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Datenfusion
»Ich habe meine Meinung geäußert, Bart, das ist alles«, sagte Jones auf der Fahrt zum Flugplatz.
»Steht es denn so schlimm?«
»Die Mannschaft haßt ihn, und das Übungsprogramm, das sie gerade hinter sich hat, brachte sie noch mehr auf. Ich war selbst mit dem Sonarteam im Simulator, Ricks war auch da. Mit diesem Mann möchte ich nicht arbeiten. Er hat mich fast angebrüllt.«
»Wirklich?« Davon war Mancuso überrascht.
»Ja. Er sagte etwas eindeutig Falsches, und Sie hätten seine Reaktion sehen sollen, als ich ihn darauf hinwies. Er sah aus, als bekäme er gleich einen Schlaganfall. Dabei war er im Irrtum. Wir arbeiteten mit meinem Band, und er fing an, seine Leute zu schikanieren, weil sie ein Signal übersehen hatten, das nicht existierte. Ich ließ eines meiner Trickbänder laufen. Die Männer durchschauten den Schwindel, Ricks aber nicht, und da fing er an zu toben. Bart, seine Sonarabteilung ist gut. Ricks weiß mit diesen Männern als Team zwar nichts anzufangen, aber macht ihnen zu gerne Druck. Wie auch immer, als er fort war, fingen die Jungs an zu murren. Und das ist nicht das einzige Team, dem er das Leben schwermacht. Wie ich höre, springen die Ingenieure im Dreieck, um diesem Clown nach der Nase zu tanzen. Stimmt es, daß er bei der Reaktorprüfung die Bestnote bekommen hat?«
Mancuso, der das nur ungern hörte, nickte trotzdem. »Ein Rekord wurde nur um ein Haar verpaßt.«
»Dieser Mann ist nicht an Rekorden interessiert, sondern will den Begriff Perfektion neu definieren. Eines kann ich Ihnen sagen: Wenn ich auf seinem Boot wäre, flöge schon nach der ersten Fahrt mein Seesack aus der Luke. Eher desertierte ich, als für diesen Schinder zu arbeiten!« Jones war zu weit gegangen. »Den Wink, den Ihnen sein IA gab, habe ich mitbekommen. Damals dachte ich sogar, daß er ein bißchen übertrieb. Das war ein Irrtum. Claggett ist sehr loyal. Ricks haßt einen jungen Offizier, der meist am Kartentisch Dienst tut. Der Steuermannsmaat, der Ensign Shaw ausbildet, hält ihn für einen hellen Jungen, aber der Skipper hackt unablässig auf ihm herum.«
»Klingt ja phantastisch. Und was soll ich tun?«
»Keine Ahnung, Bart. Vergessen Sie nicht, daß ich als E-6 den Dienst verließ.« Lös den Widerling ab, dachte Jones, wußte aber, daß das nicht so einfach war. Es mußte ein triftiger Grund vorliegen.
»Ich werde mit ihm reden«, versprach Mancuso.
»Von Skippcrn dieses Schlages hab’ ich zwar gehört, aber nie geglaubt, daß es sie wirklich gibt. Im Dienst bei Ihnen bin ich wohl verwöhnt worden«, bemerkte Dr. Jones, als sie sich dem Terminal näherten. »Sie haben sich überhaupt nicht verändert und hören immer noch zu, wenn jemand ein Anliegen hat.«
»Das muß ich auch tun, Ron. Ich kann ja nicht alles wissen.«
»Leider denkt nicht jeder so. Einen Vorschlag hätte ich noch.«
»Sie meinen, ich sollte ihn nicht auf die Jagd schicken?«
»An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun.« Jones öffnete die Wagentür. »Ich will nicht den Miesmacher spielen, Skipper, aber das ist meine Empfehlung als Fachmann. Ricks ist seiner Aufgabe nicht gewachsen und längst nicht so gut, wie Sie einmal waren.«
Einmal waren. Wie herzlos, dachte Mancuso, aber wie wahr. Ein Boot war einfacher zu kommandieren als ein Geschwader, und man hatte auch mehr Spaß dabei. »Wenn Sie Ihren Flug nicht verpassen wollen, müssen Sie sich beeilen.« Mancuso streckte die Hand aus.
»Es war mir wie immer ein Vergnügen, Skipper.«
Mancuso sah ihn in die Abflughalle gehen. Jones hatte ihm nie einen falschen Rat gegeben und war inzwischen sogar noch gewitzter geworden. Schade, daß er nicht bei der Marine geblieben und Offizier geworden war. Falsch, dachte der Commodore dann. Jones hätte einen erstklassigen Kommandanten abgegeben, aber das System hätte ihm die Chance verweigert.
Ohne auf eine Anweisung zu warten, fuhr der Chauffeur zurück und überließ Mancuso im Fond seinen Gedanken. Das System hatte sich nicht genug verändert. Er selbst war auf die traditionelle Art aufgestiegen: U-Boot-Schule, eine Dienstzeit als Ingenieur, anschließend das Kommando auf seinem eigenen Boot. In der Navy gab es zu viele Ingenieure und zu wenig Leute mit Führungsqualitäten. Er hatte sich, wie übrigens die meisten Skipper, zum guten Vorgesetzten gemausert, aber es kamen immer noch zu viele Leute in verantwortliche Positionen, für die Menschen Objekte waren, über die man verfügte, Maschinen, die man einfach reparierte. Jim Rosselli und Bart Mancuso gehörten nicht zu dieser Gruppe, aber Harry Ricks.
So, und was tu’ ich jetzt? fragte sich Mancuso.
Zuallererst einmal hatte er keinen triftigen Grund, Ricks abzulösen. Wäre die Geschichte nicht von Jones gekommen, hätte er sie als das Ergebnis interpersoneller Spannungen abgetan. Aber Jones war ein zuverlässiger Beobachter. Mancuso dachte über seine Bemerkungen nach und brachte sie in einen Zusammenhang mit den ungewöhnlich zahlreichen Versetzungsanträgen und Dutch Claggetts zweideutigen Worten. Der IA war in einer heiklen Lage. Er war schon für sein eigenes Kommando ausgewählt worden ... aber ein negatives Urteil von Ricks konnte diese Chance zunichte machen; andererseits hatte er geschworen, Schaden von Schiff und Mannschaft zu wenden. Seine Stellung verlangte Loyalität dem Kommandanten gegenüber; die Marine verlangte die Wahrheit. Claggett befand sich in einer unmöglichen Situation und hatte getan, was er konnte.
Die Verantwortung lag bei Mancuso. Er war der Geschwaderkommandeur, die Skipper und Mannschaften »gehörten« ihm. Ihm oblag auch die Beurteilung der Kommandanten. Und hier mußte er ansetzen.
Aber war an der Sache überhaupt etwas dran? Mehr als anekdotische Informationen und Zufallswerte lagen ihm nicht vor. Was, wenn Jones nur eine Aversion gegen den Mann hatte? Was, wenn die Versetzungsanträge nur ein statistisches Zusammentreffen von Ereignissen waren?
Du weichst dem Kern der Frage aus, Bart, dachte Mancuso. Für schwierige Entscheidungen wirst dubezahlt. Fähnriche und Chiefs tun wie geheißen, hohe Offiziere müssen wissen, was sie zu tun haben. Das war eine der unterhaltsameren Erfindungen bei der Navy.
Mancuso griff nach dem Autotelefon. »Der Kommandant der Maine soll in dreißig Minuten in mein Büro kommen.«
»Jawohl, Sir«, antwortete sein Verwaltungsunteroffizier.
Mancuso schloß die Augen und verbrachte den Rest der Fahrt dösend. Nichts klärte den Verstand besser als ein Nickerchen. Das hatte auf USS Dallas immer gewirkt.
Igitt, Krankenhausessen, dachte Cathy. Selbst in der Uniklinik Hopkins gab es diesen Fraß. Irgendwo mußte es eine spezielle Schule für Krankenhausköche geben, deren Lehrplan die Eliminierung jedweder neuen Idee, den Ausschluß aller Gewürze und die Negation jedes kreativen Rezepts vorsah. Das einzige, das diese Schöpfer dröger Matschepampe nicht ruinieren konnten, war Wakkelpudding aus der Packung.
»Bernie, ich brauche deinen Rat.«
»Wo drückt der Schuh, Cathy?« Ihre Miene und ihr Tonfall hatten ihm schon verraten, worum es ging. Er wartete geduldig. Cathy hatte ihren Stolz, und dieses Geständnis mußte ihr schwerfallen.
»Es geht um Jack«, stieß sie hervor und schwieg dann wieder.
Katz empfand den Schmerz, den er in ihren Augen sah, fast körperlich. »Geht er etwa fremd?«
»Wie bitte? Nein... woher weißt du das?«
»Cathy, das darf ich dir eigentlich nicht sagen, aber wir sind so gute Freunde, daß ich auf die Vorschriften pfeife. Letzte Woche war jemand hier und hat sich nach dir und Jack erkundigt.«
Das machte alles noch schlimmer. »Wie meinst du das? Wer war hier? Und woher kam er?«
»Von der Regierung, ein Ermittlungsbeamter. Tut mir leid, Cathy, aber er wollte wissen, ob ihr Familienproblcmc habt. Der Mann durchleuchtet Jack und fragte mich, ob ich etwas mitbekommen hätte.«
»Und was hast du ihm gesagt?«
»Daß mir nichts aufgefallen sei. Ich habe dich als Menschen sehr gelobt und meine das auch ernst. Cathy, du stehst nicht allein. Du hast Freunde, die alles tun, um dir zu helfen. Wir sind wie eine Familie. Du fühlst dich bestimmt verletzt, und die Sache muß dir schrecklich peinlich sein. Das ist falsch.« In ihren hübschen blauen Augen standen nun Tränen, und Katz verspürte in diesem Augenblick das Verlangen, Jack Ryan umzubringen – am liebsten auf dem Operationstisch und mit einem kleinen, sehr scharfen Skalpell. »Cathy, wenn du dich abkapselst, kann dir niemand helfen. Wozu hast du Freunde? Keine Angst, du stehst nicht allein.«
»Bernie, ich kann es einfach nicht glauben!«
»Komm, gehen wir in mein Zimmer, da können wir ungestört reden. Das Essen ist heute sowieso ekelhaft.« Katz führte sie unauffällig hinaus. Zwei Minuten später waren sie in seinem Sprechzimmer. Er nahm einen Stapel Patientenakten vom zweiten Sessel und ließ sie Platz nehmen.
»In letzter Zeit ist er irgendwie anders.«
»Glaubst du wirklich, daß Jack dich betrügt?« Cathy ließ sich mit der Antwort Zeit. Katz sah, wie sie den Blick hob und senkte und dann zu Boden schaute, sich der Realität stellte.
»Ja, ausgeschlossen ist das nicht.«
Schwein! dachte Katz und sagte: »Hast du mit ihm darüber gesprochen?« Sein Ton war leise und sachlich, aber nicht unbeteiligt. Cathy brauchte nun einen Freund, und geteilter Schmerz ist halber Schmerz.
Ein Kopfschütteln. »Nein, ich weiß nicht, wie ich das Thema anschneiden soll.«
»Dir ist doch selbst klar, daß du ihn zur Rede stellen mußt.«
»Ja«, hauchte sie.
»Einfach wird das nicht. Andererseits«, sagte Katz mit einem hoffnungsvollen Unterton, »kann das Ganze auch nur ein dummes Mißverständnis sein.« Was er selbst nicht einen Moment lang glaubte.
Als sie aufsah, rannen ihr die Tränen übers Gesicht. »Bernie, stimmt was nicht mit mir?«
»Unsinn!« Katz hätte beinahe geschrien. »Cathy, für mich bist du der beste Mensch in der ganzen Klinik. Du bist völlig in Ordnung, klar? Was auch immer passiert sein mag, ist nicht deine Schuld!«
»Bernie, ich will noch ein Kind, ich will Jack nicht verlieren...«
»Wenn das dein Ernst ist, mußt du ihn zurückgewinnen.«
»Das geht nicht! Er will, er kann nicht...« Nun löste sie sich ganz auf.
An diesem Punkt spürte Katz, daß Zorn kaum Grenzen kennt, und die Tatsache, daß er ihn in sich hineinfressen mußte, weil ihm ein Ziel fehlte, machte es noch schlimmer – aber Cathy brauchte nun einen Freund und keinen Ankläger.
»Dutch, dieses Gespräch ist inoffiziell.«
Lieutenant Commander Claggett war sofort auf der Hut. »Sicher, Commodore.«
»Ich möchte wissen, was Sie von Captain Ricks halten.«
»Sir, er ist mein Vorgesetzter.«
»Das ist mir klar, Dutch«, meinte Mancuso. »Immerhin befehlige ich das Geschwader. Wenn einer meiner Skipper ein Problem hat, ist auch eines meiner Boote gefährdet. Ein einziges Ohio kostet eine Milliarde, und wenn es Probleme gibt, muß ich das erfahren. Ist das klar, Commander?«
»Jawohl, Sir.«
»Gut, dann schießen Sie los. Das ist ein Befehl.«
Dutch Claggett setzte sich kerzengerade auf und begann rasch: »Sir, der könnte kein Dreijähriges aufs Klo führen. Die Männer behandelt er wie Roboter. Er verlangt viel, lobt nie, selbst wenn die Leute alles geben. Solche Methoden sind mir bei der Ausbildung nicht beigebracht worden. Er hört auf niemanden, auch nicht auf mich. Schön, er führt den Befehl, und das Boot gehört ihm. Aber ein cleverer Skipper hat ein offenes Ohr.«
»Ist das der Grund für die vielen Versetzungsanträge?«
»Ja, Sir. Er machte dem Ersten Torpedomann das Leben zur Hölle – meiner Ansicht nach grundlos. Chief Getty zeigte Initiative, hatte seine Waffen bereit und seine Leute gut ausgebildet. Aber Captain Ricks gefielen seine Methoden nicht, und deshalb ritt er auf ihm herum. Ich riet ihm davon ab, aber der Captain hörte nicht auf mich. So beantragte Getty seine Versetzung, der Skipper war froh, ihn loszuwerden, und gab sein Plazet.«
»Haben Sie Vertrauen zu ihm?« fragte Mancuso.
»In der Technik kennt er sich aus; als Ingenieur ist er ein Genie. Leider hat er weder von Menschen noch von Taktik eine Ahnung.«
»Mir sagte er, er wolle das Gegenteil beweisen. Kann er das?«
»Sir, nun gehen Sie zu weit. Ich bezweifle, daß ich das Recht habe, diese Frage zu beantworten.«
Mancuso wußte, daß das stimmte, ließ aber nicht locker. »Sie sollen für ein Kommando qualifiziert sein, Dutch. Da können Sie sich ruhig an schwere Entscheidungen gewöhnen.«
»Ob er es kann? Ja, Sir. Boot und Besatzung sind gut. Was er nicht fertigbringt, tun wir für ihn.«
Der Commodore nickte und schwieg kurz. »Falls es Probleme mit Ihrer nächsten Beurteilung geben sollte, wenden Sie sich an mich. Ich halte Sie für einen besseren IA, als Ricks verdient hat, Commander.«
»Sir, er ist kein schlechter Mensch. Er soll ein guter Vater sein und hat eine liebe Frau. Leider hat er nie gelernt, mit Menschen umzugehen. Trotz alledem ist er ein fähiger Offizier, und wenn er sich ein bißchen menschlicher gäbe, wäre er ein Star.«
»Was halten Sie von Ihrem Einsatzbefehl?«
»Wenn wir ein Akula orten, verfolgen wir es aus sicherer Distanz. Finde ich gut, Commodore. Wir sind so leise, daß wir uns keine Sorgen zu machen brauchen. Ich war überrascht, daß die Bürokraten in Washington diesen Plan genehmigten. Auf den Punkt gebracht: Dieses Boot kann jeder fahren. Gut, Captain Ricks mag nicht perfekt sein, aber solange unser Boot nicht kaputtgeht, könnte sogar Popeye den Auftrag ausführen.«
Die Sekundärladung wurde vor der ersten eingebaut. Ein 65 Zentimeter hoher und elf Zentimeter starker Metallzylinder, der an eine 105-Millimeter-Kartusche erinnerte, enthielt die Lithiumverbindungen. Am unteren Ende hatte er sogar einen vorstehenden Rand, damit er genau an seinen Platz paßte. Unten war auch ein kleines, gekrümmtes Rohr angeschweißt, das ihn mit dem Tritiumreservoir verbinden sollte. Die Außenseite war mit Lamellen aus abgebranntem Uran 238 besetzt, die Fromm an dicke schwarze Kekse erinnerten. Diese sollten natürlich in Plasma verwandelt werden. Unter dem Zylinder befanden sich die ersten Bündel »Trinkhalme« – selbst Fromm nannte sie inzwischen so. Je hundert 60 Zentimeter lange Röhrchen bildeten ein von dünnen, aber starken Distanzscheiben aus Kunststoff zusammengehaltenes und an den Enden um 90 Grad verdrehtes Bündel, das in etwa die Form einer Wendeltreppe hatte. Die Herausforderung bei diesem Teil der Konstruktion war die exakte Anordnung dieser räumlichen Spiralen, und Fromm hatte für die Lösung dieses scheinbar trivialen Problems zwei volle Tage gebraucht. Nun aber paßte alles perfekt zusammen und sah aus wie... einfach wie eine Masse von Trinkhalmen. Beinahe hätte der Deutsche lachen müssen. Fromm prüfte mit Maßband, Mikrometer und fachmännischem Blick alles nach – an vielen Teilen waren Gradeinteilungen cingeschliffen worden, was Ghosn sehr beeindruckt hatte – und begann dann, als er zufrieden war, den nächsten Schritt. Zuerst kamen die präzise geschnittenen Blöcke aus Kunststoffschaum in die elliptische Bombenhülle. Fromm und Ghosn taten nun alle Arbeit selbst. Vorsichtig und behutsam setzten sie den ersten Block zwischen die Flansche im Innern der Hülle. Anschließend kamen die Halmbündel und wurden übereinander eingepaßt. Nach jedem Schritt hielten die beiden Männer inne und prüften ihre Arbeit. Fromm und Ghosn betrachteten sich die Teile, schauten auf den Bauplan, prüften die Anordnung noch einmal und verglichen sie ein zweites Mal mit dem Plan. Für Bock und Kati, die aus einiger Entfernung zuschauten, war das die langweiligste Prozedur, die sie je erlebt hatten.
»Die Leute, die das in Amerika und Rußland tun, müssen vor Langeweile sterben«, bemerkte der Deutsche leise.
»Kann ich mir denken.«
»Nächstes Bündel: Nummer 36«, sagte Fromm.
»Sechsunddreißig«, bestätigte Ghosn und prüfte die drei Etiketten am nächsten Bündel aus hundert Halmen. »Bündel 36.«
»Sechsunddreißig«, wiederholte Fromm mit einem Blick auf die Etiketten, nahm das Teil und setzte es ein. Es paßte perfekt, wie Kati, der näher gekommen war, feststellte. Die geschickten Hände des Deutschen bewegten das Teil ein wenig, damit die Nuten der Spannvorrichtung in die Schlitze des darunterliegenden Zusammenbaus glitten. Als Fromm zufrieden war, schaute Ghosn nach.
»Position korrekt«, sagte er vielleicht zum hundertsten Mal an diesem Tag.
»Stimmt«, meinte Fromm, und dann wurde das Teil mit Draht an seinem Platz fixiert.
»Als baute man eine MP zusammen«, flüsterte Kati Günther zu, nachdem er sich von der Werkbank entfernt hatte.
»Nein.« Bock schüttelte den Kopf. »Schlimmer noch. Das ist, als baute man ein kompliziertes Spielzeug zusammen.« Die beiden schauten sich an und fingen an zu lachen.
»Genug!« rief Fromm gereizt. »Das ist eine diffizile Arbeit! Wir brauchen Ruhe. Nächstes Bündel, Nummer 37!«
»Siebenunddreißig«, bestätigte Ghosn pflichtgemäß.
»Das ist ja schlimmer als eine Zangengeburt!« tobte Kati, als sie draußen waren.
Bock steckte sich eine Zigarette an. »Nein. Bei Frauen geht das schneller.«
Kati lachte wieder und wurde dann ernst. »Eigentlich schade.«
»Stimmt. Sie haben gute Arbeit geleistet. Wann ist es soweit?«
»Sehr bald.« Kati machte eine Pause. »Günther, Ihre Rolle ist... sehr gefährlich.«
Bock tat einen tiefen Zug und blies den Rauch in die kalte Luft. »Der Plan ist schließlich von mir. Ich kenne die Risiken.«
»Von Himmelfahrtskommandos halte ich nichts«, bemerkte Kati nach einer Weile.
»Ich auch nicht. Die Sache ist gefährlich, aber ich werde wohl überleben. Ismael, wenn wir ein sicheres Leben hätten führen wollen, säßen wir in Büros und wären uns nie begegnet. Ich habe Petra und meine Töchter verloren. Nur meine Mission ist mir geblieben. Ich will zwar nicht behaupten, daß das genug ist, aber habe ich nicht mehr als die meisten Menschen?« Günther schaute auf zu den Sternen. »Wie oft habe ich mich gefragt: Wie verändert man die Welt? Bestimmt nicht, indem man an seine Sicherheit denkt. Was wir tun, kommt den Zahmen zugute, die die herrschenden Zustände verfluchen, aber nicht den Mut zum Handeln haben. Wir sind die Männer der Tat, wir nehmen die Risiken auf uns, stellen uns der Gefahr, nehmen für andere Entbehrungen auf uns. Das ist unsere Aufgabe. Für Zweifel ist es jetzt viel zu spät, mein Freund.«
»Günther, für mich ist das leichter, denn ich muß sowieso bald sterben.«
»Ich weiß.« Bock drehte sich um und schaute seinen Freund an. »Wir müssen uns alle auf das Ende gefaßt machen. Wir haben beide dem Tod zu oft ein Schnippchen geschlagen. Irgendwann holt er uns ein – und bestimmt nicht im Bett. Wir haben beide diesen Weg gewählt. Können wir jetzt noch umkehren?«
»Nein, ich nicht. Aber es ist hart, dem Tod ins Gesicht zu sehen.«
»Wahr.« Günther warf seinen Zigarettenstummel auf den Boden. »Aber wenigstens wissen wir, was uns bevorsteht. Die anderen, die kleinen Leute, wissen das nicht. Wer sich für Passivität entscheidet, wählt auch die Unwissenheit. Entweder ist man ein Instrument des Schicksals, oder man wird sein Opfer. Diese Wahl kann jeder selbst treffen.« Bock führte seinen Freund zurück ins Haus. »Unsere Entscheidung steht fest.«
»Bündel 38!« schnauzte Fromm, als sie eintraten.
»Achtunddreißig«, bestätigte Ghosn.
»Ja, Commodore?«
»Nehmen Sie Platz, Harry. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.«
»Die Mannschaft ist bereit, das Sonarteam auf Draht.«
Mancuso schaute seinen Untergebenen an und fragte sich, an welchem Punkt die Machermentalität zur Lüge wird. »Die vielen Versetzungsanträge auf Ihrem Boot machen mir etwas Kummer.«
Ricks ging nicht in die Defensive. »Die meisten Anträge wurden aus familiären Gründen gestellt. Leute, die mit ihren Gedanken anderswo sind, soll man nicht halten. Ein statistischer Zufall, wie ich ihn schon einmal erlebt habe.«
Erstaunt mich nicht, dachte Mancuso und fragte: »Wie ist die Moral der Mannschaft?«
»Sie haben die Ergebnisse der Übungen und Sicherheitsprüfungen gesehen und können sich daraus wohl ein Bild machen«, erwiderte Captain Ricks.
Schlitzohr, dachte Mancuso. »Gut, Harry, lassen Sie mich deutlicher werden. Sie hatten eine Meinungsverschiedenheit mit Dr. Jones.«
»Und?«
»Und ich habe mit ihm darüber gesprochen.«
»Wie offiziell ist dieses Gespräch?«
»So inoffiziell, wie Sie wollen, Harry.«
»Gut. Ihr Dr. Jones ist ein recht guter Techniker, aber er scheint vergessen zu haben, daß er die Marine als Mannschaftsgrad verließ. Wer mit mir wie mit einem Gleichgestellten reden will, sollte etwas geleistet haben.«
»Der Mann hat am California Institute of Technology seinen Doktor in Physik gemacht, Harry.«
Ricks schaute verdutzt drein. »Und?«
»Und? Er ist einer der klügsten Leute, die ich kenne, und war der beste Mannschaftsgrad, dem ich je begegnet bin.«
»Schön, aber wenn Mannschaftsgrade so klug wie Offiziere wären, würden sie besser bezahlt.« Dieser Gipfel der Arroganz brachte Mancuso auf.
»Captain, als ich Kommandant der Dallas war, hörte ich zu, wenn Jones etwas sagte. Hätten sich die Dinge anders entwickelt, wäre er inzwischen Erster Offizier und bekäme bald sein eigenes Jagd-U-Boot. Ron hätte einen erstklassigen Kommandanten abgegeben.«
Ricks tat das ab. »Es kam aber anders. Ich war schon immer der Auffassung, daß nur die Tüchtigen es schaffen. Der Rest läßt sich Ausreden einfallen. Na schön, er ist ein guter Techniker, das will ich nicht bestreiten. Er hat in meiner Sonarabteilung gute Arbeit geleistet, und dafür bin ich ihm dankbar, aber heben wir ihn doch nicht in den Himmel. Techniker und Berater gibt es wie Sand am Meer.«
Mancuso erkannte, daß er mit diesem Mann so nicht weiterkam. Es war an der Zeit, ihm klipp und klar zu sagen, worum es ging. »Harry, mir ist zu Ohren gekommen, daß es um die Moral auf Ihrem Boot nicht zum besten steht. Für mich sind die vielen Versetzungsanträge ein Hinweis auf Probleme. Erkundigungen haben meinen Eindruck bestätigt. Sie haben ein Problem, ob Ihnen das nun klar ist oder nicht.«
»Das ist absoluter Unsinn, Sir, und erinnert mich an das Geschwätz von Suchtberatern. Erklärt jemand, der kein Trinker ist, er sei nicht alkoholabhängig, behaupten die Therapeuten, dieses Dementi sei der erste Hinweis auf die Existenz eines solchen Problems. Das ist doch ein Zirkelschluß; da beißt die Katze sich selbst in den Schwanz. Wäre die Moral auf meinem Boot schlecht, fielen die Leistungen ab. Darauf weist nichts hin. U-Boote sind mein Leben, und seitich diese Uniform anzog, gehörte ich zu den Besten der Besten. Mag sein, daß sich mein Stil von dem anderer Kommandanten unterscheidet. Ich krieche niemandem in den Arsch und verhätschle meine Männer nicht. Ich verlange und erhalte Leistung. Wenn Sie einen unbestreitbaren Beweis haben, daß ich etwas nicht richtig mache, höre ich zu, aber solange Sie den nicht beibringen, Sir, gehe ich davon aus, daß auf meinem Boot alles in Ordnung ist.«
Bartolomeo Vito Mancuso, bald Konteradmiral der US-Navy, sprang nur deshalb nicht auf, weil sein vorwiegend sizilianisches Blut nach Generationen in Amerika nicht mehr ganz so heiß war. In der alten Heimat, da war er sicher, hätte sein Ururgroßvater auf diese Beleidigung mit einer Ladung Schrot aus seiner lupara reagiert. So ließ er sich nichts anmerken und entschied eiskalt auf der Stelle, daß Ricks über den Rang eines Captains nie hinauskommen würde. Das stand in seiner Macht. Ihm unterstanden viele Kommandanten, und nur die zwei oder drei Besten kamen für die Beförderung zum Flaggoffizier in Frage. Mancuso nahm sich vor, Ricks als Viertbesten von vierzehn zu bewerten. Das war vielleicht ungerecht, erkannte Mancuso in einer Anwandlung von leidenschaftsloser Integrität, aber der Mann war für einen verantwortungsvolleren Posten nicht geeignet und vermutlich sogar schon zu hoch aufgestiegen. Natürlich würde Ricks sich lauthals und leidenschaftlich beschweren, aber Mancuso sagte dann einfach: »Tut mir leid, Harry, Sie machen Ihre Sache sehr gut, aber Andy, Bill und Chuck sind ein klein bißchen besser. Ihr Pech, daß Sie in einem Geschwader mit so vielen Assen dienen. Ich muß eine redliche Entscheidung treffen, und die drei übertreffen Sie nun mal um ein Haar...« So einfach war das.
Ricks erkannte, daß er eine Grenze verletzt hatte, daß es in der Navy »inoffizielle« Gespräche im Grunde nicht gab. Er hatte seinen Vorgesetzten herausgefordert, einen Mann, der kurz vor der Beförderung stand und den Respekt und das Ohr der Bürokraten im Pentagon und bei OP-02 hatte.
»Sir, entschuldigen Sie meine Offenheit. Niemand läßt sich gerne maßregeln, wenn er...«
Mancuso schnitt ihm lächelnd das Wort ab. »Kein Problem, Harry. Auch wir Italiener sind manchmal ein bißchen hitzig.« Zu spät, Harry, fügte er in Gedanken hinzu.
»Vielleicht haben Sie recht. Lassen Sie mich darüber nachdenken. Warten Sie, bis ich das Akula angehe, dann werden Sie schon sehen, wozu meine Leute fähig sind.«
Auf einmal redest du von »deinen Leuten«, Meister, dachte Mancuso. Zu spät. Aber er mußte ihm die Chance geben. Zumindest eine kleine Chance. Es müßte schon ein Wunder geschehen, damit Bart es sich anders überlegte. Vielleicht, sagte er sich, wenn dieses arrogante Arschloch mir am Unabhängigkeitstag, wenn der Festzug vorbeizieht, am Haupttor den Hintern küßt ...
»Solche Gespräche sind immer unangenehm«, sagte der Geschwaderchef. Ricks würde, wenn Mancuso ihn losgeworden war, als guter Fachingenieur enden, und Captain als Gipfel einer Karriere war schließlich keine Schande.
»Sonst nichts?« fragte Golowko.
»Überhaupt nichts«, erwiderte der Oberst.
»Und unser Offizier?«
»Ich überbrachte seiner Witwe vor zwei Tagen die schlechte Nachricht und mußte ihr sagen, daß die Leiche nicht geborgen werden konnte. Sie nahm es sehr schwer«, berichtete der Mann leise.
»Ist die Frage der Pension geregelt?«
»Darum kümmere ich mich selbst.«
»Gut. Diesen gefühllosen Bürokraten ist alles egal. Sollte es Probleme geben, wenden Sie sich an mich.«
»Was die technische Aufklärung betrifft, habe ich keine weiteren Vorschläge«, fuhr der Oberst fort. »Können Sie anderswo nachfassen?«
»Unser Netz auf der Hardthöhe ist immer noch im Aufbau begriffen. Vorläufige Ergebnisse weisen daraufhin, daß das neue Deutschland von dem ganzen DDR-Projekt nichts wissen will«, sagte Golowko. »Offenbar haben die amerikanischen und britischen Dienste ebenfalls Erkundigungen eingezogen und sind zu zufriedenstellenden Ergebnissen gelangt.«
»Andererseits glaube ich kaum, daß deutsche Kernwaffen den Amerikanern oder Briten ein unmittelbarer Anlaß zur Besorgnis wären.«
»Richtig. Wir forschen also weiter, obwohl ich bezweifle, daß wir etwas finden werden. Wir tasten in einem leeren Loch herum.«
»Warum wurde unser Mann dann ermordet, Sergej Nikolajewitsch?«
»Verdammt, das wissen wir immer noch nicht!«
»Na, vielleicht arbeitet er jetzt für die Argentinier...«
»Ich muß um Zurückhaltung bitten, Oberst!«
»Verzeihung, aber ein Geheimdienstoffizier wird in der Regel nicht grundlos ermordet.«
»Aber es tut sich doch gar nichts! Drei Nachrichtendienste haben geforscht, unsere Leute in Argentinien sind noch an der Arbeit...«
»Etwa die Kubaner?«
»Stimmt, für dieses Gebiet waren sie zuständig. Aber auf ihre Unterstützung können wir uns inzwischen kaum noch verlassen.«
Der Oberst schloß die Augen. Was war aus dem KGB geworden? »Wir sollten trotzdem weiterforschen.«
»Ich nehme Ihre Empfehlung zur Kenntnis. Noch ist die Operation nicht abgeschlossen.«
Als der Mann gegangen war, dachte Golowko über neue Ansatzpunkte und Wege nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Ein Gutteil seiner Leute im Außendienst schnüffelte nach Spuren, hatte aber bislang keine gefunden. Es ist in diesem erbärmlichen Gewerbe genau wie bei der Polizei, dachte er deprimiert, nichts als Dctailarbcit.
Marvin Russell ging noch einmal die Liste der Dinge durch, die er brauchte. Seine Auftraggeber waren wirklich großzügig gewesen; er hatte noch immer einen Großteil des mitgebrachten Geldes. Zwar hatte er angeboten, es bei der Operation zu verwenden, aber davon hatte Kati nichts hören wollen. In seiner Aktentasche befanden sich 40 000 Dollar in druckfrischen Zwanzigern und Fünfzigern, und wenn er in Amerika ein Haus gefunden hatte, wollte er weiteres Geld von einer englischen Bank überweisen lassen. Seine Aufgaben waren recht einfach. Zuerst brauchte er neue Papiere für sich selbst und die anderen. Das war ein Kinderspiel. Selbst ein Führerschein ließ sich leicht herstellen, wenn man die richtigen Geräte hatte, und die hatte er gegen bar erstanden. Warum er aber nicht nur ein Haus suchen, sondern zugleich auch noch ein Hotelzimmer buchen sollte, verstand er nicht. Katis Gruppe schien die Dinge gerne zu verkomplizieren.
Auf dem Weg zum Flughafen hatte er bei einem guten Schneider hereingeschaut - in Beirut mochte der Krieg toben, aber das Leben ging weiter – und sah nun, als er die Maschine der British Airways nach London-Heathrow bestieg, ausgesprochen vornehm aus. Ein neuer Anzug – zwei weitere lagen im Koffer -, ein konservativer Haarschnitt und teure Schuhe, die drückten.
»Eine Zeitschrift, Sir?« fragte die Stewardeß.
»Danke, gerne«, erwiderte Russell und lächelte.
»Sie sind Amerikaner?«
»Ja. Ich fliege heim.«
»Es muß schwierig gewesen sein für Sie im Libanon.«
»Tja, manchmal war es ziemlich aufregend.«
»Darf ich Ihnen ein Getränk anbieten?«
»Ein Bier wäre angenehm.« Russell grinste. Jetzt redete er sogar schon wie ein Geschäftsmann. Die Maschine war nur zu einem knappen Drittel besetzt, und es hatte den Anschein, als wollte diese Flugbegleiterin ihn adoptieren. Vielleicht gefalle ich ihr, weil ich so schön braun bin, dachte Russell.
»Bitte sehr, Sir. Wollen Sie lange in London bleiben?«
»Das geht leider nicht. Ich fliege gleich weiter nach Chicago und habe nur zwei Stunden Aufenthalt.«
»Wie schade.« Sie sah direkt enttäuscht aus. Was sind die Briten doch für nette Menschen, dachte Russell. Fast so gastfreundlich wie die Araber.
Kurz nach drei Uhr früh wurde das letzte Bündel eingepaßt. Fromm änderte sein Verhalten nicht im geringsten und prüfte sorgfältig den Sitz, ehe er es fixierte. Dann richtete er sich auf und streckte sich.
»Genug!«
»Finde ich auch, Manfred.«
»Morgen um diese Zeit sind wir mit der Montage fertig. Der Rest ist einfach und wird nicht mehr als vierzehn Stunden in Anspruch nehmen.«
»Gut, dann legen wir uns jetzt aufs Ohr.« Beim Hinausgehen zwinkerte Ghosn dem Kommandanten zu.
Kati schaute ihnen nach und trat dann zu einem Wächter. »Wo ist Achmed?«
»In Damaskus, beim Arzt.«
»Ach ja, stimmt. Wann kommt er wieder?«
»Morgen oder übermorgen.«
»Gut. Es gibt bald einen Sonderauftrag.«
Der Wächter warf einen Blick auf die beiden Männer, die sich von dem Gebäude entfernten, und nickte gelassen.»Wo sollen wir das Grab ausheben?«