und IR-Störungen. Beim nächsten Vorbeiflug müßten wir, wenn wir Glück haben, Bilder aus dem sichtbaren Spektrum bekommen.«
»Wie hoch schätzen Sie die Zahl der Opfer?« fragte Ryan.
»Mir liegen keine eindeutigen Werte vor. Auf der Aufnahme im sichtbaren Spektrum ist alles von Rauch eingehüllt. Die IR-Pegel sind erstaunlich hoch. Zahlreiche Brände in der unmittelbaren Umgebung des Stadions. Autos wahrscheinlich, deren Tanks explodiert sind.«
Jack wandte sich an den Mann von W & T. »Wen haben wir in der Fotoabteilung?«
»Niemanden«, erwiderte der Mann von W&T. »Am Wochenende überlassen wir diese Arbeit dem NPIC, wenn nichts Besonderes los ist.«
»Wer ist der beste Mann?«
»Andy Davis, aber der wohnt in Manassas und schafft es nie hierher.«
»Verfluchter Mist.« Ryan griff wieder zum Telefon. »Senden Sie uns die zehn besten Aufnahmen rüber«, wies er das NPIC an.
»In zwei, drei Minuten haben Sie sie.«
»Haben Sie jemanden, der die Bombeneffekte abschätzen kann?«
»Das kann ich übernehmen«, meinte der Mann von W&T. »Ich war bei der Air Force und beim Aufklärungsstab des SAC.«
»Gut, dann machen Sie sich dran.«
Die neun Abrams hatten inzwischen fast 30 russische T-80 abgeschossen, und die Russen waren nach Süden zurückgewichen, um Deckung zu suchen. Ihr Gegenfeuer hatte drei weitere M1A1 ausgeschaltet, aber das Kräfteverhältnis war nun ausgeglichener. Der Captain, der die Panzer kommandierte, ließ seine Bradleys weiter östlich aufklären. Wie bei ihrem ersten Angriff wurden sie aus Fenstern von Zivilisten beobachtet, die aber nun das Licht in ihren Zimmern gelöscht hatten. Dem Kommandanten machte die Straßenbeleuchtung Sorgen; zum Entsetzen der zuschauenden Berliner schoß er sie mit einem Gewehr aus.
»Was nun?« fragte Keitel.
»Jetzt machen wir, daß wir verschwinden. Unsere Arbeit ist getan«, erwiderte Bock und drehte das Steuerrad nach links. Eine nördliche Fluchtroute kam ihm am günstigsten vor. Sie wollten ihre beiden Fahrzeuge abstellen, sich umziehen und dann untertauchen. Vielleicht überleben wir die Sache sogar, dachte Bock. Wäre das nicht unglaublich? Am wichtigsten aber war ihm, daß er Petra gerächt hatte. Letzten Endes waren die Amerikaner und Russen schuld an ihrem Tod gewesen. Die beiden deutschen Staaten waren nur Schachfiguren gewesen. Nun hatten die großen Spieler zahlen müssen, sagte sich Bock, und der Preis sollte noch höher steigen. So kalt wurde die Rache hier gar nicht genossen.
»Russisches Kommandofahrzeug«, sagte der Schütze. »Und ein GAZ.«
»Schnellfeuerkanone.« Der Kommandant ließ sich beim Identifizieren der herankommenden Fahrzeuge Zeit. »Abwarten.«
»Offiziere knalle ich zu gern ab.« Der Schütze richtete sein Visier. »Ziel erfaßt, Sergeant.«
Trotz aller Erfahrungen, die er als Terrorist gemacht hatte, war Bock kein Soldat. Er hielt den dunklen, eckigen Umriß zwei Straßen weiter für einen großen Laster. Sein Plan hatte geklappt. Der Alarm bei den Amerikanern, der genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgt war, konnte nur bedeuten, daß Kati und Ghosn ihr Vorhaben, genauso wie vor fünf Monaten geplant, ausgeführt hatten. Seine Augen zuckten, als er einen Blitz sah, gefolgt von einer Leuchtspur, die über ihn hinwegsauste.
»Draufhalten!«
Der Schütze hatte Dauerfeuer eingestellt. Die 25-Millimeter-Schnellfeuerkanone war sehr akkurat, und Leuchtspurmunition ermöglichte es ihm, das Feuer direkt ins Ziel zu führen. Die erste lange Garbe traf den Zweieinhalbtonner, in dem bewaffnete Soldaten sitzen mochten. Zuerst wurde der Motorblock getroffen und auseinandergerissen. Dann, als das Fahrzeug einen Satz machte, drangen die nächsten Geschosse in Führerhaus und Ladefläche ein. Die Vorderreifen platzten, die Felgen bohrten sich in den Asphalt, und der GAZ kam zum Stehen. Inzwischen hatte sich der Schütze ein neues Ziel gesucht und einen kurzen Feuerstoß in das Kommandofahrzeug gejagt. Dieses geriet ins Schleudern und rammte einen geparkten BMW. Sicherheitshalber zielte der Schütze noch einmal auf die beiden Fahrzeuge. Aus dem GAZ kam ein Mann, der seiner Bewegung nach zu urteilen verwundet war. Zwei 25-Millimeter-Geschosse regelten das.
Der Kommandant des Schützenpanzers wechselte sofort die Stellung, denn man entfernt sich so rasch wie möglich von dem Ort, an dem man einen Abschuß erzielt hat. Zwei Minuten später fanden sie einen neuen Beobachtungspunkt. Streifenwagen rasten mit Blaulicht durch die Straße. Ein Polizeifahrzeug bremste ein paar hundert Meter von dem Bradley entfernt ab, wendete dann und fuhr rasch weg. Ich hab’ doch schon immer gewußt, daß die deutschen Cops smart sind, dachte der Kommandant.
Fünf Minuten später, nachdem der Bradley weitergefahren war, wagte sich der erste Berliner, ein sehr mutiger Arzt, aus seiner Haustür und ging zum Kommandofahrzeug. Die Geschosse der Schnellfeuerkanone hatte den beiden Insassen die Rümpfe zerrissen, aber ihre Gesichter, wenngleich blutverschmiert, waren noch zu erkennen. In dem GAZ sah es noch schlimmer aus. Einer der Männer dort mochte noch ein paar Minuten gelebt haben, doch als der Mediziner ihn erreichte, war es schon zu spät. Daß alle Toten russische Offiziersuniformen trugen, fand er seltsam. Da er nicht wußte, was er weiter tun konnte, verständigte er die Polizei. Erst später sollte ihm aufgehen, wie verzerrt seine Wahrnehmung der Vorgänge vor seinem Haus gewesen war.
»Das mit der IR-Signatur war keine Übertreibung. Muß eine gewaltige Bombe gewesen sein«, meinte der Mann von W&T. »Nur die Schäden kommen mir komisch vor... hmmm.«
»Was meinen Sie, Ted?« fragte Ryan.
»Die Verwüstungen am Boden hätten viel schlimmer sein sollen ... muß an Schatten und Reflexionen liegen.« Er schaute auf. »Verzeihung. Die Druckwelle geht nicht durch Hindernisse wie Hügel hindurch. Es muß also Reflexionen und Schatten gegeben haben, das ist alles. Diese Häuser hier zum Beispiel sollten eigentlich nicht mehr stehen.«
»Ich verstehe Sie immer noch nicht«, erwiderte Ryan.
»In solchen Fällen gibt es immer Anomalien. Wenn ich mehr weiß, melde ich mich wieder«, sagte Ted Ayres.
Walter Hoskins saß in seinem Büro, weil er sonst nichts zu tun wußte und als ranghöchster Agent das Telefon bedienen mußte. Wenn er das Stadion sehen wollte, brauchte er sich nur umzudrehen. Von seinen Fenstern – eine Scheibe hatte einen Sprung – war die Rauchwolke nur acht Kilometer entfernt. Er erwog, ein Team an den Ort der Katastrophe zu schicken, hatte aber keinen entsprechenden Befehl erhalten. Nun drehte er seinen Sessel herum, schaute wieder hinaus und wunderte sich, daß die Fenster fast noch intakt waren. Dabei war angeblich nur acht Kilometer entfernt eine Atombombe explodiert. Der Atompilz hatte seine Form so weit gewahrt, daß er als solcher zu identifizieren war, und hing nun über der ersten Kette der Rocky Mountains. Er zog den schwarzen Qualm der Brände von der Explosionsstelle hinter sich her. Die Zerstörung mußte ...
. . . nicht groß genug gewesen sein? Was für eine irre Idee! Da er nichts anderes zu tun hatte, griff Hoskins zum Telefon und wählte Washington an. »Bitte geben Sie mir Murray.«
»Was gibt’s, Walt?«
»Sind Sie sehr beschäftigt?«
»Nicht zu sehr. Wie sieht es bei Ihnen aus?«
»Wir haben die Fernsehsender abgestellt und die Telefonleitungen unterbrochen. Hoffentlich tritt der Präsident in den Zeugenstand, wenn ich mich vor Gericht verantworten muß.«
»Walt, jetzt ist nicht die Zeit –«
»Das ist nicht der Grund meines Anrufes.«
»Was haben Sie mir dann zu sagen?«
»Dan, ich kann es von hier aus sehen«, sagte Hoskins und klang fast verträumt.
»Wie schlimm sieht es aus?«
»Mehr als Rauch sehe ich im Grunde genommen nicht. Der Atompilz hängt nun über den Bergen und glüht orange. Muß der Schein der untergehenden Sonne sein. Ich kann zahlreiche kleine Brände ausmachen, die den vom Stadion aufsteigenden Rauch erhellen. Dan?«
»Ja, Walt?« antwortete Murray, der den Verdacht hatte, daß sein Mann unter Schockeinwirkung stand.
»Hier stimmt was nicht.«
»Und was?«
»Meine Fenster sind intakt. Ich bin nur acht Kilometer von der Explosionsstelle entfernt, aber nur eine Scheibe hat einen Sprung. Ist das nicht merkwürdig?« Hoskins machte eine Pause. »Ich habe die Sachen hier, die Sie haben wollten, Bilder und Daten.« Hoskins suchte in der Ablage für Eingänge nach den Dokumenten. »Marvin Russell hat sich ja wirklich einen hektischen Todestag ausgesucht. Ich habe jedenfalls die Pässe. Ist der Fall wichtig?«
»Er kann warten.«
»Gut.« Hoskins legte auf.
»Walt blickt nicht mehr ganz durch«, kommentierte Murray.
»Kann man ihm das zum Vorwurf machen?« fragte Pat O’Day.
Dan schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Aber wenn es schlimmer wird...«, meinte Pat.
»Wie weit draußen wohnt Ihre Familie?«
»Nicht weit genug.«
»Acht Kilometer«, sagte Murray leise.
»Wie bitte?«
»Walt sagt, sein Büro sei nur acht Kilometer von der Stelle entfernt und seine Fenster seien noch ganz.«
»Unsinn«, versetzte O’Day. »Er muß total daneben sein. Acht Kilometer? Ausgeschlossen.«
»Wieso?«
»Laut NORAD war die Bombe über hundert Kilotonnen stark. Da gehen noch über eine große Distanz die Scheiben zu Bruch.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich war bei der Marine, Aufklärung, und hatte die Druck- und Hitzewirkung russischer taktischer Gefechtsköpfe zu evaluieren. Hundert KT über 8000 Meter versenken ein Schiff zwar nicht, zerstören aber alles über Deck, versengen Farbe und lösen kleine Brände aus. Sehr unangenehm.«
»Vorhänge müßten also brennen?«
»Sicher«, dachte O’Day laut. »Ja, Vorhänge aus normalem Stoff, besonders wenn sie dunkel sind, sollten in Flammen aufgehen.«
»So konfus, daß er ein Feuer in seinem Büro übersieht, ist Walt nun auch wieder nicht ...« Murray rief Langley an.
»Was gibt’s, Dan?« fragte Jack.
»Wie groß soll die Sprengleistung gewesen sein?« fragte Murray über Lautsprecher.
»Laut NORAD 150 bis 200 Kilotonnen. Entweder eine große taktische oder eine kleine strategische Waffe«, antwortete Ryan. »Wieso?« Der Mann von W&T, der gegenüber am Tisch saß, schaute von den Bildern auf.
»Ich habe gerade mit meinem leitenden Agenten in Denver telefoniert. Er sitzt acht Kilometer von der Explosionsstelle in seinem Büro und kann das Stadion sehen. Und nur eine Fensterscheibe hat einen Sprung.«
»Unsinn«, merkte Ted Ayres an.
»Wieso?« fragte Ryan.
»Achttausend Meter, das sind fünf Meilen«, erklärte der Mann von W & T. »Der Wärmepuls allein sollte das Haus in eine Fackel verwandeln, und der Druckwelle hielte keine Fensterscheibe stand.«
Murray hatte das gehört. »Genau, das sagt mein Experte hier auch. Mag sein, daß mein Agent unter Schockeinwirkung steht, aber ein Feuer neben seinem Schreibtisch sollte er doch bemerken, oder?«
»Liegen schon Nachrichten von Leuten vor Ort vor?« fragte Jack Ted Ayres.
»Nein. Das NEST-Team ist noch unterwegs, aber den Satellitenbildern läßt sich viel entnehmen, Jack.«
»Dan, wie rasch können Sie jemanden an die Szene schicken?« fragte Ryan.
»Das stelle ich gleich fest.«
»Hoskins.«
»Dan Murray. Walt, schicken Sie so rasch wie möglich Leute an den Schauplatz. Sie bleiben, wo Sie sind, und übernehmen die Koordination.«
»Wird gemacht.«
Hoskins gab die entsprechenden Anweisungen und fragte sich, welchen Gefahren er seine Leute aussetzte. Anschließend schaute er, da er nichts anderes zu tun hatte, noch mal die Akte auf seinem Schreibtisch an. Marvin Russell, dachte er, wieder so ein kleiner Krimineller, den seine eigene Dummheit das Leben gekostet hatte. Drogenhandel, was für ein Schwachsinn. Wurden die Kerle denn nie schlau?
Roger Durling war erleichtert, als sich der NEACP wieder von dem Tanker löste. Die modifizierte 747, die sonst seidenweich flog, wurde hinter einer KC-135 arg durchgeschüttelt, und das fand nur Durlings Sohn unterhaltsam. Im Konferenzraum saßen ein Brigadier der Luftwaffe, ein Captain der Marine, ein Major der Marines und vier andere hohe Offiziere. Alle Daten, die der Präsident erhielt, gingen automatisch an den fliegenden Befehlsstand weiter, die Transkriptionen des Verkehrs über den heißen Draht eingeschlossen.
»Was man sagt, klingt ja ganz vernünftig, aber ich wüßte trotzdem gerne, was alle Beteiligten denken«, meinte der Vizepräsident.
»Was, wenn es sich tatsächlich um einen russischen Angriff handelt?« fragte der Brigadier.
»Warum sollten die Sowjets so etwas tun?«
»Sie haben den Meinungsaustausch zwischen dem Präsidenten und der CIA gehört, Sir.«
»Gewiß, aber ich glaube, daß Ryan recht hat«, meinte Durling. »Dr. Elliots Interpretation ist völlig unlogisch.«
»Wer sagt denn, daß es auf der Welt logisch zugeht? Wie sind die Zusammenstöße in Berlin und im Mittelmeer einzuschätzen?«
»Die fanden zwischen Einheiten der vordersten Front statt. Wir gaben Alarm, sie zogen nach, und dann machte jemand einen Fehler. Ein Funke genügt schon; Gavrilo Princip erschoß den österreichischen Thronfolger, und die Welt rutschte in eine Katastrophe.«
»Um das zu verhindern, haben wir den heißen Draht, Mr. Vice President.«
»Richtig«, konzedierte Durling. »Und bislang scheint er zu funktionieren.«
Die ersten 50 Meter überwanden sie mit Leichtigkeit, aber dann wurde es immer schwerer und schließlich unmöglich. Callaghan hatte insgesamt 50 Feuerwehrleute mit der Räumung beauftragt, unterstützt von 100 weiteren. Nach einigem Nachdenken hatte er sich entschlossen, seine Männer und Frauen bei der Arbeit berieseln zu lassen, da er glaubte, das Wasser würde strahlenden Staub von seinen Leuten ab- und hinein in die Kanalisation spülen – nur das Wasser allerdings, das nicht gefror. Auf den Jacken der Männer in der vordersten Reihe hatte sich eine durchscheinende Eisschicht gebildet.
Das größte Problem stellten die Autos dar. Sie waren wie Spielzeug herumgeworfen worden, lagen auf der Seite oder dem Dach und leckten Benzin in brennende Lachen. Callaghan setzte ein Löschfahrzeug ein. Seine Leute befestigten Stahlseile an den Fahrgestellen der Autos, die dann von dem Löschfahrzeug weggeschleift wurden, aber dieses Verfahren war entsetzlich zeitraubend. Wenn sie so weitermachten, würden sie erst in einer Ewigkeit ins Stadion eindringen, in dem es noch Überlebende geben mußte. Callaghan stand im Trockenen und hatte Schuldgefühle, weil er es wärmer hatte als seine Leute. Als er das Grollen eines schweren Diesels hörte, drehte er sich um.
»Tag« , sagte ein Mann, der die Uniform eines Colonels der Army trug. Auf dem Namensschild an seinem Parka stand LYLE. »Wie ich höre, brauchen Sie schweres Gerät.«
»Was haben Sie mitgebracht?«
»Drei Pionierpanzer M728, die gerade anrollen, und noch etwas anderes.«
»Was wäre das?«
»100 MOPP, das sind Schutzanzüge gegen chemische Kampfstoffe. Perfekt sind sie für diese Situation nicht, aber doch besser als das, was Ihre Leute tragen. Und wärmer obendrein. Rufen Sie Ihre Leute zurück und lassen sie sich umziehen. Die Anzüge sind dort drüben auf dem Lkw.«
Callaghan zögerte kurz, kam aber dann zu dem Schluß, daß er dieses Angebot nicht ausschlagen konnte. Er zog seine Leute zurück und ließ sie Schutzkleidung anlegen. Colonel Lyle warf ihm einen Anzug zu.
»Berieseln war eine gute Idee; das sollte verhindern, daß sich verseuchter Staub festsetzt. So, und was können wir nun tun?«
»Man sieht es von hier aus zwar nicht, aber ein Teil des Stadions steht noch, und ich glaube, daß es dort Überlebende geben könnte. Könnten Sie uns einen Weg durch die Autowracks bahnen?«
»Klar.« Der Colonel hob sein Sprechfunkgerät und forderte das erste Fahrzeug an. Der M728 war ein Panzer mit Planierschild am Bug und einem Kran mit Winde hinterm Turm. Außerdem war er mit einer merkwürdig aussehenden kurzläufigen Kanone ausgerüstet.
»Besonders elegant wird diese Aktion nicht. Stört Sie das?«
»Nein, egal. Brechen Sie durch!«
»Gut.« Der Colonel ging an die Sprechanlage am Heck des Panzers. »Machen Sie eine Gasse frei«, befahl er.
Gerade als die ersten Feuerwehrleute zurückkehrten, ließ der Fahrer den Motor aufheulen. Er gab sich zwar die beste Mühe, die Wasserschläuche zu vermeiden, riß aber dennoch acht Zweieinhalbzöller auf. Er senkte das Planierschild, rammte mit über 30 Stundenkilometer die Masse brennender Fahrzeuge und drang zehn Meter weit vor. Dann stieß er zurück und begann, die Bresche zu erweitern.
»Himmel noch mal«, merkte Callaghan an. »Was wissen Sie über die Strahlung?«
»Nicht viel. Ehe ich hierherkam, erkundigte ich mich bei den Leuten vom NEST. Sie sollten jeden Augenblick hier sein. Bis dahin...« Lyle zuckte die Achseln. »Rechnen Sie wirklich mit Überlebenden?«
»Vom Hubschrauber aus habe ich gesehen, daß Teile des Stadions noch stehen.«
»Ehrlich?«
»Sicher.«
»Verrückt. Laut NORAD war es eine große Bombe.«
»Wie bitte?« Callaghan mußte brüllen, um den Lärm des Panzers zu übertönen.
»Es hieß, die Bombe sei sehr stark gewesen. Eigentlich dürfte da von dem Parkplatz nichts mehr übrig sein.«
»Sie sagen, das sei eine kleine Bombe gewesen?« Callaghan starrte den Colonel an, als zweifelte er an seinem Geisteszustand.
»Ja, natürlich!« erwiderte Lyle und hielt inne. »Moment, wenn da noch Menschen drin sind ...« Er rannte an den Panzer und schnappte sich den Hörer der Sprechanlage. Kurz darauf blieb der M728 stehen.
»Wenn wir so brutal vorgehen, könnten wir Überlebende zerquetschen. Ich habe den Fahrer angewiesen, vorsichtiger zu sein. Verdammt, Sie haben recht. Und ich hatte Sie für wahnsinnig gehalten.«
»Wie bitte?« schrie Callaghan wieder und wies seine Leute mit Gesten an, auch den Panzer zu berieseln.
»Es mag in der Tat Überlebende geben. Diese Bombe war sehr viel kleiner, als man mir am Telefon sagte.«
»Maine, hier Sea Devil 13«, funkte die P-3C Orion. »Wir sind 40 Flugminuten von Ihrer Position entfernt. Was ist Ihr Problem?«
»Schraube und Welle beschädigt, und es ist ein Akula in der Nähe – letzte Peilung 27 Meilen südwestlich.«
»Roger. Wenn wir ihn ausmachen, verscheuchen wir ihn. Melden uns wieder, wenn wir auf Station sind. Out.«
»Captain, wir schaffen drei Knoten. Ich schlage vor, daß wir uns so weit wie möglich nach Norden absetzen.«
Ricks schüttelte den Kopf. »Nein, wir bleiben still.«
»Sir, unser Freund da draußen muß den Kollisionslärm gehört haben und nun zu uns unterwegs sein. Unser bestes Sonar haben wir verloren. Es wäre am klügsten, ihm nach Möglichkeit auszuweichen.«
»Nein, wir bleiben lieber in Deckarlg.«
»Dann lassen Sie wenigstens einen MOSS los.«
»Eine vernünftige Idee, Sir«, meinte der Waffenoffizier.
»Gut, dann programmieren Sie ihm das Geräusch ein, das wir im Augenblick erzeugen, und lassen Sie ihn nach Süden laufen.«
»Jawohl.« Maines Torpedorohr 3 wurde mit einem MOSS geladen, einem Mobilen Submarine-Simulator. Hierbei handelte es sich um einen Torpedo, der statt eines Sprengkopfes einen Lärmgenerator und einen Sonar-Überträger enthielt. Seine Aufgabe war, die Geräusche zu erzeugen, die ein beschädigtes U-Boot der Ohio-Klasse macht. Und da eine defekte Welle einer der wenigen Gründe ist, aus denen ein Ohio laut wird, war diese Option bereits einprogrammiert. Der Waffenoffizier stellte das entsprechende Band ein und schoß den Simulator wenige Minuten später ab. Der MOSS jagte nach Süden und begann nach 2000 Metern sein Signal auszustrahlen.
Über Charleston in South Carolina hatte es aufgeklart. Hier war, anders als in Virginia und Maryland, nur Schneeregen gefallen. Was liegengeblieben war, hatte die Nachmittagssonne geschmolzen, so daß die alte Stadt aus der Kolonialzeit wieder blitzsauber aussah. Der Kommandeur der U-Gruppe 6, ein Admiral, sah von einem Versorgungsschiff aus zu, wie zwei seiner Boote den Cooper River hinunter Richtung See und damit in Sicherheit fuhren. Er war allerdings nicht der einzige Beobachter. Gut 300 Kilometer über ihm zog ein sowjetischer Aufklärungssatellit seine Bahn und folgte der Küste bis nach Norfolk, wo die Wolkendecke ebenfalls aufriß. Der Späher sandte seine Bilder an eine russische Station auf der Westspitze von Kuba. Von dort aus gingen die Daten über Nachrichtensatellit weiter. Da die meisten russischen Trabanten dieses Typs in einem hohen polaren Orbit kreisten, waren sie von dem elektromagnetischen Puls nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Sekunden später lagen die Aufnahmen in Moskau vor.
»Ja?« fragte der Verteidigungsminister.
»Wir haben Bilder von drei amerikanischen Marinestützpunkten. Von Charleston und King’s Bay laufen strategische U-Boote aus.«
»Danke.« Der Minister legte auf. Eine weitere Bedrohung, über die er sofort Präsident Narmonow informierte.
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, daß die militärischen Maßnahmen der Amerikaner nicht rein defensiv sind. Diese Boote haben zum Teil Interkontinentalraketen Trident D-5 an Bord, eine Waffe, mit der ein Erstschlag geführt werden kann. Erinnern Sie sich noch, wie sehr den Amerikanern an der Abschaffung unserer SS-18 gelegen war?«
»Sicher, aber sie stellen auch eine große Zahl ihrer Minuteman außer Dienst«, erwiderte Narmonow. »Und?«
»Und das bedeutet, daß sie für einen Erstschlag auf landgestützte Raketen nicht angewiesen sind. Bei uns sieht das anders aus. Wir müssen uns dabei auf unsere landgestützten Interkontinentalraketen verlassen.«
»Und unsere SS-18?«
»In diesem Augenblick werden aus vielen die Sprengköpfe entfernt, und wenn diese verdammte Entsorgungsanlage erst einmal läuft, haben wir die Bedingungen des Abkommens voll erfüllt – das ist übrigens schon jetzt so, nur daß die Amerikaner es nicht zugestehen wollen.« Der Verteidigungsminister hielt inne, weil Narmonow ihn offensichtlich nicht verstand. »Mit anderen Worten: Wir haben einen Teil unserer treffsichersten Raketen eliminiert, während die Amerikaner ihre immer noch besitzen. Strategisch gesehen sind wir also im Nachteil.«
»Ich habe kaum geschlafen und kann nicht sehr klar denken«, sagte Narmonow gereizt. »Vor einem Jahr waren Sie mit dem Abrüstungsvertrag einverstanden. Und jetzt soll es eine Bedrohung für uns darstellen?«
Die alte Leier, dachte der Minister. Man hört nicht auf mich. Ich kann es hundertmal sagen, aber man hört einfach nicht zu.
»Die Abschaffung so vieler Raketen und Gefechtsköpfe verändert die Wechselbeziehung der Kräfte –«
»Ausgemachter Quatsch! Wir sind den USA in jeder Hinsicht ebenbürtig«, wandte Narmonow ein.
»Darum geht es nicht. Der entscheidende Faktor ist das Verhältnis zwischen den beiden Seiten zur Verfügung stehenden Raketen – und ihrer jeweiligen Verwundbarkeit – und die Zahl der Gefechtsköpfe. Wir können noch immer als erste zuschlagen und mit unseren landgestützten Raketen die amerikanischen ICBM in ihren Silos ausschalten. Aus diesem Grund gaben die USA so bereitwillig die Hälfte ihrer landgestützten Systeme auf. Die Mehrzahl ihrer Gefechtsköpfe aber befindet sich auf See, und nun sind sie mit diesen seegestützten Raketen zum ersten Mal in der Lage, einen entwaffnenden Erstschlag zu führen.«
»Kuropatkin«, meinte Narmonow, »haben Sie das gehört?«
»Ja. Der Verteidigungsminister hat recht. Eine zusätzliche Dimension ist die durch die Verringerung der Startsysteme veränderte Ratio zwischen Raketen und Gefechtsköpfen. Zum ersten Mal seit einer Generation ist ein vernichtender Erstschlag möglich, insbesondere, wenn es den Amerikanern gelingt, mit ihrer ersten Angriffswelle unsere Regierung zu enthaupten.«
»Und das würden die Stealth-Jagdbomber, die sie nach Deutschland gebracht haben, schaffen«, schloß der Verteidigungsminister.
»Langsam. Wollen Sie mir einreden, Fowler hätte seine eigene Stadt in die Luft gesprengt, um einen Vorwand für einen Angriff gegen uns zu haben? Was ist das für ein Irrsinn?« Nun bekam es der sowjetische Präsident mit der Angst zu tun.
Der Verteidigungsminister sprach langsam und deutlich. »Es tut nichts zur Sache, wer diese Waffe detonieren ließ. Wenn Fowler zu dem Schluß gelangt, daß wir an dem Vorfall schuld sind, ist er in der Lage, gegen uns zu handeln. Genosse Präsident, Ihnen muß folgendes klar sein: Theoretisch gesehen steht unser Land kurz vor der totalen Vernichtung. Die Flugzeit der landgestützten US-Raketen beträgt 30 Minuten, die ihrer seegestützten 20, und diese verfluchten unsichtbaren Bomber können schon in zwei Stunden über uns sein; das wäre der für die Amerikaner günstigste Eröffnungszug. Ob unser Land überlebt, hängt von Präsident Fowlers Geisteszustand ab.«
»Ich verstehe.« Der sowjetische Präsident schwieg eine halbe Minute lang und starrte auf die Anzeigen und Karten an der Wand. Als er wieder sprach, schwang in seiner Stimme die Wut eines in die Ecke Getriebenen mit. »Was schlagen Sie vor? Sollen wir die Amerikaner etwa angreifen? Das lasse ich nicht zu.«
»Selbstverständlich nicht, aber wir wären wohl beraten, unsere strategischen Kräfte in volle Alarmbereitschaft zu versetzen. Die Amerikaner werden das merken, erkennen, daß ein entwaffnender Schlag nicht möglich ist, und wir können so die Lage stabilisieren, bis wieder Vernunft herrscht.«
»Golowko?«
Der Erste Stellvertretende Vorsitzende des KGB schreckte vor der Frage zurück. »Wir wissen, daß sie in voller Alarmbereitschaft sind. Unser Nachziehen könnte sie provozieren.«
»Und wenn wir es unterlassen, bieten wir ein viel einladenderes Ziel.« Der Verteidigungsminister war von einer schon übermenschlichen Gelassenheit und vielleicht der einzige unter den Anwesenden, der völlig beherrscht war. »Wir wissen, daß der amerikanische Präsident unter großem Streß steht, daß er Tausende seiner Bürger verloren hat. Es ist vorstellbar, daß er wild um sich schlägt, aber wenn er weiß, daß wir in der Lage sind, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, wird er sich zurückhalten. In einer Lage wie dieser dürfen wir keine Schwäche zeigen. Schwäche fordert immer Angriffe heraus.«
Narmonow sah sich im Raum um und wartete auf Widerspruch. Als dieser ausblieb, sagte er: »Gut, so ausführen.«
»Immer noch keine Nachrichten aus Denver«, sagte der Präsident und rieb sich die Augen.
»Viel ist auch nicht zu erwarten«, erwiderte General Borstein.
Die Befehlszentrale NORAD befindet sich buchstäblich im Innern eines Berges. Den Eingangstunnel sichern zahlreiche druckfeste Stahltüren. Stoßdämpfende Federn und Hochdruck-Luftkissen isolieren Menschen und Maschinen vom Granitboden. Über ihnen schützen Stahldecken vor Felsbrocken. Das Ganze war darauf ausgelegt, auch dem massivsten Angriff standzuhalten, aber Borstein rechnete nicht damit, einen solchen zu überleben. Ein ganzes Regiment SS-18 Mod 4 hatte den Auftrag, diesen Befehlsstand und eine Reihe anderer zu zerstören. Anstelle von zehn oder mehr individuell lenkbaren Gefechtsköpfen trugen diese Raketen nur einen Sprengkopf von 25 Kilotonnen, und das konnte nur einen plausiblen Zweck haben: den Berg Cheyenne in den See Cheyenne zu verwandeln. Ein angenehmer Gedanke. Borstein war Kampfpilot gewesen. Auf der F-100, von ihren Piloten »der Hunne« genannt, hatte er begonnen, war zur F-4 Phantom aufgestiegen und hatte zuletzt in Europa eine Staffel F-15 befehligt. Er war schon immer ein Draufgänger gewesen – Knüppel und Pedale, Schutzbrille und Halstuch: ein Tritt ans Fahrwerk, Feuer ins Triebwerk und ab die Post. Bei diesem Gedanken zog Borstein die Stirn kraus. Selbst er war nicht alt genug, um diese Zeit vergessen zu haben. Seine Aufgabe war die Verteidigung des kontinentalen Luftraums; er hatte zu verhindern, daß jemand sein Land in die Luft jagte. Und er hatte versagt. Ganz in seiner Nähe war eine Stadt zerbombt worden, zusammen mit seinem Chef, und er hatte keine Ahnung, wer das getan hatte oder warum. An Versagen war Borstein nicht gewöhnt, aber eben damit sah er sich nun konfrontiert, als er auf seinen riesigen Kartendisplay schaute.
»General!« rief ein Major.
»Was gibt’s?«
»Wir fangen Funk- und Mikrowellenverkehr auf; vermutlich versetzt der Iwan seine Raketenregimeter in Alarmbereitschaft. Ähnliches ist von Marinestützpunkten zu vernehmen. Moskau gibt Blitzmeldungen heraus.«
»Himmel noch mal!« Borstein griff wieder zum Telefon.
»Wirklich? Noch nie?« fragte Liz Elliot.
»Seltsam, aber wahr«, erwiderte Borstein. »Selbst während der Kubakrise versetzten die Russen ihre ICBM nicht in Alarmbereitschaft.«
»Unglaublich«, schnaubte Fowler. »Wirklich nie?«
»Der General hat recht«, meinte Ryan. »Der Grund ist ein schon immer miserabel gewesenes Telefonnetz. Ich nehme an, man hat es inzwischen soweit verbessert –«
»Was soll das heißen?«
»Mr. President, der Teufel steckt im Detail. So wie wir geben die Sowjets solche Befehle telefonisch durch. Anweisungen von solcher Tragweite kann man nicht über ein Netz geben, das immer wieder mal zusammenbricht. Die Russen haben also große Summen in seine Verbesserung gesteckt, so wie wir viel für unser neues Kommando- und Führungssystem aufgewendet haben. Inzwischen benutzen sie Glasfaserkabel und ein ganz neues Mikrowellen-Richtfunksystem. Und deshalb erfuhren wir auch von dem Alarm«, erklärte Jack. »Wir fingen Streusignale von Relaisverstärkern auf.«
»In ein paar Jahren, wenn die Umstellung auf Glasfaserkabel komplett ist, erfahren wir dann überhaupt nichts mehr«, fügte General Fremont hinzu. »Das gefällt mir nicht.«
»Mir auch nicht«, meinte Ryan. »Aber wir sind schließlich auf DEFCON-2, oder?«
»Unsinn, das wissen sie doch gar nicht«, warf Liz Elliot ein. »Haben wir ihnen das mitgeteilt?«
»Nein, aber vielleicht hören sie bei uns mit. lch sagte doch bereits, daß sie Berichten zufolge unser Chiffriersystem entschlüsselt haben.«
»Die NSA sagt, Sie wären nicht ganz bei Trost.«
»Mag sein, aber die NSA irrt sich nicht zum ersten Mal.«
»Wie schätzen Sie Narmonows Geisteszustand ein?«
Hat er ebensoviel Schiß wie ich? dachte Ryan. »Sir, das ist von hier aus nicht zu beurteilen.«
»Wir wisen ja noch nicht einmal, ob er selbst an der Leitung ist«, warf Liz Elliot ein.
»Liz, ich lehne Ihre Hypothese ab«, bellte Jack über die Konferenzschaltung. »Gestützt wird sie nur von Hinweisen aus meiner Behörde, an denen wir unsere Zweifel haben.« Jack bereute nun bitter, mit diesem Material ins Weiße Haus gegangen zu sein.
»Schluß jetzt, Jack!« fauchte der Präsident zurück. »Ich brauche Fakten, keine Diskussionen. Verstanden?«
»Sir, ich muß Sie erneut darauf hinweisen, daß nicht genug Informationen vorliegen, auf denen sich eine Entscheidung basieren ließe.«
»Alles Käse«, meinte ein Colonel neben General Fremont.
»Was wollen Sie damit sagen?« Der CINC-SAC wandte sich vom Telefon ab.
»Dr. Elliot hat recht, Sir. Was sie vorhin sagte, klang plausibel.«
»Mr. President«, hörten sie eine Stimme sagen. »Es geht eine Nachricht über den heißen Draht ein.«
PRÄSIDENT FOWLER:
WIR ERFUHREN GERADE, DASS EINE US-EINHEIT IN BERLIN OHNE WARNUNG EINE SOWJETISCHE EINHEIT ANGEGRIFFEN HAT. DER MELDUNG NACH SIND DIE VERLUSTE SCHWER. ICH BITTE UM EINE ERKLÄRUNG.
»Scheiße!« flüsterte Ryan, als er das Fax gelesen hatte.
»Ich bitte um Stellungnahme«, sagte Fowler über die Konferenzschaltung.
»Am besten sagen wir, daß wir von dem Vorfall nichts wissen«, riet Liz Elliot. »Geben wir die Sache zu, übernehmen wir einen Teil der Verantwortung.«
»Jetzt zu lügen wäre katastrophal«, erwiderte Ryan heftig und hatte dabei das Gefühl, es zu übertreiben. Wenn du zu brüllen anfängst, hören sie nicht mehr auf dich, dachte er. Also mit der Ruhe...
»Das können Sie Narmonow erzählen«, schoß Liz Elliot zurück. »Schließlich sind wir von ihnen angegriffen worden.«
»Den Meldungen nach schon, aber –«
»Ryan, bezichtigen Sie unsere Leute der Lüge?« grollte Borstein.
»Nein, General, aber Sie wissen genausogut wie ich, daß die Informationen in Krisen oft unzuverlässig sind.«
»Wenn wir alle Kenntnis abstreiten, brauchen wir keine Positionen einzunehmen, die wir später wieder räumen müßten«, beharrte die Sicherheitsberaterin. »Außerdem forderten wir die Gegenseite nicht heraus. Und warum bringen Sie das eigentlich jetzt zur Sprache?«
»Mr. President«, meinte Ryan, »als ehemaliger Staatsanwalt müssen Sie wissen, wie unzuverlässig Augenzeugen sein können. Es ist möglich, daß Narmonow die Frage in gutem Glauben gestellt hat. Ich rate, sie ehrlich zu beantworten.« Jack drehte sich zu Goodley um, der den Daumen hob.
»Robert, wir haben es hier nicht mit Zivilisten, sondern mit Berufssoldaten zu tun, und die müssen scharfe Beobachter sein«, konterte Liz Elliot. »Sowjetische Truppen fangen doch kein Gefecht an, ohne einen entsprechenden Befehl zu haben. Demnach muß er wissen, daß er eine falsche Anschuldigung erhebt. Wenn wir zugeben, über den Vorfall informiert zu sein, erwecken wir den Eindruck, als sei sein Vorwurf begründet. Ich weiß nun nicht, welches Spiel er - oder wer sonst am anderen Ende der Leitung sitzt – spielt, aber wenn wir einfach Unwissenheit vortäuschen, gewinnen wir Zeit.« »Dem muß ich heftig widersprechen«, sagte Jack so ruhig wie möglich.
PRÄSIDENT NARMONOW:
WIE SIE WISSEN, BEFASSE ICH MICH IM AUGENBLICK VORWIEGEND MIT DEN EREIGNISSEN INNERHALB UNSERER GRENZEN. AUS BERLIN LIEGEN MIR NOCH KEINE INFORMATIONEN VOR. ICH DANKE FÜR IHRE ANFRAGE UND HABE MEINE LEUTE ANGEWIESEN, DIE ANGELEGENHEIT ZU PRÜFEN.
»Stellungnahmen?«
»Der Kerl lügt uns die Hucke voll«, meinte der Verteidigungsminister. »Das amerikanische Kommunikationssystem ist zu gut.«
»Robert, Robert, warum lügst du so schamlos ...?« sagte Narmonow mit gesenktem Kopf. Der sowjetische Präsident war nun gezwungen, sich Fragen zu stellen. Die Beziehungen zu den USA hatten sich in den vergangenen Monaten leicht abgekühlt. Er hatte um zusätzliche Kredite gebeten und war vertröstet worden. Die Amerikaner bestanden auf der uneingeschränkten Erfüllung der Bedingungen des Abrüstungsvertrags, obwohl sie das Entsorgungsproblem kannten und obwohl er Fowler von Angesicht zu Angesicht versichert hatte, es würde alles ausgeführt. Was hatte sich verändert? Warum löste Fowler nun seine Versprechungen nicht ein? Was trieb er?
»Es steckt mehr als nur eine Lüge dahinter«, bemerkte der Verteidigungsminister nach kurzem Nachdenken.
»Was meinen Sie damit?«
»Er betont erneut, daß er sich vorwiegend mit der Rettungsaktion in Denver befaßt, aber wir wissen, daß er seine strategischen Kräfte in volle Alarmbereitschaft versetzt hat. Warum hat er uns darüber nicht informiert?«
»Weil er uns nicht provozieren will...?« spekulierte Narmonow. Diese Worte klangen selbst ihm hohl.
»Denkbar«, räumte der Verteidigungsminister ein. »Aber sie wissen nicht, mit welchem Erfolg wir ihren Chiffrenverkehr mitlesen. Vielleicht bilden sie sich ein, uns das verheimlicht zu haben.«
»Nein«, wandte Kuropatkin aus seiner Befehlszentrale ein. »Dem kann ich nicht zustimmen. Die Hinweise sind unübersehbar. Die Amerikaner müssen wissen, daß uns Aspekte ihres strategischen Alarms nicht verborgen geblieben sein können.«
»Gewisse Aspekte, aber nicht alle.« Der Verteidigungsminister wandte sich an Narmonow. »Wir müssen uns darauf einstellen, daß der amerikanische Präsident möglicherweise nicht mehr rational handelt.«
»Zum ersten Mal?« fragte Fowler.
Elizabeth Elliot, die nun recht blaß war, nickte. »Robert, es ist zwar allgemein nicht bekannt, stimmt aber. Die Russen haben ihre strategischen Raketenstreitkräfte noch nie in Alarm versetzt. Bis heute.«
»Und warum ausgerechnet jetzt?« fragte der Präsident.
»Die einzig logische Antwort ist, daß wir es nicht mehr mit Narmonow zu tun haben.«
»Wie läßt sich das mit Sicherheit feststellen?«
»Überhaupt nicht. Wir haben nur die Computerverbindung und weder Telefon noch TV-Leitung.«
»Guter Gott.«