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Entwicklungen

Ghosn konnte nur den Kopf schütteln. Objektiv verstand er, daß es sich um eine Auswirkung der tiefgreifenden Veränderungen in Europa handelte, des Verzichts auf Grenzkontrollen im Zuge der wirtschaftlichen Integration der EG, der Auflösung des Warschauer Pakts und der stürmischen Bildung einer europäischen Völkerfamilie. Die einzige Schwierigkeit beim Transport der fünf Werkzeugmaschinen aus Deutschland in diese Senke war ausgerechnet die Beschaffung eines geeigneten Lastwagens in Latakia gewesen, kein simples Unterfangen, denn niemand – selbst der Deutsche nicht, dachte Ghosn befriedigt  – hatte an den schlechten Zustand der Straße gedacht, die zur Werkstatt führte. Nun sah Fromm aufmerksam zu, wie Arbeiter die letzte Maschine mühsam auf deren Tisch wuchteten. Fromm war arrogant, aber ein erstklassiger Ingenieur. Selbst die Tische hatten genau die richtige Größe und einen zehn Zentimeter breiten Rand, auf dem man ein Notizbuch ablegen konnte. Die Notstromaggregate waren aufgestellt und durchgeprüft. Nun mußten nur noch die Maschinen aufgebaut und geeicht werden, ein Prozeß, der eine Woche in Anspruch nehmen würde.

Bock und Kati beobachteten das Ganze vom anderen Ende des Raums, weil sie nicht im Weg stehen wollten.

»Ich habe die Ansätze eines Einsatzplans«, meinte Günther.

»Sie soll also nicht für Israel bestimmt sein?« fragte Kati. Die endgültige Entscheidung lag bei ihm, aber er wollte seinen deutschen Freund anhören. »Können Sie mir schon sagen, was Sie vorhaben?«

»Ja.« Bock weihte ihn ein.

»Interessant. Und die Sicherheit?«

»Ein Problem stellt unser Freund Manfred dar – oder, genauer gesagt, seine Frau. Sie kennt sein Fach und weiß, daß er irgendwo im Ausland ist.«

»Sie umzubringen birgt mehr Risiken als Vorteile, finde ich.«

»Normalerweise schon, aber Fromms Kollegen sind alle ebenfalls unterwegs - meist mit ihren Frauen. Verschwände sie einfach, würden ihre Nachbarn annehmen, sie sei zu ihrem Mann gestoßen. Seine Abwesenheit könnte sie zu der achtlosen Bemerkung provozieren, Manfred arbeite irgendwo im Ausland. Und das könnte bestimmten Kreisen auffallen.«

»Weiß sie eigentlich, woran er früher gearbeitet hat?«

»Manfred ist sehr sicherheitsbewußt, aber wir müssen annehmen, daß sie Bescheid weiß. Welche Ehefrau weiß so etwas nicht?«

»Weiter«, sagte Kati müde.

»Wenn ihre Leiche entdeckt wird, ist die Polizei gezwungen, nach ihrem Mann zu fahnden, und auch das wäre ein Problem. Sie muß also verschwinden, damit der Eindruck entsteht, sie sei zu ihrem Mann gefahren.«

»Nach Abschluß des Projekts wird sie ohnehin sein Schicksal teilen«, bemerkte Kati und lächelte zur Abwechslung einmal.

»Genau.«

»Was für eine Frau ist sie?«

»Ein raffgieriger Hausdrache, der nicht an Gott glaubt«, sagte der Atheist Bock zu Katis Erheiterung.

»Und wie wollen Sie das erledigen?«

Bock legte kurz seinen Plan dar. »Dabei können wir gleichzeitig die Zuverlässigkeit unserer Leute für diese Phase der Operation prüfen. Die Einzelheiten überlasse ich ihnen.«

»Tricks? Bei einem Unternehmen wie diesem kann man nicht vorsichtig genug sein.«

»Wenn Sie wollen, lasse ich die Liquidierung auf Video aufnehmen, damit Sie einen eindeutigen Beweis haben.« Bock hatte das schon einmal getan.

»Das ist barbarisch«, meinte Kati, »aber leider notwendig.«

»Ich werde mich um die Sache kümmern, wenn ich nach Zypern fahre.«

»Auf dieser Reise brauchen Sie Bewacher, mein Freund.«

»Gut, das finde ich auch.« Bock wußte, was gemeint war. Wenn es den Anschein hatte, daß seine Festnahme unmittelbar bevorstand ... nun, er hatte einen sehr gefährlichen Weg gewählt, und Kati mußte vorsichtig sein. Günthers Vorschlag für einen Einsatzplan machte das noch wichtiger.

»Die Maschinen sind doch schon alle mit Wasserwaagen für die Luftkissenbasis ausgerüstet«, sagte Ghosn fünfzehn Meter weiter gereizt. »Wozu der Aufwand bei den Tischen?«

»Junger Freund, diese Arbeit können wir nur einmal tun. Wollen Sie irgendwelche Risiken eingehen?«

Ghosn nickte. Der Mann mochte herablassend sein, aber er hatte recht. »Und das Tritium?«

»Ist in diesen Batterien. Ich bewahrte sie kühl auf ... Das Tritium setzt man frei, indem man sie erhitzt; ein kniffliger, aber unproblematischer Prozeß.«

»Stimmt, ich weiß, wie das geht«, sagte Ghosn.

Fromm reichte ihm die Bedienungsanleitung der ersten Maschine. »So, nun müssen wir uns erst einmal neue Kenntnisse aneignen, damit wir das Bedienungspersonal einweisen können.«

 

Kapitän Dubinin saß im Dienstzimmer des Schiffbaumeisters der Werft, auf der die Admiral Lunin entstanden war und die man unter den Namen »Werft Nr. 199«, »Leninskaja Komsomola« oder schlicht »Komsomolsk« kannte. Der Mann, ein ehemaliger U-Boot-Kommandant, zog den Titel »Schiffbaumeister« dem eines Direktors vor und hatte beim Dienstantritt vor zwei Jahren das Schild an seiner Tür entsprechend ändern lassen. Er war Traditionalist, aber auch ein brillanter Ingenieur. Und heute war er ganz besonders froh.

»Während Ihrer Abwesenheit habe ich etwas Großartiges ergattert!«

»Und was wäre das, Herr Admiral?«

»Der Prototyp einer neuen Reaktorpumpe. Sie ist groß, klobig, aus Gußeisen, schwer einzubauen und zu warten, aber auch ...«

»Leise?«

»Wie ein Dieb«, entgegnete der Admiral lächelnd. »Sie strahlt fünfzig Prozent weniger Schall ab als Ihre derzeitige Pumpe.«

»Wirklich? Wo haben wir die gestohlen?«

Darüber mußte der Schiffbaumeister lachen. »Das brauchen Sie nicht zu wissen, Walentin Borissowitsch. So, nun habe ich eine Frage an Sie: Ich hörte, daß Sie vor zehn Tagen etwas Erstaunliches geschafft haben ...«

Dubinin lächelte. »Darüber darf ich nicht reden, Herr Admiral.«

»O doch. Ich habe mit Ihrem Geschwaderkommandeur gesprochen. Sagen Sie, wie nahe kamen Sie an USS Nevada heran?«

»Ich glaube eher, daß es die Maine war«, erwiderte Dubinin. Die Leute von der Aufklärung waren zwar anderer Ansicht, aber er ließ sich von seinem Instinkt leiten. »Achttausend Meter, schätze ich. Wir identifizierten das Boot anhand eines mechanischen Geräuschs, das während einer Übung verursacht wurde, und dann pirschte ich mich auf der Basis einiger unfundierter Vermutungen an ...«

»Unsinn! Man kann die Bescheidenheit auch übertreiben, Kapitän. Fahren Sie fort.«

»Nachdem wir das vermutete Ziel gepeilt hatten, kam Bestätigung in Form von Rumpfknistern. Angesichts unseres Einsatzplans und der taktischen Lage beschloß ich an diesem Punkt, den Kontakt abzubrechen, solange das noch ohne Gegenortung möglich war.«

»Das war Ihr geschicktester Zug«, meinte der Schiffbaumeister und wies mit dem Zeigefinger auf seinen Besucher. »Sie hätten keine bessere Entscheidung treffen können, denn wenn Sie Ihre nächste Fahrt antreten, haben Sie das leiseste Boot, das wir je in See stechen ließen.«

»Die Amerikaner sind uns nach wie vor überlegen«, erklärte Dubinin chrlich.

»Gewiß, aber nun ist ihr Vorsprung endlich geringer als der Unterschied zwischen zwei Kommandanten, wie es sich gehört. Wir sind beide von Marko Ramius ausgebildet worden. Schade, daß er das nicht erleben kann!«

Dubinin nickte zustimmend. »Ja, angesichts der derzeitigen politischen Lage wird das Spiel von Geschick und nicht mehr von Feindschaft bestimmt.«

»Wäre ich doch jung genug, um mitspielen zu können«, seufzte der Schiffbaumeister.

»Und das neue Sonar?«

»Es ist eine Entwicklung unseres Laboratoriums Seweromorsk, ein Passivgerät mit großer Öffnung, dessen Empfindlichkeit um rund vierzig Prozent verbessert ist. Bei fast allen Systemen sind Sie einem amerikanischen Boot der Los-Angeles-Klasse ebenbürtig.«

Den Einwand, das gälte nicht für die Besatzung, verkniff sich Dubinin. Es würde Jahre dauern, bis sein Land die eigenen Männer so gut ausbildete, wie die Marinen des Westens es taten, und bis dahin war er zu alt für ein Kommando auf See – aber in drei Monaten bekam er das beste Boot, das die Sowjetunion je einem Kapitän anvertraut hatte. Wenn es ihm gelang, seinem Geschwaderkommandanten mehr Offiziere abzuschwatzen, konnte er die unfähigeren Wehrpflichtigen an Land zurücklassen und für den Rest ein ordentliches Übungsprogramm ansetzen. Es war seine Aufgabe, die Besatzung zu führen und auszubilden. Er war der Kapitän der Admiral Lunin. Ihm gebührte die Anerkennung für einen Erfolg, und er mußte die Schuld an einem Fehlschlag auf sich nehmen. Das hatte ihm Ramius schon an seinem ersten Tag an Bord eines Unterseebootes beigebracht. Er hatte sein Schicksal selbst in der Hand, und was konnte man schon mehr verlangen?

Warte nur, USS Maine, dachte er, nächstes Jahr, wenn die bitterkalten Winterstürme über den Nordpazifik fegen, sehen wir uns wieder.

 

»Kein einziger Kontakt«, sagte Captain Ricks in der Offiziersmesse.

»Abgesehen von Omaha.« Lieutenant Commander Claggett sah einige Unterlagen durch. »Und die hatte es viel zu eilig.«

»Der Iwan gibt sich keine Mühe mehr«, sagte der Navigator fast mit Bedauern. »Sieht fast so aus, als hätte er das Handtuch geworfen.«

»Warum überhaupt den Versuch machen, uns zu finden?« bemerkte Ricks. »Abgesehen von dem Akula, das verschwand...«

»Das haben wir immerhin vor einiger Zeit erfaßt«, sagte der Navigator.

»Vielleicht können wir ihn beim nächsten Mal knipsen!« rief ein Lieutenant leichthin, der hinter einem Magazin stand, und löste damit allgemeine Heiterkeit aus. Ganz selten war es wagemutigen Kommandanten von Jagd-U-Booten gelungen, sich ganz dicht an sowjetische Boote heranzupirschen und Blitzlichtaufnahmen von ihren Rümpfen zu machen. Aber solche Spiele gehörten der Vergangenheit an. Die Russen operierten inzwischen sehr viel geschickter als noch vor zehn Jahren. Als Zweitbester strengt man sich mehr an.

»Nun zur nächsten Übung im Maschinenraum«, sagte Ricks.

Dem Ersten Offizier fiel auf, daß niemand am Tisch eine Miene verzog. Die Offiziere hatten gelernt, sich das Stöhnen und Augenrollen zu verkneifen. Ricks’ Sinn für Humor war sehr begrenzt.

 

»Tag, Robby!« Joshua Painter erhob sich von seinem Drehsessel und ging dem Besucher entgegen, um ihm die Hand zu reichen.

»Guten Morgen, Sir.«

»Setzen Sie sich.« Ein Steward schenkte beiden Kaffee ein. »Nun, wie steht’s mit dem Verband?«

»Wir werden rechtzeitig bereit sein, Sir.«

Admiral Joshua Painter von der US-Navy war der Oberbefehlshaber der alliierten Marinckräftc Atlantik, der OB Atlantik und der OB der amerikanisehen Atlantikflotte. Für die drei Jobs bekam er zwar nur ein Gehalt, verfügte aber über drei Stäbe, die ihm das Denken abnahmen. Er hatte sich als Kampfflieger hochgedient und nun den Gipfel seiner Karriere erreicht. Eine Beförderung zum Chef aller Marineoperationen stand nicht in Aussicht. Dieser Posten würde wohl an einen Mann mit größerem politischen Geschick gehen, aber Painter war mit dem, was er erreicht hatte, zufrieden. Gemäß der ziemlich ungewöhnlichen Organisation der Streitkräfte berieten der Chef der Marineoperationen und andere Befehlshaber den Verteidigungsminister lediglich, der dann den Oberbefehlshabern (CINC) der Einsatzgebiete die Befehle erteilte. Die Kommandostruktur SACLANT-CINCLANT-CINCLANTFLT mochte bürokratisch, schwerfällig und aufgebläht sein, aber Painter konnte als ihr Chef reale Schiffe, Flugzeuge und Marineinfanteristen in Bewegung setzen. Zwei ganze Flotten, die 2. und die 6., unterstanden ihm: Sieben Flugzeugträger, ein Schlachtschiff (Painter, zwar ein Flieger, mochte die gepanzerten Ungetüme, weil sein Großvater eins befehligt hatte), über 100 Kreuzer, Zerstörer und Fregatten, 60 Unterseeboote, anderthalb Divisionen Marineinfanterie, Tausende von Kampfflugzeugen. Tatsache war, daß nur ein Land auf der Welt über mehr Kampfkraft verfügte als Joshua Painter, und dieses Land stellte in dieser Zeit der internationalen Verständigung keine ernsthafte strategische Bedrohung mehr dar. Mit Krieg brauchte er nicht mehr zu rechnen, und das machte Painter froh. Er hatte Einsätze in Vietnam geflogen und miterlebt, wie Amerikas Macht von ihrem Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg auf ihren Tiefpunkt in den Siebzigern gesunken war, um sich dann wieder zu erholen, bis die USA aufs neue als stärkstes Land der Welt galten. Er hatte seinen Part in den besten und schlimmsten Zeiten gespielt, und nun waren die Aussichten besonders günstig. Robby Jackson war einer der Männer, denen Painters Marine anvertraut werden würde.

»Was höre ich da? Wieder sowjetische Piloten in Libyen?« fragte Jackson.

»Nun, ganz abgezogen wurden sie ja nie«, meinte Painter. »Unser Freund will die modernsten sowjetischen Waffen haben und zahlt in Devisen. Die haben die Sowjets nötig. Geschäft ist Geschäft. So einfach ist das.«

»Man sollte doch meinen, daß er seine Lektion gelernt hat«, bemerkte Robby und schüttelte den Kopf.

»Vielleicht tut er das auch ... bald. Als einer der letzten Hitzköpfe muß er sich sehr einsam fühlen. Mag sein, daß er seine Arsenale füllt, solange das noch geht. Das sagt jedenfalls unsere Aufklärung.«

»Und die Russen im Land?«

»Eine beachtliche Zahl von Ausbildern und Technikern auf Vertragsbasis, besonders Flieger und Spezialisten für SAM-Raketen.«

»Gut, daß ich das weiß. Wenn Gaddafi wieder mal was wagt, kann er sich hinter einer guten Luftabwehr verstecken.«

»Nicht gut genug, um Sie und Ihre Männer aufzuhalten, Robby.«

»Aber gut genug, um mich zum Briefeschreiben zu zwingen.« Jackson hatte unzählige Briefe an Angehörige verfassen müssen. Bei jeder Fahrt war im Luftverband mit Todesfällen zu rechnen. Seines Wissens war kein Träger zu einem Einsatz ausgelaufen – ob nun in Kriegs- oder Friedenszeiten –, ohne Tote beklagen zu müssen, und als Chef des Verbandes trug er die Verantwortung. Wäre es nicht schön, wenn ich als erster dran glauben müßte, dachte Jackson. Erstens wäre es ein würdiger Abschluß meiner Karriere, und zweitens bräuchte ich Frau und Eltern nicht mehr schonend beizubringen, daß ihr Johnny für sein Land gestorben ist ... denkbar, aber unwahrscheinlich. Die Arbeit der Marineflieger war gefährlich. Er war nun über Vierzig, wußte, daß die Unsterblichkeit entweder ein Märchen oder ein schlechter Witz war, und hatte sich im Bereitschaftsraum beim Betrachten der Gesichter der Piloten schon bei dem Gedanken ertappt: Wer von diesen gutaussehenden, stolzen Jungs wird fehlen, wenn die Theodore Roosevelt wieder die Durchfahrt zwischen Kap Charles und Kap Henry ansteuert? Wessen schöne und schwangere Frau wird kurz vorm Mittagessen von einem Geistlichen und einem Piloten aufgesucht, begleitet von der Frau eines Kameraden, die sie an der Hand nimmt und sie tröstet? Wieder ein Leben, das in weiter Ferne in Feuer und Blut endete? Ein möglicher Zusammenstoß mit den Libyern war nur eine Bedrohung mehr in einer Welt, in der der Tod einen festen Wohnsitz hatte. Jackson gestand sich insgeheim ein, daß er für dieses Leben zu alt war. Er war zwar nach wie vor ein erstklassiger Pilot, aber reif genug, um sich einzugestchen, daß er nicht mehr unbedingt Weltspitze war. Doch nun machten ihm die traurigen Seiten des Lebens mehr zu schaffen, und es wurde bald Zeit für eine Versetzung – in ein Büro mit Admiralsflagge und der Möglichkeit, gelegentlich zu fliegen und damit zu beweisen, daß er noch immer die richtigen Entscheidungen treffen oder sich um sie bemühen konnte. So könnte er diese schrecklichen Besuche auf einem Minimum halten.

»Probleme?« fragte Painter.

»Ersatzteilmangel«, erwiderte Captain Jackson. »Es wird immer schwieriger, alle Vögel flugklar zu halten.«

»Wir tun, was wir können.«

»Jawohl, Sir, ich weiß. Und wenn ich die Zeitungen richtig interpretiere, wird es auch noch schlimmer.« Zum Beispiel war geplant, drei Träger mitsamt ihren Flugzeugen außer Dienst zu stellen. Lernte man denn nie?

»Jedesmal, wenn wir einen Krieg gewinnen, werden wir dafür bestraft«, sagte der CINCLANT. »Wenigstens hat uns dieser Sieg nicht allzuviel gekostet. Keine Sorge, wenn es soweit ist, wird es einen Platz für Sie geben. Sie sind mein bester Verbandskommandeur, Captain.«

»Das höre ich gern.«

Painter lachte. »Ich auch.«

 

»Im Englischen gibt es ein Sprichwort«, bemerkte Golowko, »und das heißt: ›Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.‹ Was wissen wir noch?«

»Es hat den Anschein, daß sie uns ihren gesamten Plutoniumvorrat übergeben haben«, erwiderte ein Vertreter des Atomwaffen-Forschungsinstituts Sarowa südlich von Nischni Nowgorod. Er war weniger Ingenieur als ein Wissenschaftler, der Nuklearwaffenprogramme außerhalb der Sowjetunion im Auge behielt. »Ich habe die Berechnungen selbst ausgeführt. Es ist zwar theoretisch möglich, daß sie mehr hergestellt haben, aber was man uns aushändigte, ist geringfügig mehr als die Menge an Pu239, die ähnliche Reaktoren hier bei uns produzieren. Ich glaube also, daß wir den Gesamtvorrat haben.«

»Das habe ich alles gelesen. Warum sind Sie jetzt hier?«

»Weil die Verfasser der ersten Studie etwas übersehen haben.«

»Und was wäre das?« fragte der Erste Stellvertretende Vorsitzende des Komitees für Staatssicherheit.

»Tritium.«

»Helfen Sie meinem Gedächtnis nach.« Golowko war ein erfahrener Diplomat und Nachrichtendienstler, aber kein Kernphysiker.

Der Experte aus Sarowa hatte schon seit Jahren nicht mehr über die Grundlagen der Physik referiert. »Die Zusammensetzung des Wasserstoffatoms ist ganz simpel: ein positiv geladenes Proton, ein negativ geladenes Elektron. Fügt man ein Neutron hinzu, das keine elektrische Ladung hat, erhält man Deuterium oder schweren Wasserstoff. Ein weiteres Neutron ergibt Tritium, auch überschwerer Wasserstoff genannt, mit der Massenzahl drei. Ganz einfach dargestellt: Neutronen bilden die Grundlage von Kernwaffen. Befreit man sie aus dem Verbund mit dem Wasserstoffatom, werden sie abgestrahlt, bombardieren andere Atomkerne und setzen weitere Neutronen frei. Dies führt zu einer Kettenreaktion, bei der gewaltige Energien frei werden. Tritium ist nützlich, weil das Wasserstoffatom normalerweise überhaupt keine Neutronen enthält. Es ist auch instabil und zerfällt innerhalb einer bestimmten Zeitspanne. Seine Halbwertzeit beträgt 12,3 Jahre«, erklärte er. »Bringt man also Tritium in eine konventionelle Atombombe ein, beschleunigen oder verstärken die zusätzlichen Neutronen den Spaltungsprozeß in der Reaktionsmasse Plutonium oder Uran um einen Faktor von vierzig bis fünfzig, was eine wesentlich bessere Ausnutzung schweren spaltbaren Materials wie Plutonium oder angereichertem Uran ermöglicht. Außerdem setzt eine in Relation zur Ladung entsprechend positionierte Tritiummenge – in diesem Fall als ›Primärladung‹ bezeichnet – den Spaltungsprozeß in Gang. Dies kann natürlich auch mit anderen Methoden erreicht werden. Zu bevorzugen wären Lithiumdeuterid oder Lithiumhydrid, die stabiler sind, aber Tritium hat nach wie vor seine Anwendung bei bestimmten Waffen.«

»Und wie stellt man Tritium her?«

»Indem man Lithium-Aluminium in einem Reaktor der Neutronenbestrahlung aussetzt. Das Tritium bildet sich dann in Form kleiner, facettierter Blasen im Metall. Meiner Meinung nach haben die Deutschen in Greifswald auch Tritium produziert.«

»Wirklich? Welche Beweise haben Sie?«

»Wir analysierten das Plutonium, das man uns übergab. Plutonium hat zwei Isotope, Pu239 und Pu240. Aus ihrem relativen Mengenverhältnis läßt sich auf den Neutronenfluß im Reaktor schließen. Irgend etwas reduzierte diesen Neutronenfluß. Und dieses Etwas war wahrscheinlich – oder fast bestimmt – Tritium.«

»Sind Sie da ganz sicher?«

»Der physikalische Prozeß ist komplex, aber eindeutig. In vielen Fällen kann man anhand der Ratio verschiedener Materialien in einer Plutoniumbombe den Reaktor bestimmen, in dem sie hergestellt wurde. Meine Leute und ich sind uns unserer Schlußfolgerung recht sicher.«

»Diese Reaktoren unterlagen doch der internationalen Inspektion, oder? Wird die Tritiumproduktion denn nicht überwacht?«

»Die Deutschen umgingen einige Plutoniuminspektionen, und Tritium steht überhaupt nicht unter internationaler Kontrolle. Selbst wenn es Kontrollen gäbe, wäre die Tarnung der Tritiumproduktion ein Kinderspiel.«

Golowko stieß einen unterdrückten Fluch aus. »Um welche Mengen geht es?«

Der Wissenschaftler zuckte mit den Achseln. »Unmöglich zu sagen. Der Reaktor ist inzwischen stillgelegt, und wir haben keinen Zugang mehr.«

»Gibt es noch andere Anwendungsbereiche für Tritium?«

»Gewiß, es hat einen hohen Verkaufswert. Es ist phosphoreszierend, leuchtet also im Dunkeln. Es wird für Zifferblätter, Visiere, Instrumente und alle möglichen anderen Geräte verwendet und ist sehr wertvoll, wie ich sagte – fünfzigtausend US-Dollar pro Gramm.«

Golowko fand die Abschweifung verblüffend. »Moment mal«, sagte er. »Wollen Sie etwa sagen, daß unser sozialistisches Bruderland DDR nicht nur an einer Atom-, sondern auch an einer Wasserstoffbombe arbeitete?«

»Ja, das ist wahrscheinlich.«

»Und der Verbleib eines Elementes ist noch ungeklärt?«

»Korrekt – möglicherweise korrekt«, verbesserte sich der Wissenschaftler.

»Wahrscheinlich?« Als zöge man einem Kind ein Geständnis aus der Nase, dachte der Erste Stellvertretende Vorsitzende.

»Da. Angesichts der Anweisungen, die die deutschen Kollegen von Honekker erhielten, hätte ich auch so gehandelt. Überdies war die Aufgabe technisch recht einfach zu lösen. Die Reaktortechnologie hatten sie ja von uns.«

»Was haben wir uns dabei bloß gedacht!« murmelte Golowko halblaut.

»Tja, mit China haben wir denselben Fehler begangen.«

»Hat denn niemand...« setzte Golowko an, aber der Physiker unterbrach ihn.

»Warnungen gab es genug, aus meinem Institut und aus dem in Kyschtym, aber niemand hat darauf gehört. Man hielt es für politisch zweckdienlich, unseren Verbündeten diese Technologie zugänglich zu machen.« Das Wort »Verbündete« kam ohne sarkastischen Unterton heraus.

»Und Sie sind der Ansicht, daß wir etwas unternehmen sollen?«

»Wir könnten unsere Kollegen im Außenministerium um Intervention bitten, aber ich glaube, daß energischere Schritte nötig sind. Deshalb wandte ich mich an Sie.«

»Sie nehmen also an, daß die Deutschen – das neue Deutschland, meine ich – über einen Vorrat an spaltbarem Material und dieses Tritium verfügen und ein eigenes Atomwaffenarsenal herstellen können.«

»Eine reale Möglichkeit. Es gibt, wie Sie wissen, eine beträchtliche Anzahl von deutschen Kernphysikern, die im Augenblick vorwiegend in Südafrika arbeiten; für sie die beste aller Welten. Sie arbeiten zwölftausend Kilometer von der Heimat entfernt an einem Kernwaffenprogramm, lernen dort dazu und stehen auf der Gehaltsliste eines anderen Landes. Sollte das wirklich der Fall sein, stellt sich die Frage, ob wir es nur mit einem kommerziellen Unterfangen zu tun haben. Ich halte das für möglich, wahrscheinlicher aber ist, daß die Bundesregierung von dieser Affäre weiß. Und da sie keine Gegenmaßnahmen ergriffen hat, muß man davon ausgehen, daß sie diese Aktivitäten billigt. Die wahrscheinlichste Erklärung für dieses stillschweigende Einverständnis wäre die Absicht, die erworbenen Kenntnisse bei der Verfolgung ihrer nationalen Interessen einzusetzen.«

Golowko runzelte die Stirn. Sein Besucher hatte gerade drei Möglichkeiten miteinander zu einer Bedrohung verflochten. Er dachte wie ein ganz besonders argwöhnischer Geheimdienstoffizier.

»Haben Sie weitere Informationen?«

»Die Namen von dreißig Verdachtspersonen.« Er reichte eine Akte über den Tisch. »Wir sprachen mit unseren Leuten, die den Deutschen beim Bau der Anlage Greifswald halfen. Aufgrund ihrer Erinnerungen haben diese Personen am wahrscheinlichsten an dem Atomwaffenprogramm mitgearbeitet. Ein halbes Dutzend davon gilt als hochqualifiziert und gut genug, um auch bei uns in Sarowa zu forschen.«

»Hat einer von ihnen auffällige Erkundigungen...«

»Nein, und das ist auch nicht erforderlich. Physik ist Physik, Kernspaltung ist Kernspaltung. Naturgesetze lassen sich nicht geheimhalten, und damit haben wir es hier zu tun. Wenn diese Leute einen Reaktor betreiben können, sind die Besten unter ihnen in der Lage, aus dem notwendigen Material Kernwaffen zu bauen – und unser Reaktortyp gab ihnen die Fähigkeit, das erforderliche Material zu produzieren. Um diese Sache sollten Sie sich kümmern und feststellen, was die Deutschen treiben, und über was sie noch verfügen. Das jedenfalls ist mein Rat.«

»Ich habe ein paar sehr gute Leute im Direktorat T des Ersten Hauptdirektorats«, sagte Golowko. »Nachdem wir Ihre Informationen verdaut haben, werden einige bei Ihnen vorsprechen.« Sarowa war nur wenige Zugstunden von Moskau entfernt.

»Ja, ich habe mit Technologieexperten vom KGB gesprochen. Sehr tüchtige Leute. Hoffentlich haben Sie noch gute Kontakte in Deutschland.«

Darauf gab Golowko keine Antwort. Agenten hatte er genug in dem Land, aber wie viele waren umgedreht worden? Er hatte erst kürzlich die Zuverlässigkeit seiner Infiltratoren in der Stasi prüfen lassen und war zu dem Schluß gelangt, daß keinem mehr zu trauen war – besser gesagt, daß alle Vertrauenswürdigen nicht mehr in nützlichen Positionen saßen, und selbst diese... In diesem Augenblick beschloß er, die Operation nur von Russen ausführen zu lassen. »Wie lange würden sie zur Waffenherstellung brauchen, wenn sie das Material hätten?«

»Angesichts ihrer technischen Fähigkeiten und der Tatsache, daß sie als Nato-Mitglied Zugang zu amerikanischen Waffensystemen hatten, ist es nicht ausgeschlossen, daß ihr Arsenal bereits Atomwaffen enthält, die in Deutschland hergestellt wurden, und längst keine primitiven. In ihrer Lage und mit den verfügbaren speziellen Materialien hätte ich mit Leichtigkeit innerhalb weniger Monate nach der Wiedervereinigung zweiphasige Waffen herstellen können. Moderne dreiphasige... vielleicht ein Jahr später.«

»Und wo?«

»In Ostdeutschland natürlich. Dort ist es sicherer. Und wo genau?« Der Physiker dachte kurz nach. »Ich würde mir eine Werkstatt mit hochpräzisen Werkzeugmaschinen des Typs, der für die Herstellung von optischen Instrumenten benutzt wird, suchen. Das Röntgenteleskop, das wir gerade in die Umlaufbahn geschossen haben, ist ein direktes Abfallprodukt der Wasserstoffbombenforschung. In einer mehrphasigen Waffe ist die Steuerung und Dosierung von Röntgenstrahlcn nämlich von entscheidender Wichtigkeit. Über die amerikanische Bombentechnologie lernten wir aus frei zugänglichen Artikeln viel über die Bündelung von Röntgenstrahlen in astrophysischen Observationsgeräten. Wie ich bereits sagte, Physik ist Physik. Naturgesetze können nicht versteckt, sondern nur entdeckt werden; sie stehen allen offen, die intelligent und entschlossen genug sind, sie sich nutzbar zu machen.«

»Wie tröstlich«, bemerkte Golowko ungehalten. Aber auf wen oder was konnte er schon böse sein – auf diesen Mann, weil er die Wahrheit gesagt hatte, oder auf die Natur, weil sie ihre Geheimnisse preisgab? »Verzeihung, Herr Professor. Ich bin dankbar, daß Sie sich die Zeit genommen und mich auf diese Sache aufmerksam gemacht haben.«

»Mein Vater ist Mathematiklehrer und hat sein ganzes Leben in Kiew verbracht. Die Schreckensherrschaft der Deutschen hat er nicht vergessen.«

Golowko geleitete den Wissenschaftler hinaus und schaute dann aus seinem Fenster. Warum haben wir ihnen die Wiedervereinigung gestattet? fragte er sich. Haben sie immer noch Expansionsgelüste? Geht es wieder um Lebensraum, um die Vormacht in Europa? Oder plagt dich die Paranoia, Sergej? Nun, für Argwohn wurde er schließlich bezahlt. Golowko setzte sich und griff nach dem Tclcfonhörcr.

 

»Eine Kleinigkeit«, antwortete Kcitcl. »Wenn es getan werden muß, brauchen wir kein Wort mehr darüber zu verlieren.«

»Und die Männer?«

»Die habe ich, und zuverlässig sind sie auch. Alle haben im Ausland gearbeitet, überwiegend in Afrika. Alle sind erfahren. Drei Oberste, sechs Oberstleutnants, zwei Majore – alle im Ruhestand wie ich.«

»Zuverlässigkeit ist von größter Wichtigkeit«, mahnte Bock.

»Ich weiß, Günther. Jeder dieser Männer wäre irgendwann einmal General geworden. Jeder ist ein strammes Parteimitglied. Warum hat man sie wohl in den Ruhestand geschickt? Weil unser neues Deutschland ihnen nicht trauen kann.«

»Könnten Lockspitzel unter ihnen sein?«

»Ich bin hier der Geheimdienstoffizier«, erinnerte Keitel seinen Freund. »Ich rede dir nicht in deine Arbeit hinein. Kümmere dich also nicht um meine. Tut mir leid, aber die Wahl, ob du mir vertraust oder nicht, liegt bei dir.«

»Ich weiß, Erwin. Nichts für ungut. Dieses Unternehmen ist hochwichtig.«

»Das ist mir klar, Günther.«

»Bis wann ist die Sache erledigt?«

»In fünf Tagen. Ich würde mir zwar lieber mehr Zeit nehmen, bin aber darauf nicht trainiert, rasch zuzuschlagen. Die einzige Schwierigkeit ist die Beseitigung der Leiche.«

Bock nickte. Diese Frage hatte ihm nie Schwierigkeiten bereitet. Der RAF hatte sich das Problem nicht gestellt – abgesehen vom Fall der abtrünnigen Grünen, die eine Aktion verraten hatte. Sie hatte man eher aus Zufall als mit Absicht in einem Naturpark verscharrt und sie damit ihrer geliebten Umwelt zurückgegeben. Petra hatte diesen witzigen Einfall gehabt.

»Und wie lasse ich dir das Videoband zukommen?«

»Jemand wird sich hier mit dir treffen. Nicht ich, jemand anders. Steige in zwei Wochen im selben Hotel ab; man wird Kontakt mit dir aufnehmen. Verstecke die Kassette in einem Buch.«

»Gut.« Keitel fand, daß Bock die Geheimniskrämerei übertrieb; typisch für Amateure. Er als Fachmann hätte das Band einfach in eine bedruckte Hülle getan und eingeschweißt. »Ich brauche bald Geld.«

Bock gab ihm einen Umschlag. »Hier hast du hunderttausend Mark.«

»Das reicht dicke. In zwei Wochen also.« Keitel ließ Bock die Rechnung bezahlen und ging fort.

Bock bestellte sich noch ein Bier und starrte hinaus auf das kobaltblaue Meer unterm klaren Himmel. Am Horizont zogen Schiffe vorbei, darunter ein Kriegsschiff, dessen Nationalität er über die Entfernung nicht feststellen konnte. Die anderen waren einfache Frachter, unterwegs von einem unbekannten Hafen zum anderen.

Es war ein warmer, sonniger Tag mit einer kühlen Seebrise. Am nahen hellbraunen Sandstrand hatten Kinder und Pärchen ihren Spaß im Wasser. Er mußte an Petra, Erika und Ursel denken, aber niemand konnte ihm das ansehen. Die erste heftige Reaktion auf den Verlust hatte er hinter sich, das Weinen und Toben; geblieben waren tiefsitzende Gefühle wie kalte Wut und Rachegelüste. Es war ein herrlicher Tag, aber er hatte niemanden, mit dem zusammen er ihn hätte genießen können, und er würde auch die schönen Tage der Zukunft, sollten sie denn kommen, allein verbringen müssen. Für Petra gab es keinen Ersatz. Vielleicht fand er hier ein Mädchen, das er benutzen konnte, um quasi seinen Hormonhaushalt zu regulieren, aber das konnte auch nichts ändern. Kein angenehmer Gedanke. Keine Liebe, keine Kinder, keine Zukunft. Die Bar auf der Terrasse war ungefähr halb voll, vorwiegend besucht von europäischen Urlaubern und ihren Familien, die lächelnd Keo-Bier, Wein oder Brandy sour tranken und schon an das Unterhaltungsprogramm des Abends dachten, intime Dinners und anschließend die kühlen Laken, Lachen und Zuneigung – alles Dinge, die das Leben Günther Bock verwehrt hatte.

Er saß für sich und haßte seine Umgebung, musterte die Szene, als betrachte er die Tiere im Zoo. Bock verabscheute die Touristen, weil sie lachten, lächelten und ... eine Zukunft hatten. Es war einfach ungerecht. Er hatte eine Lebensaufgabe gehabt, ein Ziel, für das er gekämpft hatte. Diese Leute hatten bloß einen Beruf. Fünfzig Wochen im Jahr fuhren sie morgens zu ihrer unwichtigen Arbeit und erfüllten ihre unwichtige Funktion, um nachmittags wieder nach Hause zurückzukehren, und wie die meisten Europäer sparten sie für den alljährlichen Urlaubsspaß in der Ägäis, auf Mallorca, in Florida oder wo immer es sonst Sonne, saubere Luft und Strand gab. Ihr Leben mochte sinnlos sein, aber sie waren glücklich – anders als der einsame Mann, der unter einem weißen Sonnenschirm saß, aufs Meer hinausschaute und sein Bier trank. Ausgesprochen ungerecht. Er hatte sein Leben ihrem Wohlergehen gewidmet - und nun genossen sie, was er für sich im Sinn gehabt hatte, während ihm nichts geblieben war.

Außer seiner Mission.

Bock beschloß, sich auch bei diesem Thema nichts vorzumachen. Er haßte sie, alle miteinander. Warum sollten sie eine Zukunft haben, wenn er keine hatte? Er haßte sie, weil sie ihn und Petra und Kati und alle anderen, die gegen Unrecht und Unterdrückung kämpften, abgelehnt und damit das Böse dem Guten vorgezogen hatten. Ich bin mehr als sie, dachte Bock, und besser, als sie jemals hoffen könnten zu sein. Er konnte auf sie und ihr belangloses Leben herabschauen, und was er ihnen antat – in ihrem Interesse, wie er nach wie vor glaubte –, war allein seine Entscheidung. Pech, wenn einige dabei zu Schaden kamen. Es waren ja keine richtigen Menschen, sondern nur Schatten der Persönlichkeiten, die sie gewesen wären, wenn sie ihr Leben einer Sache gewidmet hätten. Nein, sie hatten nicht ihn ausgestoßen, sondern sich selbst, weil ihnen das faule, bequeme Leben lieber war. Wie Rindviecher, dachte Bock, oder wie Säue, und er stellte sie sich schmatzend und grunzend am Trog vor. Sollte er sich verrückt machen, nur weil einige von ihnen etwas früher als vorgesehen würden sterben müssen? fragte sich Günther. Ach wo, unwichtig, entschied er.

 

»Mister President ...«

»Ja, Elizabeth?« erwiderte Fowler und lachte leise.

»Wann hat man dir zum letzten Mal gesagt, daß du ein guter Liebhaber bist?«

»Im Kabinett bestimmt nicht.« Ihr Kopf lag auf seiner Brust, und er streichelte ihr blondes Haar. Stimmt ja auch, dachte der Präsident, ich mache das wirklich ziemlich gut. Er hatte Geduld, und das war seiner Ansicht nach bei dieser Beschäftigung das wichtigste Talent. Trotz Emanzipation und Gleichberechtigung war es die Aufgabe des Mannes, einer Frau das Gefühl zu geben, daß sie geliebt und respektiert wurde. »Und auch nicht bei Pressekonferenzen.«

»Gut, dann hörst du es von deiner Sicherheitsberaterin.«

»Danke für das Kompliment, Frau Doktor Elliot.« Beide lachten herzhaft. Elizabeth hob den Kopf, um ihn zu küssen, und streifte dabei mit ihren Brüsten seine Haut. »Bob, du weißt ja nicht, wieviel du mir bedeutest.«

»Vielleicht doch«, wandte der Präsident ein.

Elliot schüttelte den Kopf. »Diese trostlosen Jahre an der Uni. Nie Zeit, immer zu beschäftigt. Ich war Professorin und sonst nichts. So viel Zeit vergeudet...« Sie seufzte.

»Hoffen wir, daß ich die Wartezeit wert war.«

»Das warst du, und das bist du.« Sie drehte sich um, legte den Kopf an seine Schulter, und zog seine Hand über ihre Brust, bis sie an einem angenehmen Punkt ruhte. Seine Rechte fand eine ähnliche Stelle, und Liz hielt seine Hände fest.

Und was sage ich jetzt? fragte sich Liz. Sie hatte die Wahrheit gesprochen. Bob Fowler war ein behutsamer, geduldiger und begabter Liebhaber. Und einen Mann, dem man so etwas sagte, selbst wenn er Präsident war, hatte man in der Hand. Sie beschloß, fürs erste einmal nichts zu sagen. Es war Zeit, ihn weiter zu genießen, und Zeit, ihre eigenen Gefühle zu prüfen. Sie starrte auf ein dunkles Rechteck an der Wand, ein Landschaftsgemälde aus den Weiten des Westens, wo sich die Rocky Mountains schroff aus der Prärie erheben. Auf den Namen des Künstlers hatte sie nie geachtet. Fowlers Hände bewegten sich sanft, erregten sie zwar nicht erneut, ließen aber kleine Wonneschauer durch ihren Körper fließen, denen sie sich passiv hingab und nur hin und wieder den Kopf bewegte, um ihm zu bedeuten, daß sie noch wach war.

Sie begann, den Mann zu lieben. Komisch, dachte sie – oder? Vieles an ihm konnte sie lieben und bewundern. Anderes verwirrte sie. Er war eine widersprüchliche Mischung aus Wärme und Kälte und hatte einen hintergründigen Humor. Viele Dinge lagen ihm sehr am Herzen, aber die Intensität seiner Gefühle schien immer von der logischen Durchdringung von Sachfrager und Prinzipien geleitet zu sein, und nicht von Leidenschaft. Er war oft verwirrt, wenn andere seine Haltung zu bestimmten Themen nicht teilten – so wie ein Mathematiklehrer nie zornig, sondern traurig und verdutzt reagierte, wenn die Schüler die Schönheit und Symmetrie der Gleichungen nicht sahen. Fowler konnte auch erstaunlich grausam und rücksichtslos sein, ohne dabei jedoch boshaft zu wirken. Wer ihm im Weg stand, wurde, so er nur konnte, vernichtet. Wie in Puzos »Pate«, dachte Liz: nichts Persönliches; es geht nur ums Geschäft. Hatte er das von den Mafiosi gelernt, die er hinter Gitter geschickt hatte? Bob Fowler konnte seine treuen Gefolgsleute eiskalt für Tüchtigkeit und Loyalität belohnen mit... wie sollte sie es beschreiben? ... der Dankbarkeit eines Buchhalters.

Und doch war er im Bett so wunderbar zärtlich. Liz schaute zur Wand und zog die Stirn kraus. Unergründlich, dieser Mann.

»Hast du den Bericht aus Japan gesehen?« fragte der Präsident und unterbrach damit Liz Elliot in ihren Gedanken.

»Hmm, gut, daß du das erwähnst. Ich bin gestern auf etwas sehr Bedenkliches gestoßen.«

»Worüber?« fragte Fowler interessiert und bewegte die Finger zielstrebiger, als wollte er ihr die Information entlocken.

»Es betrifft Ryan«, erwiderte Liz.

»Schon wieder Ryan. Was hat er jetzt angestellt?«

»Was wir über finanzielle Unregelmäßigkeiten gehört haben, stimmt, aber es sieht so aus, als hätte er sich aufgrund einer Formsache herauslaviert. In unsere Administration wäre er, mit diesem Skandalgeruch behaftet, nicht hineingekommen, aber da er seinen Posten schon hatte und protegiert wurde...«

»Es gibt solche und solche juristischen Formsachen. Was liegt noch vor?«

»Ein Sexskandal. Außerdem besteht der Verdacht, daß er private Angelegenheiten von CIA-Personal erledigen ließ.«

»Sex! Eine Schande!«

Elliot kicherte. Das gefiel ihm. »Mag sein, daß er ein außereheliches Kind hat.« Das gefiel Fowler überhaupt nicht. Die Rechte von Kindern nahm er sehr ernst. Seine Hände bewegten sich nun nicht mehr.

»Was wissen wir?«

»Nicht genug, aber wir sollten uns um die Angelegenheit kümmern«, sagte Liz und half seinen Fingern nach.

»Gut, laß das FBI diskret ermitteln«, meinte der Präsident in dem Glauben, das Thema sei nun abgeschlossen.

»Das geht nicht.«

»Wieso?«

»Weil Ryan einen vorzüglichen Draht zum FBI hat. Es ist gut möglich, daß man sich gegen die Sache sperrt oder sie unter den Teppich kehrt.«

»Bill Shaw macht so etwas nicht. Er ist einer der besten Polizisten, denen ich je begegnet bin, und läßt sich selbst von mir nicht unter Druck setzen – so gehört es sich auch.« Also wieder Logik und Prinzipien. Der Mann war unberechenbar.

»Shaw befaßte sich persönlich mit dem Fall Ryan – der Sache mit den Terroristen. Könnte der Leiter einer Ermittlungsbehörde befangen sein...«

»Stimmt«, gestand Fowler zu. Interessenkonflikte würden keinen guten Eindruck machen.

»Hinzu kommt, daß Murray, Shaws rechte Hand, dick mit Ryan befreundet ist.«

Fowler grunzte. »Was tun wir dann?«

»Wir schalten jemanden aus dem Justizministerium ein.«

»Warum nicht den Secret Service?« Fowler kannte die Antwort auf diese Frage, wollte Liz aber auf die Probe stellen.

»Das sähe zu sehr nach Hexenjagd aus.«

»Gutes Argument. Rufe morgen Greg im Justizministerium an.«

»Wird gemacht, Bob.« Zeit für einen Themenwechsel. Sie legte ihre Hand an seine Wange und küßte ihn. »Du, manchmal fehlen mir die Zigaretten sehr.«

»Eine Zigarette danach?« fragte er und zog sie fester an sich.

»Bob, mit dir glühe ich dabei ...« Sie wandte den Kopf und schaute ihm in die Augen.

»Soll ich dir Feuer geben?«

»Man sagt«, schnurrte sie und küßte ihn wieder, »daß der Präsident der Vereinigten Staaten der mächtigste Mann der Welt ist...«

»Ich gebe mein Bestes, Elizabeth.«

Eine halbe Stunde später entschied sie, daß es stimmte: Sie fing an, ihn zu lieben. Dann fragte sie sich, was er wohl für sie empfand...