33

Passagen

Es war angenehm, an diesem Samstagmorgen erst um acht Uhr und ohne einen dicken Kopf aufzuwachen. Das hatte er schon seit Monaten nicht mehr getan. Er hatte fest vor, den Tag daheim zu verbringen, und außer sich rasieren wollte er nichts tun. Die Rasur war nur nötig, weil er am Abend zur Messe gehen wollte. Ryan bemerkte bald, daß seine Kinder den Samstagvormittag vor der Glotze verbrachten und sich Zeichentrickfilme ansahen, in denen unter anderem grüne Schildkröten auftraten, die er bislang nur vom Hörensagen kannte. Nach kurzem Überlegen beschloß er, auch aufs Fernsehen zu verzichten.

»Wie fühlst du dich?« fragte er Cathy auf dem Weg in die Küche.

»Nicht übel. Ich – Mist!«

Sie hörte das unverwechselbare Zwitschern des Geheimtelefons. Ryan eilte in sein Arbeitszimmer und nahm ab.

»Dr. Ryan, der Lageraum. ›Schwertkämpfer‹.«

»Verstanden.« Ryan legte auf. »Verdammt!«

»Was gibt’s?« fragte Cathy von der Tür her.

»Ich muß ins Büro. Und morgen übrigens auch.«

»Jack, ich bitte dich -«

»Schatz, du mußt verstehen, daß ich vor meinem Abgang noch zwei Dinge zu erledigen habe. Eines ist im Augenblick akut – vergiß das am besten gleich wieder -, und da werde ich gebraucht.«

»Wo mußt du diesmal hin?«

»Nur ins Büro. Auslandsreisen sind keine geplant.«

»In der Nacht soll es viel Schnee geben.«

»Auch das noch. Na, zur Not kann ich immer noch im Büro übernachten.«

»Ich freu’ mich schon so auf den Tag, an dem du diesen verdammten Job hinschmeißt.«

»Hast du noch zwei Monate Geduld?«

»Zwei Monate?«

»Am ersten April steige ich aus. Abgemacht?«

»Jack, gegen deine Arbeit an sich habe ich nichts, aber –«

»Die Arbeitszeit stinkt dir. Mir auch. Inzwischen habe ich mich mit dem Gedanken abgefunden, dort wegzugehen und wieder ein normaler Mensch zu werden. Es muß sich vieles ändern.«

Cathy fügte sich in das Unvermeidliche und ging zurück in die Küche. Jack zog sich leger an. An Wochenenden brauchte er keinen Anzug zu tragen. Außerdem beschloß er, auf eine Krawatte zu verzichten und selbst zu fahren. 30 Minuten später war er auf der Autobahn.

 

Es war ein herrlich klarer Nachmittag über der Straße von Gibraltar. Im Norden lag Europa, im Süden Afrika. Hier hatte sich, sagten die Geologen, einmal eine Bergkette erhoben, und das Mittelmeer war eine trockene Senke gewesen, ehe der Atlantik einbrach. Von hier, aus 10 000 Meter Höhe, mußte das ein spektakuläres Schauspiel gewesen sein.

Und damals hätte er sich nicht um den zivilen Flugverkehr kümmern müssen. Nun aber hatte er eine spezielle Frequenz abzuhören, um sicherzustellen, daß ihm kein schußliger Airline-Pilot in die Quere kam. Oder, was eher möglich war, daß er nicht einer Verkehrsmaschine vor der Nase vorbeizischte.

»Ah, da ist unsere Gesellschaft«, bemerkte Robby Jackson.

»Die hab’ ich noch nie gesehen, Sir«, sagte Lieutenant Walters.

»Die«, das war der sowjetische Flugzeugträger Kusnezow, der erste richtige Träger der Flotte: 65 000 BRT, 30 Starrflügler, zehn oder mehr Hubschrauber. Seine Eskorte bildeten die Kreuzer Slawa und Marschall Ustinow und drei Zerstörer – einer der Sowremenny- und zwei der Udaloy-Klasse. Der Verband fuhr in enger Formation nach Osten und lag 200 Meilen hinter der Gruppe der Theodore Roosevelt. Ein halber Tag Entfernung oder eine halbe Stunde, dachte Robby, je nachdem, ob man flog oder durchs Mittelmeer pflügte.

»Stoßen wir mal zu und zischen vorbei?« fragte Walters.

»Nein. Wozu die Russen ärgern?«

»Die haben’s ganz schön eilig«, meinte der Kampfbeobachter, der durch ein Fernglas schaute. »Laufen 25 Knoten, würde ich sagen.«

»Vielleicht wollen sie nur die Meerenge so rasch wie möglich passieren.«

»Das bezweifle ich, Skipper. Was die wohl hier wollen?«

»Dasselbe, was wir auch tun, würden die Jungs von der Aufklärung sagen. Üben, Flagge zeigen, Freunde gewinnen.«

»Hatten Sie nicht mal einen Zusammenstoß...?«

»Ja, vor ein paar Jahren schoß mir eine Forger eine Rakete hinten rein. Ich schaffte es aber mit meiner Tomcat zurück zum Träger.« Robby machte eine Pause. »Die Russen sagten, es sei ein Versehen gewesen. Der Pilot wurde angeblich bestraft.«

»Glauben Sie das?«

Jackson warf einen letzten Blick auf den russischen Trägerverband. »Ja, das glaube ich tatsächlich.«

»Als ich das Ding zum ersten Mal sah, dachte ich gleich: Wow, da kann sich jemand ein Navy Cross verdienen.«

»Jetzt mal halblang, Shredder. Okay, wir haben sie gesehen. Fliegen wir zurück.« Robby bewegte den Knüppel, um zurück nach Osten zu kurven. Dies tat er in einem sanften Manöver und riß die Maschine nicht scharf herum, wie es ein junges Fliegeras versuchen mochte. Warum die Struktur des Vogels unnötig belasten? Lieutenant Henry »Shredder« Walters auf dem Hintersitz fand, daß der Kommandeur langsam alt wurde.

So alt nun auch wieder nicht. Captain Jackson war so wachsam wie eh und je. Weil er nicht besonders groß war, hatte er den Sitz so hoch wie möglich eingestellt und deshalb eine besonders gute Übersicht. Er schaute unablässig nach rechts und links, nach oben und unten, und einmal pro Minute auf seine Instrumente. Seine Hauptsorge waren Verkehrsmaschinen und auch Privatflugzeuge, denn es war Wochenende, und da umflogen die Leute gerne den Felsen von Gibraltar und machten Fotos. Ein Zivilist in einem Learjet konnte gefährlicher sein als eine wildgewordene Sidewinder...

»Achtung! Da kommt was aus neun!«

Captain Jackson riß den Kopf nach links. Fünfzehn Meter von ihnen entfernt war eine MiG-29 Fulcrum-N aufgetaucht, die Marineversion des besten russischen Kampfflugzeugs. Der Pilot, der Helm und Blende trug, starrte ihn an. Robby sah unter den Tragflächen vier Raketen hängen. Seine Tomcat hatte im Augenblick nur zwei.

»Kam von unten«, meldete Shredder.

»Nicht dumm.« Robby reagierte gelassen. Der russische Pilot winkte. Robby erwiderte den Gruß.

»Verdammt, der hätte uns glatt...«

»Langsam, Shredder. Ich spiele seit fast zwanzig Jahren mit dem Iwan und habe mehr Bears abgefangen, als Sie Mädchen flachgelegt haben. Das ist keine taktische Situation. Ich wollte mir nur mal ihren Verband ansehen. Und der Iwan da drüben schickte jemanden hoch, um uns zu mustern. Das geht ganz gutnachbarlich ab.« Robby drückte den Knüppel nach vorne und ging zwei Meter tiefer, weil er sich den Bauch der russischen Maschine betrachten wollte. Keine Zusatztanks, nur vier Luftkampfraketen AA-11 »Archer«, wie sie bei der Nato hießen. Der Haken am Schwanz wirkte nicht so solide wie an einem amerikanischen Jäger, und Robby fielen Meldungen ein, daß die Russen Probleme hatten. Nun, Träger waren für sie ein neues Feld, da würden sie über Jahre hinweg ihre Lektionen lernen müssen. Ansonsten sah die Maschine eindrucksvoll aus. Frisch lackiert in einem angenehmen Grau, im Gegensatz zu amerikanischen Flugzeugen, die seit einigen Jahren mit einer grauen Substanz, die Infrarotstrahlen absorbierte, beschichtet waren. Die russische Version war hübscher, die amerikanische war mehr auf Tarnung angelegt und sah ekelhaft leprös aus. Er prägte sich die Nummer am Seitenleitwerk ein, um sie der Aufklärung zu melden. Vom Piloten selbst, der Helm, Blende und Handschuhe trug, sah er nichts. Die Distanz von nur 15 Metern war ein bißchen riskant, aber kein Problem... vermutlich wollte der Russe nur demonstrieren, daß er ein Könner war. Robby zog seine Tomcat wieder hoch und bedankte sich bei dem Russen mit einer Geste für dessen stetigen Kurs. Wieder wurde der Gruß erwidert.

Na, Kollege, wie heißt du wohl? dachte Robby. Er hätte auch gerne gewußt, was der Russe von der kleinen Flagge unterm Cockpit hielt, die einen Sieg im Luftkampf anzeigte. Und unter ihr stand MiG-29, 17. 1. 91. Sei also lieber nicht ganz so großspurig, Iwan, dachte er.

 

Als die 747 nach dem langen Flug über den Pazifik aufsetzte, dachte Clark, daß die Besatzung nun sicherlich Erleichterung verspüren würde. Zwölfstündige Flüge mußten unangenehm sein, besonders, wenn man am Ende in einem Smogkessel landete. Die Maschine rollte aus, drehte dann und hielt an einer von einer Militärkapelle, Soldaten in Ehrenformation, Zivilisten und dem unvermeidlichen roten Teppich markierten Stelle.

»Wenn ich so lange im Flugzeug gehockt hab’, bin ich total fertig und krieg’ überhaupt nichts mehr auf die Reihe«, merkte Chavez leise an.

»Dann bewerben Sie sich lieber nicht um die Präsidentschaft«, versetzte Clark.

Die Treppen wurden herangerollt, und die Türen öffneten sich. Die Kapelle stimmte ein Stück an, das die beiden CIA-Leute über die Entfernung nicht deutlich hören konnten. Die üblichen Fernsehteams flatterten herum. Der japanische Ministerpräsident wurde vom mexikanischen Außenminister begrüßt, hörte sich eine kurze Rede an, hielt selbst eine kleine Ansprache, inspizierte die Ehrenkompanie, die sich 90 Minuten die Beine in den Bauch gestanden hatte, und tat dann zum ersten Mal an diesem Tag etwas Vernünftiges: Er bestieg eine Limousine, um sich zu seiner Botschaft bringen zu lassen, wo er eine Dusche oder ein heißes Bad zu nehmen gedachte. Die Japaner haben wohl das beste Mittel gegen die Auswirkungen einer langen Flugreise, dachte Clark – sie legen sich in über vierzig Grad heißes Wasser und lassen sich genüßlich einweichen. Das glättete die Hautfalten und entspannte die Muskeln. Eigentlich schade, daß die Amerikaner das noch nicht gelernt hatten. Zehn Minuten nach der Abfahrt des letzten Würdenträgers marschierten die Soldaten ab, der rote Teppich wurde eingerollt, und man rief das Wartungspersonal zur Maschine.

Der Pilot sprach kurz mit dem Chefmechaniker. Eines der vier großen Pratt & Whitney-Triebwerke lief eine Spur zu heiß. Ansonsten hatte er keine Klagen. Dann ging die Besatzung weg, um sich auszuruhen. Drei Männer von der Sicherheit bezogen vor dem Flugzeug ihre Posten. Zwei weitere marschierten in der Kabine auf und ab. Clark und Chavez traten ein, zeigten mexikanisehen und japanischen Beamten ihre Ausweise und machten sich an die Arbeit. Ding begann in den Toiletten und war ganz besonders gründlich, weil er wußte, daß die Japaner es mit der Sauberkeit sehr genau nehmen. In der Kabine brauchte man nur einmal zu schnüffeln, um zu wissen, daß Japaner während des Fluges rauchen durften. Jeder Aschenbecher mußte inspiziert werden, und über die Hälfte war zu leeren und zu reinigen. Zeitungen und Zeitschriften wurden eingesammelt. Ein anderer Trupp staubsaugte.

Als Clark vornein das Spirituosenfach schaute, kam er zu dem Schluß, daß die Hälfte aller Passagiere mit einem Kater angekommen sein mußte. Zufrieden stellte er fest, daß die Techniker in Langley korrekt vorhergesagt hatten, welche Whiskymarke JAL gerne servierte. Schließlich betrat er das Oberdeck hinter der Kanzel. Es stimmte genau mit der Computersimulation überein, die er sich vor dieser Reise stundenlang betrachtet hatte. Als er mit dem Säubern fertig war, konnte er sicher sein, diese Aktion mit Leichtigkeit durchziehen zu können. Er half Ding, die Müllsäcke hinauszutragen, und verließ die Maschine. Auf dem Weg zu seinem Mietwagen steckte er einem CIA-Mann von der Station Mexiko einen Zettel zu.

 

»Verdammt noch mal!« fluchte Ryan. »Und das kam übers Außenministerium?«

»Jawohl, Sir, auf Direktor Cabots Anweisung hin über eine Faxleitung. Er wollte die Zeit für die Transkription sparen.«

»Hat sich Sam Yamata denn nicht die Mühe gemacht, ihn über Datumsgrenzen und Zeitzonen aufzuklären?«

»Leider nicht.«

Es war nun sinnlos, den Mann von der Japan-Abteilung weiter anzufauchen. Ryan las die Seiten noch einmal durch. »Nun, was halten Sie davon?«

»Ich finde, daß der Ministerpräsident in einen Hinterhalt läuft.«

»Der Ärmste«, merkte Ryan sarkastisch an. »Schicken Sie das mit Boten ins Weiße Haus. Der Präsident wird es sofort sehen wollen.«

»Wird gemacht.« Der Mann entfernte sich. Nun wählte Ryan das Direktorat Operationen an. »Was macht Clark?« fragte er ohne Umschweife.

»Alles in Butter, sagte er, er sei jetzt bereit, die Sachen in die Maschine zu schmuggeln. Die Flugzeuge mit den Empfängern sind alle startklar. Die Pläne des japanischen Premiers haben sich, soweit wir wissen, nicht geändert.«

»Ich danke Ihnen.«

»Bis wann sind Sie heute im Haus?«

Jack schaute aus dem Fenster. Es hatte bereits zu schneien begonnen. »Vielleicht bis morgen.«

Man konnte sich auf etwas gefaßt machen. Vom Mittleren Westen her einströmende Kaltluft traf auf ein Tief, das von Süden her die Küste hochzog. In Washington kommen die schwersten Schneestürme immer von Süden, und der Wetterdienst sagte bis zu zwanzig Zentimeter Schnee voraus. Noch vor wenigen Stunden hatte er nur zehn prophezeit. Jack konnte entweder sofort heimfahren und sich dann am Morgen durch verschneite Straßen kämpfen oder in Langley bleiben. Letztere Option war bedauerlicherweise die bessere.

 

Auch Golowko war in seinem Büro, obwohl es in Moskau schon acht Stunden später war. Diese Tatsache verbesserte Sergejs miserable Laune nicht.

»Nun?« fragte er den Mann vom Kommunikations-Aufklärungsstab.

»Wir haben mal wieder Glück gehabt. Dieses Dokument wurde als Fernkopie von der amerikanischen Botschaft in Tokio nach Washington gesandt.« Er reichte Golowko den Bogen.

Das glatte Papier aus dem Thermoprinter war vorwiegend von einem Wirrwarr aus unleserlichen und leserlichen, aber isolierten Buchstaben bedeckt, ganz abgesehen von den schwarzweißen Flecken, die von Störungen erzeugt wurden. Aber ungefähr 20 Prozent der Zeichen waren verständliches Englisch, darunter zwei komplette Sätze und ein ganzer Absatz.

»Nun?« fragte Golowko wieder.

»Als ich es der Japan-Abteilung mit der Bitte um einen Kommentar vorlegte, erhielt ich dies.« Ein weiteres Dokument ging von Hand zu Hand. »Ich habe den betreffenden Absatz angestrichen.«

Golowko las den russischen Text und verglich ihn dann mit dem englischen –

»Verflucht, das ist ja eine Übersetzung! Auf welchem Weg wurde unser Dokument gesandt?«

»Mit Botschaftskurier. Es ging nicht über die Leitung, weil zwei Chiffriermaschinen in Tokio repariert wurden und der Resident die Nachricht für nicht so dringend hielt. So landete sie in der Diplomatenpost. Die Amerikaner haben unsere Chiffre zwar nicht geknackt, sich das hier aber trotzdem verschafft.«

»Wer bearbeitet diesen Fall...? Lyalin? Ja«, sagte Golowko fast zu sich selbst. Dann rief er den ranghöchsten Wachoffizier im Ersten Hauptdirektorat an. »Oberst, hier Golowko. Bitte schicken Sie eine Blitzmeldung an den Residenten Tokio. Lyalin hat sich sofort in Moskau einzufinden.«

»Was ist passiert?«

»Wir haben wieder eine undichte Stelle.«

»Lyalin ist ein sehr tüchtiger Offizier. Ich kenne das Material, das er liefert.«

»Und die Amerikaner auch. Lassen Sie die Meldung sofort herausgehen. Und dann möchte ich alles sehen, was wir von DISTEL haben.« Golowko legte auf und sah den Major an, der vor seinem Schreibtisch stand. »Was hätte ich vor fünf Jahren für diesen Mathematiker gegeben, der das alles ausgetüftelt hat!«

»Er arbeitete zehn Jahre an seiner Theorie, wie Ordnung in ein Chaos zu bringen ist. Sollte sie jemals veröffentlicht werden, verleiht man ihm bestimmt die Max-Planck-Medaille. Auf der Grundlage der Arbeit von Mandelbrot in Harvard und MacKcnzic in Cambridge -«

»Ich glaub’s Ihnen ja, Major. Sie haben schon einmal versucht, mir diese Hexerei zu erklären, und für mich kam außer Kopfschmerzen nichts dabei heraus. Wie geht Ihre Arbeit voran?«

»Wir werden jeden Tag besser. Nur das neue System, das die CIA gerade einführt, können wir nicht knacken. Es scheint auf einem neuen Prinzip zu basieren. Aber wir arbeiten an einer Lösung.«

 

Präsident Fowler bestieg den VH-3-Hubschrauber der Marines, ehe der Schneesturm zu heftig wurde. Der unten olivgrün und oben weiß lackierte VH-3 trug sonst kaum Markierungen und stand ausschließlich ihm zur Verfügung. Sein Rufzeichen war »Marine One«. Elizabeth Elliot stieg gleich nach ihm ein, wie die Pressevertreter feststellten. Die Liaison mußte bald gemeldet werden, dachten einige. Oder vielleicht nahm ihnen der Präsident die Arbeit ab, indem er das Biest heiratete.

Der Pilot, ein Lieutenant-Colonel der Marines, brachte die beiden Turbinen auf Volleistung, zog dann sachte am Knüppel, ließ die Maschine abheben und nach Nordwesten abdrehen. Bei diesem Wetter konnte er sich nur noch nach den Instrumenten richten, was er äußerst ungern tat. Normalerweise hatte er nichts dagegen, blind und nur nach Instrumenten zu fliegen, aber mit dem Präsidenten an Bord... Fliegen bei Schneetreiben war so ungefähr das Unangenehmste, das es gab. Externe visuelle Referenzen gab es nicht mehr. Wenn er durch die Windschutzscheibe starrte, konnte sich selbst der erfahrenste Pilot binnen kürzester Zeit in ein desorientiertes, luftkrankes Nervenbündel verwandeln. So konzentrierte er sich lieber auf seine Instrumente. In den Drehflügler waren alle möglichen Sicherheitseinrichtungen eingebaut, darunter Antikollisionsradar, und er hatte die volle Aufmerksamkeit zweier leitender Luftlotsen. Auf perverse Art war dies ein sicherer Flugmodus. Bei klarem Wetter mochte ein Irrer mit einer Cessna versuchen, Marine One in der Luft zu rammen, und der Colonel übte für solche Fälle regelmäßig Ausweichmanöver, sowohl in der Luft als auch im Simulator des Stützpunkts Anacostia.

»Der Wind kommt rascher als erwartet auf«, bemerkte der Kopilot, ein Major.

»Über den Bergen kann’s Turbulenzen geben.«

»Wir hätten etwas früher starten sollen.«

Der Pilot stellte seine Sprechanlage an, so daß er mit den beiden Agenten des Secret Service hinten im Hubschrauber verbunden war. »Bitte sorgen Sie dafür, daß alle fest angeschnallt sind. Es wird böig.«

»Gut, danke«, erwiderte Pete Connor und überzeugte sich davon, daß die Gurte stramm saßen. Alle an Bord waren zu flugerfahren, um sich Sorgen zu machen, aber Pete zog wie jeder andere einen ruhigen Flug vor. Der Präsident wirkte, wie er sah, ganz entspannt und las eine Akte durch, die erst wenige Minuten vor dem Start eingetroffen war. Auch Connor machte es sich gemütlich. Er und Helen D’Agustino waren für ihr Leben gern in Camp David. Eine Kompanie ausgewählter Scharfschützen von den Marines sicherte die Einfriedung des Anwesens. Zusätzlich war das beste elektronische Warnsystem installiert, das Amerika je gebaut hatte. Und weitere Sicherheit boten die üblichen Agenten des Secret Service. Niemand sollte an diesem Wochenende das Grundstück betreten oder verlassen, abgesehen vielleicht von einem CIA-Boten, der dann mit dem Auto kam. Wir können uns also alle entspannen, dachte Connor, inklusive der Präsident und seine Freundin.

»Das wird immer dichter. Die Wetterfrösche sollen mal den Kopf aus dem Fenster stecken.«

»20 Zentimeter sagten sie voraus.«

»Ich setze einen Dollar auf 30.«

»Wenn es ums Wetter geht, wette ich nie gegen Sie«, erinnerte der Kopilot den Colonel.

»Klug von Ihnen, Scotty.«

»Morgen abend soll es aufklaren.«

»Auch das glaube ich erst, wenn ich es sehe.«

»Und die Temperaturen sollen bis auf – 20 Grad fallen.«

»Das glaube ich«, sagte der Pilot und prüfte Höhenmesser, Kompaß und den künstlichen Horizont. Dann schaute er wieder nach draußen, sah aber nur Schneeflocken in den vom Rotor erzeugten Turbulenzen tanzen. »Wie schätzen Sie die Sichtweite ein?«

»Bestenfalls 30 Meter... hier und dort vielleicht auch 40...« Der Major wandte den Kopf, um den Colonel anzugrinsen, doch das Grinsen verging ihm, als er daran dachte, daß die Maschine vereisen könnte. »Außentemperatur?« murmelte er vor sich hin.

»Minus zwölf«, sagte der Colonel, ehe sein Kopilot aufs Thermometer schauen konnte.

»Steigend?«

»Ja. Gehen wir ein bißchen tiefer.«

»Scheißwetter. Typisch Washington.«

Dreißig Minuten später kreisten sie über Camp David. Blinkleuchten markierten den Landeplatz – nach unten war die Sicht besser als in jede andere Richtung. Der Pilot schaute nach hinten auf die Fahrwerksverkleidung. »Wir haben inzwischen etwas Eis auf der Außenhaut, Colonel. Bringen wir den Vogel lieber runter, ehe etwas Unangenehmes passiert. Wind 30 Knoten aus drei-null-null.«

»Das zusätzliche Gewicht macht sich langsam bemerkbar.« Unter ungünstigen Witterungsbedingungen konnten sich fast 200 Kilo Eis pro Minute an dem VH-3 bilden. »Scheiß-Meteorologen. Okay, Landezone in Sicht.«

»70 Meter, Eigengeschwindigkeit 30 Knoten«, las der Major von den Instrumenten ab. »50 bei 25 ... 35 bei knapp 20... sieht gut aus... 17 Meter und null über Grund...«

Der Pilot nahm die zyklische Steuerung etwas zurück. Der Luftstrudel des Rotors wirbelte nun den Schnee am Boden auf; ein häßliches Phänomen, das man »Whiteout« nannte. Die soeben erst ausgemachten visuellen Referenzpunkte verschwanden sofort wieder. Die Besatzung fühlte sich, als befände sie sich in einem Tischtennisball. Dann drückte eine Bö den Hubschrauber nach links und brachte ihn in Schräglage. Der Blick des Piloten zuckte sofort zum künstlichen Horizont. Die Abweichung von der Waagerechten kam unerwartet und war sehr gefährlich. Er bewegte die zyklische Steuerung, um die Maschine auszurichten und knallte die Blattwinkelsteuerung zum Boden. Besser eine harte Landung riskieren, als mit den Rotorblättern Bäume streifen, die er nicht sehen konnte. Der Hubschrauber plumpste wie ein Stein – gerade einen Meter tief. Ehe die Passagiere an Bord begriffen, daß etwas nicht stimmte, war der Helikopter sicher am Boden.

»Sehen Sie, und deswegen dürfen Sie den Chef fliegen«, sagte der Kopilot. »Sauber, Colonel.«

»Ich glaube, es ist was kaputtgegangen.«

»Glaube ich auch.«

Der Pilot schaltete die Sprechanlage ein. »Tut mir leid. Über dem Landeplatz erwischte uns eine Bö. Ist hinten alles in Ordnung?«

Der Präsident war schon aufgestanden und schaute nun ins Cockpit. »Sie hatten recht, Coloncl. Wir hätten früher abfliegen sollen. Meine Schuld«, sagte Fowler liebenswürdig und dachte: Macht nichts, ich freu’ mich auf das Wochenende.

Die Camp-David-Mannschaft öffnete die Tür des Hubschraubers. Ein geschlossener HMMWV fuhr vor, damit der Präsident und sein Anhang nicht durch die Kälte laufen mußten. Als das Geländefahrzeug anrollte, sprang die Besatzung aus der Maschine und untersuchte die Schäden.

»Dacht’ ich’s mir doch.«

»Dosierbolzen?« Der Major beugte sich vor und schaute genauer hin. »Klar, keine Frage.« Bei der harten Landung war ein Bolzen, der die Wirkung des rechten Stoßdämpfers regulierte, gebrochen.

»Ich gehe mal nachsehen, ob wir ein Ersatzteil haben«, sagte der Chief und mußte zehn Minuten später überrascht feststellen, daß kein Ersatz an Bord war. Ärgerlich. Er rief Anacostia an und ließ einen Satz Bolzen mit dem Auto schicken. Bis die Teile eintrafen, war nichts zu machen. Im Notfall war der Hubschrauber natürlich flugfähig. Einige Scharfschützen von den Marines bewachten wie immer die Maschine, und ein anderes Team ging im Wald um den Landeplatz Streife.

 

»Was gibt’s, Ben?«

»Gibt’s hier einen Schlafsaal?« fragte Goodley.

Jack schüttelte den Kopf. »Sie könnnen sich aber auf die Couch in Nancys Zimmer legen. Was macht Ihr Papier?«

»Ich arbeite die Nacht durch. Mir ist gerade etwas eingefallen.«

»Und das wäre?«

»Es klingt vielleicht ein bißchen verrückt – aber es hat niemand nachgeprüft, ob diese Gespräche zwischen unserem Freund Kadischow und Narmonow überhaupt stattgefunden haben.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Narmonow war den größten Teil der letzten Woche nicht in Moskau. Wenn das Gespräch nicht stattfand, lügt Kadischow uns an, oder?«

Jack schloß die Augen und neigte den Kopf. »Nicht übel, Dr. Goodley, nicht übel.«

»Was Narmonow vergangene Woche tat, wissen wir. Nun lasse ich Kadischows Aktivitäten überprüfen, und zwar bis in den August zurück. Wenn wir ihn schon durchleuchten, können wir das ruhig gründlich tun. Aus diesem Grund werden Sie mein Positionspapier wohl ein wenig später bekommen, aber dieser Einfall kam mir als letzter – heute früh. Ich habe den ganzen Tag lang versucht, diesen Verdacht zu erhärten, aber das ist schwerer, als ich geglaubt habe.«

Jack wies auf das Schneegestöber draußen. »Sieht so aus, als säße ich für eine Weile hier fest. Brauchen Sie Hilfe?«

»Das wäre angenehm.«

»Gut, aber essen wir erst einmal was zu Abend.«

 

Oleg Juriewitsch Lyalin bestieg die Maschine nach Moskau mit gemischten Gefühlen. Er war zwar schon öfter einmal in die Zentrale zitiert worden, aber daß der Ruf so kurz nach seinem Treffen mit dem CIA-Direktor kam, beunruhigte ihn. Nun, vielleicht war das nur ein Zufall. Vermutlich ging es um die Informationen, die er Moskau über die USA-Reise des japanischen Premiers geliefert hatte. Eine Überraschung, die er der CIA nicht verraten hatte, war Japans Vorschlag an die Sowjetunion, Hochtechnologie gegen Erdöl und Holz zu tauschen. Eine solche Übereinkunft hätte die Amerikaner noch vor wenigen Jahren sehr aufgebracht; sie war die Krönung eines Projekts, an dem Lyalin seit fünf Jahren gearbeitet hatte. Er machte es sich auf seinem Sitz bequem und entspannte sich. Schließlich hatte er sein Land ja nie verraten.

 

Die Übertragungswagen waren in zwei Gruppen geparkt. Elf Fahrzeuge der Fernsehanstalten standen an der Stadionmauer; 200 Meter weiter waren 31 kleinere Transporter gruppiert, die wohl Lokalsendern gehörten und Satellitenantennen auf den Dächern hatten. Der erste Schneesturm hatte aufgehört, und nun räumte eine ganze Panzerdivision von schweren Schneepflügen den riesigen Parkplatz.

Das ist der richtige Platz, dachte Ghosn, gleich neben der »A«-Einheit von ABC. Dort war eine 20 Meter breite Lücke. Die laschen Sicherheitsmaßnahmen erstaunten ihn. Er zählte nur drei Polizeifahrzeuge, deren Besatzungen wohl lediglich die Aufgabe hatten, Betrunkene von den TV-Teams fernzuhalten. Wie sicher sich die Amerikaner fühlten! Die Russen hatten sie gezähmt, den Irak niedergeschlagen, seinem eigenen Volk den Frieden aufgezwungen, und nun waren sie so ruhig und gelassen, wie eine Nation es nur sein konnnte. Ihre Bequemlichkeit müssen sie über alles lieben, dachte Ibrahim. Selbst ihre Stadien waren zum Schutz gegen die Witterung überdacht und beheizt.

»Die Dinger schmeißt’s um wie Dominosteine«, bemerkte Marvin, der am Steuer saß.

»Und ob«, stimmte Ghosn zu.

»Glaubst du jetzt, was ich über die Sicherheit gesagt habe?«

»Es war falsch, an deinem Wort zu zweifeln, mein Freund.«

»Vorsicht kann nie schaden.« Russell fuhr ein weiteres Mal um das Stadion herum. »Wir kommen durch dieses Tor und stellen uns einfach in die Lücke.« Die Scheinwerfer erhellten die wenigen Flocken der zweiten Schneefront. Für heftigen Schneefall sei es zu kalt, hatte Russell erklärt. Kanadische Kaltluft strömte nach Süden, erwärmte sich über Texas und führte dort und nicht in Denver, wo nach Ghosns Schätzung bereits ein halber Meter Schnee lag, zu Niederschlägen. Die Räumtrupps waren tüchtig; wie sonst überall schätzten die Amerikaner auch auf den Straßen den Komfort. Kaltes Wetter – einfach das Stadion überdachen. Schnee auf den Straßen – weg damit. Lästige Palästinenser - stopf ihnen mit Geld den Mund. Sein Gesicht verriet nicht, daß er Amerika in diesem Augenblick haßte wie nie zuvor. Was immer dieses Land auch tat, verriet seine Macht und Arroganz. Es schützte sich vor allen Unannehmlichkeiten, großen und kleinen, und trompetete dies auch noch in alle Welt hinaus.

Bei Allah, diesen Koloß zu stürzen!

 

Das Kaminfeuer war angenehm warm. Das Haus des Präsidenten in Camp David war im traditionellen amerikanischen Stil aus dicken, übereinanderliegenden Balken erbaut, innen aber mit einer Panzerung aus Kevlar gesichert. Die Fensterscheiben bestanden aus kugelfestem Polycarbonat. Die Einrichtung war ein kurioser Mischmasch aus ultramodern und ultrabequem. Vor der Couch, auf der Fowler saß, standen drei Drucker, über die Meldungen der drei großen Nachrichtenagenturen laufen konnten, denn seine Vorgänger hatten das gerne gesehen. Auf einem der drei großen Fernseher im Raum war meist CNN eingestellt. Heute abend aber nicht; der Sender seiner Wahl war der auf Spielfilme spezialisierte Kabelkanal CINEMAX. Eine halbe Meile entfernt befand sich eine diskret versteckte Antennenfarm, wo die Signale aller kommerziellen und militärischen Satelliten empfangen wurden. Über dieses teuerste und exklusivste Kabelsystem der Welt hatte Fowler Zugang zu allen Unterhaltungskanälen  – selbst jenen, die Pornos brachten, für die er sich nicht interessierte.

Fowler griff nach einer Flasche und schenkte sich ein Bier ein; Dortmunder Union, eine beliebte deutsche Marke, die von der Air Force eingeflogen wurde. Als Präsident genießt man angenehme und inoffizielle Privilegien. Liz Elliot trank französischen Weißwein, und Fowler spielte mit ihrem Haar.

Der Film war eine belanglose Liebeskomödie, die Bob Fowler gefiel. Die Hauptdarstellerin erinnerte ihn in Aussehen und Eigenheiten an Liz. Ein bißchen zu patzig, ein bißchen zu herrisch, aber doch mit Qualitäten, die das wieder wettmachten. Nun, da Ryan fort war – oder bald ging –, beruhigte sie sich vielleicht ein wenig.

»Für uns ist alles gut gelaufen, meinst du nicht auch?«

»Ja, Bob.« Sie hielt inne und trank einen Schluck Wein. »Was Ryan angeht, hattest du recht. Es ist besser, ihn in Ehren ziehen zu lassen.« Hauptsache, er ist weg vom Fenster mit seinem mickrigen Hausdrachen, dachte sie.

»Das höre ich gern. Ryan ist nicht schlecht, aber altmodisch.«

»Total überholt«, fügte Liz hinzu.

»Richtig. Aber warum reden wir eigentlich von ihm?« fragte der Präsident.

»Ich könnte mir was Angenehmeres vorstellen.« Sie wandte den Kopf und küßte seine Hand.

»Ich auch«, murmelte der Präsident und stellte sein Glas ab.

 

»Die Straßen sind zu«, berichtete Cathy. »Du hast wohl das Richtige getan.«

»Ja, draußen auf dem Parkway vor dem Tor hat’s gerade gewaltig gekracht. Morgen abend komme ich heim. Notfalls schnappe ich mir einen von den Allradwagen aus der Tiefgarage.«

»Wo ist John?«

»Der ist im Augenblick nicht hier.«

»So?« sagte Cathy und dachte: Und was treibt der jetzt wohl für wilde Sachen?

»Da ich nun einmal hier bin, kann ich einiges erledigen. Ich rufe morgen früh wieder an.«

»Gut, tschüs.«

»Das ist ein Aspekt dieses Jobs, den ich nicht vermissen werde«, sagte Jack zu Goodley. »So, und was haben Sie zusammengetragen?«

»Wir konnten alle Begegnungen bis zurück in den September verifizieren.«

»Sie sehen so aus, als wollten Sie gleich umfallen. Wie lange sind Sie jetzt auf den Beinen?«

»Seit gestern wohl.«

»In den Zwanzigern schafft man das noch. Aber nun hauen Sie sich draußen auf die Couch«, befahl Ryan.

»Und Sie?«

»Ich will das hier noch einmal durchlesen.« Jack klopfte auf eine Akte auf seinem Schreibtisch. »Mit dieser Sache haben Sie noch nichts zu tun. Los, legen Sie sich aufs Ohr.«

»Bis morgen dann.«

Die Tür schloß sich hinter Goodley. Jack machte sich an die Dokumente, verlor aber bald die Konzentration. Er schloß die Akte in seinen Schreibtisch ein und legte sich ebenfalls hin, konnte aber nicht einschlafen. Nachdem er ein paar Minuten lang die Decke angestarrt hatte, beschloß er, sich etwas weniger Langweiliges anzusehen, und schaltete den Fernseher ein. Eigentlich wollte er Nachrichten sehen, drückte aber auf der Fernbedienung einen falschen Knopf und erwischte das Ende eines Werbeblocks auf Kanal 20, ein unabhängiger Sender in Washington. Ehe er den Fehler korrigieren konnte, kam das Programm zurück. Er erkannte den Schwarzweißfilm nicht sofort. Mit Gregory Peck und Ava Gardner... Schauplatz Australien.

»Aber klar«, sagte Ryan zu sich selbst. Das letzte Ufer. Diesen Klassiker aus der Zeit des kalten Krieges nach dem Buch von Nevil Shute hatte er seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.

Der Streifen zeigte die Folgen eines Atomkriegs. Jack war überrascht, wie todmüde er sich fühlte. Er begann zu schlafen und doch nicht zu schlafen. Der Film drang in sein Bewußtsein ein und setzte sich als Traum in Farbe fort, was allemal besser war als die alte Schwarzweißkopie im Fernsehen. Jack Ryan begann mehrere Rollen zu übernehmen. Er steuerte Fred Astaires Ferrari in dem blutigen und letzten australischen Grand Prix. Er fuhr nach San Francisco mit USS Sawfish, SSN-623 (Moment, widersprach sein Verstand, 623 ist die Nummer eines anderen U-Bootes, USS Nathan Hale?). Und das Morsesignal und die Colaflasche auf dem Fensterbrett waren gar nicht komisch, denn es bedeutete, daß er mit seiner Frau die Tasse Tee trinken mußte und das wollte er nicht weil dann auch die Tablette in Babys Fläschchen mußte damit das Kleine auch starb aber seine Frau brachte das noch nicht fertig immerhin war sie Ärztin und er mußte wie immer die Verantwortung übernehmen schade daß er Ava Gardner am Strand zurückließ da schaute sie ihm nach wie er in See stach damit er mit seinen Männern in der Heimat sterben konnte wenn sie es schafften was unwahrscheinlich war die Straßen waren nun so leer. Cathy und Sally und der kleine Jack nun alle tot alles seine Schuld weil er ihnen die Pillen gegeben hatte damit sie nicht an etwas anderem starben was noch schlimmer war aber das war dumm und falsch obwohl es keine Alternative gab oder vielleicht doch einfach die Pistole –

Jack stieß einen Schrei aus und fuhr hoch. Fassungslos starrte er seine zitternden Hände an. Ein böser Traum, bei dem es diesmal nicht um Buck und John im Hubschrauber gegangen war. Er war noch schlimmer gewesen.

Ryan griff nach der Packung und steckte sich eine Zigarette an; dann stand er auf. Es schneite immer noch. Unten auf dem Parkplatz kam der Räumtrupp nicht nach. Es dauerte eine Weile, bis er die Traumbilder von seiner sterbenden Familie abgeschüttelt hatte. Diese Alpträume kamen nun zu häufig. Ich muß hier raus, dachte er. Zu viele unangenehme Erinnerungen. Sein Fehler vor dem Angriff auf seine Familie, der Kampf im U-Boot, die Nacht auf dem Flughafen Scheremetjewo, als er in die Mündung der Pistole des guten alten Sergej Nikolajewitsch gestarrt hatte, und, am schlimmsten, die Flucht aus Kolumbien mit dem Hubschrauber. Es war einfach zuviel. Zeit zum Aussteigen. Im Grunde taten ihm Fowler und sogar Liz Elliot einen Gefallen.

Ob sie das nun wußten oder nicht.

Wie schön die Welt draußen war. Er hatte seinen Part gespielt, sie ein kleines bißchen besser gemacht und anderen geholfen, sie weiter zu verbessern. Der Film, den er gerade durchlebt hatte, diese Hölle, hätte auf die eine oder andere Weise durchaus Wirklichkeit werden können. Inzwischen war das ausgeschlossen. Draußen sah es weiß und sauber aus; die Laternen auf dem Parkplatz erhellten den Schnee gerade noch und ließen alles viel hübscher als sonst aussehen. Seine Aufgabe war erfüllt. Nun konnte sich jemand anderes an den einfacheren Problemen versuchen.

»Ja.« Jack blies den Rauch aus dem Fenster. Erst mußte er sich das einmal abgewöhnen; darauf würde Cathy bestimmt bestehen. Und dann? Ein langer Urlaub im kommenden Sommer, vielleicht in England – und vielleicht mit dem Schiff anstatt mit dem Flugzeug? In Europa herumkurven, vielleicht den ganzen Sommer lang. Wieder ein freier Mensch sein. Am Strand spazierengehen. Irgendwann aber mußte er sich wieder eine Beschäftigung suchen. Die Marineakademie Annapolis – nein, die schied aus. Bei einer privaten Gruppe? Vielleicht lehren, in Georgetown etwa?

»Einführung in die Spionage«, sagte er laut und lachte vor sich hin. Genau, er wollte Vorlesungen über alle illegalen Aktivitäten halten.

Wie hatte James Greer in diesem miesen Gewerbe so lange durchhalten können? fragte sich Jack. Wie war er mit dem Streß fertiggeworden? Diese Weisheit hatte er nie weitergegeben. Jack legte sich wieder schlafen, schaltete diesmal aber vorsorglich den Fernseher aus.