25
Resolution
»So, und was hat es mit diesen Stämmen auf sich?« fragte der Zweite Offizier und schaute hinunter aufs Deck.
»Daraus sollen Dachbalken für einen Tempel werden. Muß ein kleines Gebäude sein«, erwiderte der Erste. »Wie hoch die See wohl noch geht...?«
»Ich wollte, wir könnten mit den Umdrehungen runtergehen, Pete.«
»Ich habe den Käpt’n zweimal gefragt, aber er sagte, er hätte einen Zeitplan einzuhalten.«
»Das soll er mal dem Pazifik erzählen.«
»Interessanter Vorschlag. Wen spricht man da an?«
Der Zweite Offizier, der Wache hatte, schnaubte. Der Erste führte auf der Brücke die Aufsicht. Eigentlich war das die Aufgabe des Kapitäns, doch der lag in seiner Koje und schlief.
MS George McReady stampfte durch zehn Meter hohe Wellen und konnte trotz voller Kraft voraus ihre Normalgeschwindigkeit von 20 Knoten nicht halten. Der Himmel war überwiegend bedeckt; nur gelegentlich brach der Vollmond durch. Das Tief füllte sich auf, aber die Windstärke blieb bei zwölf, und die See wurde noch höher. Die beiden Offiziere waren bereits zu dem Schluß gekommen, daß sie einen für den Nordpazifik typischen Sturm abzuwettern hatten. Die Lufttemperatur betrug minus zwölf Grad; Gischt gefror und prasselte wie Schrotkörner gegen die Brückenfenster. Zum Glück kam die See ziemlich von vorn. Da die George M ein Frachter war und kein Kreuzfahrtschiff, fehlten ihr Stabilisatoren, die die Schlingerbewegungen ausglichen, aber sie lag auch so erstaunlich ruhig. Der Aufbau befand sich achtern, und das dämpfte das sonst in grober See auftretende Stampfen. Andererseits aber reduzierte die achterliche Position der Brücke die Sicht aufs Vorschiff, und da es nun stark gischtete, sahen die Offiziere so gut wie überhaupt nichts.
Wenn der Bug durch eine besonders hohe See pflügte, verlangsamte sich die Fahrt des Schiffes. Doch durch seine Länge wurde der Bug rascher verzögert als das Heck, und diese gegeneinander wirkenden Kräfte ließen den Rumpf vibrieren – mehr noch, er verbog sich sogar um ein paar Zentimeter. So etwas muß man gesehen haben, um es zu glauben.
»Ich habe einmal auf einem Flugzeugträger gedient; der verbog sich in der Mitte um dreißig Zentimeter. Einmal, als wir...«
»Achtung voraus, Sir!« rief der Rudergänger.
»Scheiße!« schrie der Zweite Offizier. »Sturzsee!«
Jäh hatte sich gerade hundert Meter vor dem stumpfen Bug der George M eine 15 Meter hohe See aufgetürmt. Ganz unerwartet kam das nicht. Wellenzüge laufen unter Windeinwirkung übereinander, addieren für einen kurzen Moment ihre Höhe und brechen dann über. Die massive grüne Wand rauschte mit 50 Stundenkilometern an dem großen Frachtbaum und den Winschen vorbei. Wieder vibrierte das Schiff, nachdem der Zusammenprall des Bugs mit dem unteren Teil der Welle die Fahrt verringert hatte. Das Vorschiff war sogar noch unter Wasser, und der brechende Kamm der Sturzsee jagte nun auf den wie ein weißes Kliff senkrecht aufragenden Aufbau zu.
»Festhalten!« rief der Zweite Offizier dem Rudergänger zu.
Der Wellenkamm erreichte die Höhe der Brücke zwar nicht ganz, traf aber die Fenster der Offizierskabinen. Im Nu entstand ein vertikaler Gischtvorhang, der für eine endlos lange Sekunde alles verhüllte und dann in sich zusammensank. Danach war das Deck wieder mit Seewasser bedeckt, das durch die Speigatten abfloß. George M krängte um fünfzehn Grad und richtete sich dann wieder auf.
»Fahrt auf 16 Knoten reduzieren«, befahl der Erste Offizier.
»Aye«, bestätigte der Rudergänger.
»Solange ich auf der Brücke bin, fahren wir das Schiff nicht zu Schrott«, begründete der Erste seine Entscheidung gegen den Befehl des Kapitäns.
»Vernünftig, Pete.« Der Zweite war schon auf dem Weg zu einer Tafel, deren Instrumente Schäden und Ausfälle anzeigten. Es war alles normal. Das Schiff konnte von der Konstruktion her noch viel größere Stürme überstehen, aber die Sicherheit auf See erforderte Wachsamkeit.
Das OB-Telefon ging. »Brücke, Erster Offizier.«
»Was, zum Teufel, war das?« rief der Chefingenieur.
»’ne größere See«, gab Pete lakonisch zurück, »Probleme?«
»Allerdings. Ich hab’ gedacht, mir fliegt das Fenster ins Gesicht – ein Bullauge ist gesprungen. Wir sollten langsamer fahren. Ich habe keine Lust, mich aus dem Bett schwemmen zu lassen.«
»Habe ich bereits befohlen.«
»Gut.« Es wurde aufgelegt.
»Was gibt’s?« Der Kapitän kam in Schlafanzug und Bademantel auf die Brücke und sah gerade noch das letzte Wasser vom Deck abfließen.
»15 bis 18 Meter hohe See. Ich bin auf 16 gegangen. 20 Knoten sind unter diesen Bedingungen zu viel.«
»Da haben Sie wohl recht«, knurrte der Kapitän. Die Liegegebühren für jede zusätzliche Stunde im Hafen betrugen 15 000 Dollar, und zusätzliche Kosten gefielen den Reedern überhaupt nicht. »Steigern Sie die Umdrehungen wieder, sobald es geht.« Der Kapitän zog sich zurück, bevor seine nackten Füße zu kalt wurden.
»Aye«, sagte Pete in die Richtung, wo der Kapitän gestanden hatte.
»Fahrt 15,8 Knoten«, meldete der Rudergänger.
»Gut.« Die beiden Offiziere beruhigten sich wieder und tranken Kaffee. Der Zwischenfall war zwar nicht beängstigend, aber aufregend gewesen. Der Erste schaute hinab aufs Deck und stutzte einen Moment später.
»Scheinwerfer an!«
»Stimmt was nicht?« Der Zweite machte zwei Schritte an eine Schalttafel und knipste die Flutlichter fürs Deck an.
»Na, einer ist noch da.«
»Einer?« Der Zweite schaute hinunter. »Oho, die anderen drei sind weg.«
Der Erste schüttelte den Kopf. Wie war die Gewalt des Wassers zu beschreiben? »Das war eine starke Kette, aber die See muß sie zerrissen haben wie Garn. Beeindruckend.«
Der Zweite griff nach dem Telefonhörer und drückte auf einen Knopf. »Bootsmann, unsere Deckladung ist gerade über Bord gespült worden. Bitte, untersuchen Sie den Aufbau auf Schäden.« Daß die Prüfung von innen vorgenommen werden sollte, brauchte er gar nicht erst zu sagen.
Eine Stunde später stand fest, daß sie Schwein gehabt hatten. Die Deckladung war nur einmal gegen den Aufbau geprallt, glücklicherweise an einer mit starken Stahlträgern verstärkten Stelle. Das hatte einen leichten Schaden verursacht, der durch Schweißen und Streichen zu beheben war. Das änderte aber nichts an der Tatsache, daß noch einmal ein Baum gefällt werden mußte. Drei der vier Stammsegmente waren weg, und der japanische Tempel mußte wohl warten. Die drei noch zusammengeketteten Stämme trieben schon weit hinter der George M. Das Holz war noch frisch, saugte sich nun mit Seewasser voll und wurde dabei noch schwerer.
Cathy Ryan sah den Wagen ihres Mannes aus der Einfahrt herausrollen. Inzwischen empfand sie kein Mitgefühl mehr, sie war verletzt. Er wollte nicht darüber reden – er versuchte nicht, die Sache zu erklären, entschuldigte sich nicht, tat so, als... was? Manchmal sagte er, es ginge ihm nicht gut, er sei zu müde. Sie wollte mit ihm darüber sprechen, wußte aber nicht, wo sie ansetzen sollte. Männeregos sind zerbrechlich, wie Dr. Caroline Ryan wußte, und an diesem Punkt war Jack am verletzlichsten. Die Impotenz mußte an einer Kombination aus Streß, Erschöpfung und Alkohol liegen. Jack war schließlich keine Maschine. Er nutzte sich ab. Sie hatte die Symptome schon seit Monaten beobachtet. Der wichtigste Faktor war in ihren Augen die lange Fahrt zur Arbeit. Zweieinhalb, manchmal drei Stunden am Tag verbrachte er im Auto, und selbst die Tatsache, daß er einen Fahrer hatte, machte die Sache nicht viel besser. Drei Stunden mehr am Tag, die er arbeitend und grübelnd verbrachte und nicht zu Hause, wo er hingehörte.
Helfe ich ihm, oder mache ich alles nur noch schlimmer? fragte sie sich. Ist es auch meine Schuld?
Cathy ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Nun gut, sie war kein junges Ding mehr. Sie hatte Falten um die Mundwinkel und Krähenfüße unter den Augen. Vielleicht war es Zeit für eine neue Brille. Bei Eingriffen bekam sie in letzter Zeit Kopfschmerzen und wußte, daß das an ihren Augen liegen konnte – immerhin war sie Ophthalmologin -, aber wie allen anderen Menschen fehlte auch ihr die Zeit, und sie schob die Untersuchung bei einem Kollegen vom Wilmer-Institut immer wieder hinaus. Ganz schön dumm, gestand sie sich. Ihre Augen waren noch recht hübsch. Wenigstens hatte sich ihre Farbe nicht geändert, auch wenn die diffizile Arbeit in ihrem Beruf zu einer refraktiven Abweichung geführt haben mochte.
Sie war auch noch recht schlank. Ein, zwei Kilo weniger konnten nicht schaden – am liebsten hätte sie sie auf ihre Brüste übertragen. Sie stammte aus einer Familie, wo die Frauen oben herum nicht stark gebaut waren, und lebte in einer Welt, die Busenwunder verehrte. Ihr Witz, die Größe des Busens sei der Gehirnmasse umgekehrt proportional, war ein reiner Verteidigungsmechanismus. So wie Männer sich einen größeren Penis wünschten, hätte sie gerne dickere Brüste gehabt, aber Gott oder die Gene hatten ihr diese verweigert. Und Implantate kamen wegen der Nebenwirkungen überhaupt nicht in Frage.
Und ansonsten... ihr Haar sah wie üblich wüst aus, aber damit mußte sie sich als Chirurgin abfinden. Es war immer noch blond, fein und kurz, und wenn Jack sich einmal die Zeit zum Hinsehen nahm, gefiel es ihm. Hübsche Beine hatte sie schon immer gehabt, und da sie in der Klinik viel zu laufen hatte, waren sie sogar noch etwas fester geworden. Cathy war also durchaus noch eine recht attraktive Erscheinung. Zumindest waren ihre Kollegen in der Klinik dieser Ansicht. Sie bildete sich sogar ein, daß manche ihrer älteren Studenten sie anhimmelten. Es drückte sich jedenfalls keiner vor ihren Visiten.
Außerdem war sie eine gute Mutter. Auch wenn Sally und der kleine Jack schliefen, schaute sie immer nach ihnen. Gerade weil der Vater so selten daheim war, füllte Cathy die Lücke und spielte sogar, wenn Saison war, mit ihrem Sohn T-Ball, eine Vorstufe des Baseballspiels (das bereitete Jack, wenn er davon erfuhr, Schuldgefühle). Sie war eine gute Köchin, sofern sie Zeit dazu hatte. Was im Haus getan werden mußte, erledigte sie entweder selbst oder »delegierte« es, wie Jack sich auszudrücken pflegte.
Sie liebte ihren Mann immer noch und zeigte es ihm auch. Sie fand, daß sie Sinn für Humor hatte und sich nicht so schnell die Laune verderben ließ. Sooft sich die Gelegenheit bot, berührte sie Jack mit zärtlichen Gesten. Sie unterhielt sich mit ihm, fragte ihn nach seiner Meinung, gab ihm zu verstehen, daß er ihr nicht gleichgültig war. Er konnte also nicht bezweifeln, daß er in jeder Hinsicht ihr Mann war. Und sie liebte ihn auch in jeder Hinsicht. Cathy kam zu dem Schluß, daß sie nichts falsch machte.
Warum konnte er dann nicht?
Die Miene, die sie im Spiegel sah, war eher verwirrt als verletzt. Was kann ich denn sonst noch tun? fragte sie sich.
Nichts.
Cathy versuchte, diese Gedanken zu verdrängen. Ein neuer Tag begann. Sie mußte die Kinder für die Schule fertig machen; das Frühstück hatte also auf dem Tisch zu stehen, ehe sie aufwachten. Das war natürlich nicht fair. Sie hatte ihren Beruf als Chirurgin und Professorin, hatte aber auch ihre Mutterpflichten, die ihr Mann ihr zumindest am Beginn eines Arbeitstags nicht abnahm. Von wegen Emanzipation, dachte sie, schlüpfte in ihren Morgenmantel und ging in die Küche. Zum Glück mochten beide Kinder süßen Instant-Haferbrei. Sie brachte Wasser zum Kochen, stellte dann auf kleine Flamme und ging die Kinder wecken. Zehn Minuten später waren Sally und der kleine Jack gewaschen, angezogen und auf dem Weg zur Küche. Sally erschien zuerst und stellte den Disney-Kanal ein; dort trieben die Mäuse Frühsport. Cathy hatte für ein paar Minuten ihre Ruhe, schaute in die Morgenzeitung und trank Kaffee.
Rechts unten auf der Titelseite stand ein Artikel über Rußland. Vielleicht ist auch das ein Thema, das Jack belastet, dachte sie und beschloß, die Story zu lesen. Vielleicht konnte sie mit ihm darüber sprechen und herausfinden, warum er so ... geistesabwesend war.
»... enttäuscht über die Unfähigkeit der CIA, verläßliche Daten zu diesem Problem zu liefern. Gerüchte, daß ein hoher CIA-Beamter in dem Verdacht steht, sich finanzieller Unregelmäßigkeiten und auch unsittlichen Verhaltens schuldig gemacht zu haben, wurden von einem hohen Regierungsvertreter bestätigt. Der Name des Betreffenden wurde nicht genannt, aber es handelt sich dem Vernehmen nach um einen sehr hochgestellten Mann, der Informationen koordiniert und an die Regierung weiterleitet ...«
Unsittliches Verhalten? Was sollte das heißen. Wer war das?
Jack!
Ein sehr hochgestellter Mann, der Informationen koordiniert...
Das war Jack. Das war ihr Mann. So drückte man sich aus, wenn ein Mann seines Ranges gemeint war. Auf einmal war ihr alles klar: So mußte es sein.
Jack... geht fremd? Mein Jack?
Ausgeschlossen.
Oder?
Seine Impotenz, die Müdigkeit, das viele Trinken, die Geistesabwesenheit? Konnte er bei ihr nicht... weil er an eine andere dachte?
Unmöglich. Doch nicht Jack, ihr Jack.
Aber warum sonst...? Sie war noch attraktiv – das fanden alle in ihrer Umgebung. Sie war eine gute Ehefrau – war das zu bezweifeln? Krank war Jack nicht. Ernste Symptome wären ihr aufgefallen; immerhin war sie Ärztin. Sie gab sich alle Mühe, nett zu Jack zu sein, mit ihm zu reden, ihm zu zeigen, daß sie ihn liebte, und...
WahrscheinLich war es nicht, aber möglich?
Ja.
Nein. Cathy legte die Zeitung hin und trank einen Schluck Kaffee. Nein, ausgeschlossen. So etwas tat ihr Jack nicht.
Es war die letzte Stunde in der letzten Etappe der Fertigung. Ghosn und Fromm betrachteten die Werkzeugmaschine scheinbar uninteressiert, konnten ihre Erregung aber kaum bezähmen. Flüssiges Freon, das auf das rotierende Metall gesprüht wurde, versperrte ihnen die Sicht auf das Werkstück, das nun den letzten Arbeitsgang durchlief. Aber jenes Teil des Plutoniums, das nun bearbeitet wurde, war ohnehin hinter anderem Metall versteckt, und etwaige Unregelmäßigkeiten wären mit bloßem Auge nicht zu erkennen gewesen. Nun schauten die beiden auf die Anzeige des Computers. Die Toleranzen lagen innerhalb der von Dr. Fromm vorgeschriebenen zwölf Angström.
»Nur noch ein paar Zentimeter«, sagte Ghosn.
»Sie haben uns die Sekundärladung noch nicht erklärt«, sagte der Kommandant, der die Bombe inzwischen als »Apparat« bezeichnete.
Fromm, etwas ungehalten über die Ablenkung, drehte sich um. »Was möchten Sie wissen?«
»Wie die Primärladung funktioniert, weiß ich, aber die zweite Ladung verstehe ich nicht«, erwiderte Kati schlicht.
»Nun denn. Die Theorie ist relativ einfach, wenn man das Grundprinzip versteht, und das war nicht so leicht zu entdecken. Anfangs glaubte man, die Sekundärladung ließe sich allein mit hohen Temperaturen, wie sie in einem Stern auftreten, zünden. Ein Fehlschluß; die ersten Theoretiker übersahen den Faktor Druck. Rückblickend gesehen ist das merkwürdig, aber so etwas kommt bei Pionierarbeiten oft vor. Entscheidend für die Funktion der Sekundärladung ist die Umwandlung von Energie in Hitze und Druck zugleich und ihre Umlenkung um neunzig Grad. Und die Ablenkung von 70 Kilotonnen Energie ist keine Kleinigkeit«, sagte Fromm selbstgefällig. »Die Behauptung jedoch, die Theorie des Funktionsprinzips der Sekundärladung sei sehr komplex, ist falsch. Ulams und Tellers Erkenntnis war wie so oft ganz einfach. Druck ist Temperatur. Sie entdeckten, daß das Geheimnis gar keines ist. Hat man erst einmal die Grundprinzipien erkannt, ist der Rest eine reine Konstruktionsfrage«, schloß Fromm.
»Und was ist mit den Trinkhalmen?« erkundigte sich Bock, der wußte, daß sein Landsmann auf diese Frage wartete. Eingebildetes Arschloch, dachte er.
»Ganz sicher kann ich zwar nicht sein, aber ich halte diese Komponente für meine eigene Erfindung. Das Material ist perfekt: leicht, hohl und ohne Schwierigkeiten in die richtige Form zu biegen.« Fromm ging an die Werkbank und kam mit einem Bündel zurück. »Der Werkstoff ist Polyäthylen, innen mit Rhodium und außen mit Kupfer beschichtet. Ein ›Trinkhalm‹ ist 60 Zentimeter lang und hat einen Halbmesser von knapp drei Millimetern. Die Sekundärladung umgeben Tausende dieser Röhren in um 180 Grad verdrehten Bündeln, die eine Helix bilden, eine Spirale. Eine Helix ist eine sehr nützliche Form, denn sie leitet Energie und strahlt gleichzeitig Wärme in alle Richtungen ab.«
In jedem Ingenieur steckt ein verkannter Lehrer, dachte Kati.
»Hinzu kommt, daß die Primärladung zuerst starke Gammastrahlen emittiert. Dann folgen die Röntgenstrahlen. In beiden Fällen reden wir natürlich von Photonen, Quanten also, die keine Masse besitzen, sich aber wie Teilchen verhalten.«
»Lichtstrahlen«, warf Bock ein, der sich an den Physikunterricht im Gymnasium erinnerte.
»Richtig. Lichtstrahlen mit sehr hoher Energie und Frequenz. Nun haben wir also eine gewaltige Energie, die von der Primärladung ausgeht. Einen Teil können wir durch Reflexion oder Ablenkung mit Hilfe der Kanäle, die wir gebaut haben, auf die Sekundärladung richten. Der größte Teil geht natürlich verloren, aber es steht uns so viel Energie zur Verfügung, daß ein Bruchteil genügt. Die Röntgenstrahlen jagen durch die Halme. Dabei wird der Hauptteil ihrer Energie von den Metallbeschichtungen absorbiert, aber die gebogenen Flächen reflektieren sie auch weiter nach unten und bewirken weitere Energieabsorption. Auch das Polyäthylen nimmt einiges auf. Und was geschieht dann?«
Bock kam Kati zuvor. »Wenn das Material so viel Energie aufnimmt, muß es explodieren.«
»Sehr gut, Herr Bock. Wenn die Halme explodieren – eigentlich gehen sie in den Aggregatzustand Plasma über, aber wir wollen ja Halme spalten und keine Haare, nicht wahr? –, expandiert dieses Plasma radial zur Achse der Halme. Es wird also die axiale Energie von der Primärladung in radiale umgewandelt, die auf die Primärladung implodiert.«
Jetzt verstand Kati. »Genial – aber die nach außen expandierende Energie geht verloren.«
»Ja und nein. Sie bildet immer noch eine Energiebarriere, und die brauchen wir. Nun verwandeln sich die Uranlamellen am Körper der Sekundärladung in Plasma, wegen ihrer größeren Masse aber langsamer als die Halme. Dieses Plasma hat eine wesentlich größere Dichte und wird nach innen gepreßt. Die Hülle der Sekundärladung ist doppelt, und den Zwischenraum werden wir evakuieren. Das Vakuum gibt dem nach innen fließenden Plasma sozusagen einen fliegenden Start.«
»Die um 90 Grad abgelenkte Energie erfüllt also bei der Sekundärladung die gleiche Funktion wie die Einwirkung des chemischen Sprengstoffs auf die Primärladung?« Kati hatte das Prinzip verstanden.
»Gut gemacht, Kommandant!« versetzte Fromm gerade so obcrlchrcrhaft, daß es auffiel. »Eine Masse von relativ dichtem Plasma fließt also nach innen, wird in dem evakuierten Hohlraum beschleunigt und prallt dann auf die Sekundärladung, die dabei komprimiert wird. Letztere setzt sich aus 6Lithium-Dcutcrid und 7Lithium-Hydroxid zusammen, beide mit Tritium versetzt, und das Ganze umgibt Uran238. Das implodierende Plasma zerquetscht diese Anordnung, die natürlich auch mit Neutronen von der Primärladung bombardiert wird. Die Kombination von Hitze, Druck und Neutronenstrahlung bewirkt, daß sich das Lithium zu Tritium spaltet. Dieses hinwiederum setzt den Prozeß der Kernverschmelzung in Gang und gewaltige Energie in Form von Neutronen frei, die dann das Uran attackieren und eine Kernspaltung auslösen, die die Sprengleistung der Sekundärladung noch erhöht.«
»Entscheidend ist, daß man die Energie richtig Steuert«, erklärte Ghosn.
»Strohhalme«, merkte Bock an.
»Ja, daran dachteich auch«, sagte Ghosn. »Die Idee ist genial. Das ist, als baute man eine Brücke aus Papier.«
»Und wie hoch ist die Leistung der Sekundärladung?« fragte Kati, der von der Theorie nicht viel verstand, wohl aber von der praktischen Anwendung.
»Die Primärladung wird ungefähr 70 Kilotonnen liefern, die Sekundärladung rund 465. Genau kann ich das wegen etwaiger Unregelmäßigkeiten in der Bombe und des Fehlens von Testergebnissen nicht sagen.«
»Sind Sie davon überzeugt, daß die Waffe auch die erwartete Leistung bringt?«
»Absolut«, erwiderte Fromm.
»Aber ohne Testergebnisse, wie Sie gerade sagten...«
»Kommandant, ich wußte von Anfang an, daß ein Testprogramm ausgeschlossen war. Mit diesem Problem sahen wir uns auch in der DDR konfrontiert. Deshalb ist die Bombe in der Konstruktion überdimensioniert, in einigen Teilen um 40, in anderen um über 100 Prozent. Eine amerikanische, britische, französische oder sowjetische Bombe hätte nur ein knappes Fünftel der Größe unseres ›Apparats‹. Zu solchen Verbesserungen des Wirkungsgrads kommt man nur mit zahlreichen Testexplosionen. Die Physik der Bombe ist recht einfach, aber zur Verbesserung der Konstruktion bedarf es der praktischen Erprobung. Herr Ghosn sprach gerade von einer Brücke. Die Brücken der alten Römer waren nach heutigen Begriffen überdimensioniert; es wurden zu viele Steine verwandt und zu viele Arbeitskräfte eingesetzt. Im Lauf der Jahre haben wir gelernt, Brücken effizienter zu bauen, mit weniger Material und geringerem Personalaufwand. Vergessen Sie aber nicht, daß viele Römerbrücken noch stehen. Unser ›Apparat‹ ist zwar ineffizient und überdimensioniert, aber doch eine funktionsfähige Bombe.«
Die Männer wandten die Köpfe, als der Summer an der Werkzeugmaschine ging. Eine grüne Leuchte blinkte; die Arbeit war getan. Fromm ging zu den Technikern und wies sie an, das Freon aus dem System zu pumpen. Fünf Minuten später war das Ergebnis ihrer mühevollen Arbeit sichtbar. Der Manipulatorarm hob das Stück hoch. Es war fertig.
»Vorzüglich«, sagte Fromm. »Wir werden das Plutonium nun sorgfältig inspizieren und dann mit dem Zusammenbau beginnen. Meine Herren, die schwerste Aufgabe liegt hinter uns.« Nun ist ein Bier angesagt, dachte er und nahm sich noch einmal vor, das Palladium bald zu besorgen. Details, Details. Aber das war das Los des Ingenieurs.
»Was ist da los, Dan?« fragte Ryan über seine gesicherte Leitung. Er hatte zu Hause die Morgenzeitung nicht gesehen und den unverschämten Artikel erst unter den Frühmeldungen auf seinem Schreibtisch entdeckt.
»Von uns stammt das nicht, Jack, es muß aus Ihrem Haus kommen.«
»Ich habe gerade unseren Sicherheitsdirektor zusammengestaucht; der behauptet, von nichts zu wissen. Verdammt, was soll das heißen: ›Ein sehr hochgestellter Beamter‹?«
»Diesem Holtzman sind die Adjektive durchgegangen. Ich bitte Sie, Jack, ich bin schon zu weit gegangen. Über laufende Ermittlungsverfahren darf ich nicht sprechen.«
»Ach, das interessiert mich gar nicht. Entscheidend ist, daß jemand Informationen aus einer top-secret Quelle hat durchsickern lassen. Und wenn es auf der Welt mit rechten Dingen zuginge, schnappten wir uns Holtzman und verhörten ihn!« fauchte Ryan ins Telefon.
»Immer mit der Ruhe, Jack.«
Der DDCI ließ den Hörer sinken und atmete tief durch. Immerhin war es ja nicht Holtzmans Schuld. »Okay, ich habe mich wieder beruhigt.«
»Fest steht, daß das FBI dieses Ermittlungsverfahren nicht führt.«
»Ehrlich?«
»Sie haben mein Wort«, versicherte Murray.
»Das genügt mir, Dan.« Ryan beruhigte sich weiter. Wenn weder FBI noch CIA hinter der Sache steckten, war das Ganze wohl reine Erfindung.
»Wo könnte die undichte Stelle sein?«
Jack lachte. »Im Kongreß; da kämen zehn oder fünfzehn Leute in Frage. Im Weißen Haus vielleicht fünf, bei uns hier zwanzig bis vierzig.«
»Die Geschichte von Ihrem Fehltritt könnte also nur Tarnung sein – oder ein Racheakt.« Murray wußte, daß mindestens ein Drittel aller Indiskretionen, die an die Presse gingen, in diese Kategorie fiel. »Ist die Quelle sensitiv.«
»Vorsicht, so sicher ist die Leitung auch wieder nicht.«
»Verstanden. Passen Sie auf, ich kann diskret und inoffiziell Kontakt mit Holtzman aufnehmen. Er ist ein vernünftiger, verantwortungsbewußter Mann, ein Profi. Wir nehmen ihn auf die Seite und geben ihm zu verstehen, daß er unter Umständen Menschen und Methoden gefährdet.«
»Das muß ich erst mit Marcus abklären.«
»Und ich müßte mit Bill reden, aber der zieht bestimmt mit.«
»Gut, ich spreche mit meinem Direktor und melde mich dann wieder.« Ryan legte auf und ging zurück in Cabots Zimmer.
»Ich habe den Artikel gesehen«, sagte der Direktor.
»Wir wissen nichts von diesem Ermittlungsverfahren, und das FBI auch nicht. Daraus kann man schließen, daß die Skandalgeschichte absoluter Quatsch ist. Aber jemand hat SPINNAKER-Material durchsickern lassen, und so etwas kann für Agenten tödlich sein.«
»Was schlagen Sie vor?« fragte der DCI.
»Daß Dan Murray und ich inoffiziell Kontakt mit Holtzman aufnehmen, ihm zu verstehen geben, daß der Fall die nationale Sicherheit berührt, und ihn bitten, die Finger davon zu lassen.«
»Ihn bitten?«
»Befehle gibt Reportern nur der, der ihre Gehaltsschecks unterschreibt«, erwiderte Jack. »Ich selbst habe die Presse noch nie gewarnt, Dan hingegen schon. Es war seine Idee.«
»Da muß ich erst oben nachfragen«, meinte Cabot.
»Verdammt, Marcus, wir sind hier oben!«
»So einfach an die Presse herantreten – das muß anderswo entschieden werden.«
»Na schön, dann setzen Sie sich in Ihr Auto, fahren rüber und fragen brav an.« Ryan machte kehrt und stürmte hinaus, ehe Cabot auf die Beleidigung reagieren konnte.
Als Jack den kurzen Weg zu seinem Büro zurückgelegt hatte, zitterten seine Hände. Warum unterstützt er mich nie? fragte er sich wütend. In letzter Zeit wollte auch gar nichts klappen. Jack donnerte mit der Faust auf den Tisch. Der Schmerz brachte ihn wieder zur Besinnung. Clarks Operation schien ein Schritt in die rechte Richtung zu sein. Wenigstens ein positiver Aspekt; besser als gar nichts.
Aber auch nicht viel besser. Jack betrachtete das Foto von seiner Frau mit den Kindern.
»Verdammt!« fluchte er laut. Er konnte Cabot nicht dazu bewegen, ihm den Rücken zu stärken, er war ein lausiger Vater geworden, und was er als Ehemann brachte, war noch schlimmer.
Liz Elliot hatte den Artikel auf der Titelseite mit tiefer Befriedigung gelesen. Holtzman hatte ihre Erwartungen erfüllt. Reporter waren so einfach zu manipulieren. Sie hatte erst hinterher erkannt, daß der Fall ihr ganz neue Perspektiven eröffnete. Wenn Ryan fort war, konnte sie dank Cabots Schwäche ihre Macht auch auf die CIA ausdehnen. Nicht übel.
Ryan von seinem Posten zu entfernen wurde inzwischen nicht mehr allein von ihrer Gehässigkeit diktiert. Er hatte mehrmals Wünsche des Weißen Hauses abgelehnt, war gelegentlich mit Interna direkt zum Kongreß gegangen... und hinderte Liz an engeren Kontakten zur CIA. War er erst einmal aus dem Weg, konnte sie Cabot Befehle, die sie als »Vorschläge« tarnen würde, geben, die dann auch widerspruchslos ausgeführt wurden. Dennis Bunker blieb das Verteidigungsministerium und sein blödes Footballteam. Brent Talbot herrschte weiter im Außenministerium. Elizabeth Elliot aber kontrollierte den gesamten nationalen Sicherheitsapparat, denn sie hatte nicht nur das Ohr des Präsidenten, sondern ihn ganz. Ihr Telefon piepte.
»Direktor Cabot ist hier.«
»Schicken Sie ihn rein.« Liz stand auf und ging zur Tür. »Guten Morgen, Marcus.«
»Morgen, Dr. Elliot.«
»Nun, was führt Sie zu uns?« fragte sie und wies ihn zur Couch.
»Dieser Zeitungsartikel.«
»Ja, den habe ich auch gelesen«, sagte die Sicherheitsberaterin mitfühlend.
»Wer das hat durchsickern lassen, gefährdet eine wertvolle Quelle.«
»Ich weiß. Ist die undichte Stelle bei Ihnen? Und was ist das für ein internes Ermittlungsverfahren?«
»Wir haben nichts damit zu tun.«
»Wirklich nicht?« Dr. Elliot lehnte sich zurück und spielte mit ihrem blauen Seidenhalstuch. »Wer steckt dann dahinter?«
»Das wissen wir auch nicht, Liz.« Cabot schien sich noch unbehaglicher zu fühlen, als sie erwartet hatte. Befürchtet er etwa, daß das Ermittlungsverfahren auf ihn zielt? spekulierte sie spielerisch. Interessante Vorstellung. »Wir möchten mit Holtzman reden.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine damit, daß wir und das FBI inoffiziell an ihn herantreten und ihm zu verstehen geben, daß er möglicherweise etwas Unverantwortliches tut.«
»Von wem stammt diese Idee, Marcus?«
»Von Ryan und Murray.«
»Wirklich?« Sie legte eine Kunstpause ein. »Finde ich nicht so gut. Sie wissen ja, wie Reporter sind. Wer sie streicheln will, muß das richtig anfangen... hmmm. Wenn Sie wollen, erledige ich das.«
»Die Sache ist wirklich ernst. SPINNAKER ist uns sehr wichtig.« Cabot neigte dazu, sich zu wiederholen, wenn er in Erregung geriet.
»Ich weiß. Ryan sprach das bei seinem Vortrag sehr deutlich aus, als Sie krank waren. Ließ sich die Meldung bisher noch nicht bestätigen?«
Cabot schüttelte den Kopf. »Nein. Jack flog nach England, um die Briten zu Nachforschungen anzuregen, aber mit Ergebnissen rechnen wir vorerst nicht.«
»Was soll ich Holtzman ausrichten?«
»Sagen Sie ihm, daß er unter Umständen eine hochwichtige Quelle gefährdet. Die Sache könnte den Mann das Leben kosten, und die politischen Auswirkungen wären sehr ernst«, schloß Cabot.
»Ja, das könnte in der Sowjetunion unerwünschte innenpolitische Auswirkungen haben.«
»Wenn SPINNAKER recht hat, steht ein gewaltiger Umschwung bevor. Und wenn wir bekanntgeben, daß wir darüber Bescheid wissen, bringen wir ihn in Gefahr. Vergessen Sie nicht...«
Elliot unterbrach. »Ich weiß, Kadischow ist unsere große Hoffnung. Er darf nicht ›verbrennen‹. Sie haben sich sehr klar ausgedrückt, Marcus. Ich danke Ihnen. Um diese Sache kümmere ich mich selbst.«
»Gut, damit bin ich zufrieden«, erwiderte Cabot nach einer kurzen Pause.
»In Ordnung. Haben Sie mir sonst noch etwas mitzuteilen?«
»Nein, das war alles.«
»Ich finde, es ist an der Zeit, daß ich Ihnen etwas zeige. Es geht um eine vertrauliche Angelegenheit, mit der wir uns hier befaßt haben«, sagte Liz. Marcus verstand den Wink.
»Worum geht es?« fragte der DCI vorsichtig.
»Dies ist absolut vertraulich.« Elliot holte einen großen braunen Umschlag aus der Schreibtischschublade. »Absolut, Marcus. Das kommt mir nicht aus dem Haus, verstanden?«
»Jawohl.« Der DCI war schon sehr interessiert.
Liz öffnete den Umschlag und reichte Cabot einige Fotos.
»Wer ist die Frau?«
»Carol Zimmer, die Witwe eines Mannes von der Air Force, der im Dienst umkam.« Elliot nannte weitere Einzelheiten.
»Ryan geht fremd? Da bin ich platt.«
»Könnten Sie uns weitere Informationen aus Ihrem Haus beschaffen?«
»Ohne daß er Verdacht schöpft? Sehr schwierig.« Cabot schüttelte den Kopf. »Das ginge schon wegen seiner beiden Leibwächter nicht. Clark, Chavez und Ryan sind dicke Freunde.«
»Ryan ist mit seinen Leibwächtern befreundet? Ist das Ihr Ernst?« Liz Elliot, die die Leute vom Personenschutz wie Möbelstücke behandelte, war überrascht.
»Clark ist ein ehemaliger Agent und Chavez ein junger Mann, der sich als Leibwächter sein Studium verdient und später Agent werden will. Ich habe die Personalakten gesehen. Clark wird in ein paar Jahren pensioniert, und daß er im Personenschutz arbeitet, ist eine Geste der Anerkennung. Er hat sehr interessante Aufträge ausgeführt. Guter Mann, erstklassiger Offizier.«
Das mißfiel Elliot, aber da Cabot sich so unzweideutig ausgedrückt hatte, mußte sie schweigen. »Wir wollen Ryan sachte aus dem Amt drängen.«
»Das wird nicht einfach sein. Beim Kongreß ist er sehr beliebt.«
»Hatten Sie ihn nicht der Aufsässigkeit beschuldigt?«
»Damit kommt man auf dem Kapitolhügel nicht durch, das wissen Sie genau. Wenn Sie ihn loswerden wollen, muß der Präsident ihn bitten, seinen Hut zu nehmen.«
Aber auch damit kam man, wie Liz wußte, beim Kongreß nicht durch, und ihr war auch sofort klar, daß sie auf Cabots Unterstützung nicht rechnen konnte. Aber das überraschte sie nicht: Cabot war einfach zu schwach.
»Wenn Sie wollen, regeln wir die Sache von hier aus.«
»Wahrscheinlich keine schlechte Idee. Wenn in Langley bekannt wird, daß ich eine Hand im Spiel hatte, könnte die Moral leiden.«
»Na gut.« Liz stand auf, und auch Cabot erhob sich. »Nett, daß Sie vorbeigekommen sind.«
Zwei Minuten später saß sie wieder auf ihrem Drehsessel und hatte die Füße auf eine offene Schublade gelegt. Wie das flutscht, dachte sie... genau wie geplant. Ich beherrsche das Spiel immer besser...
»Und?«
»Der Artikel erschien gestern in einer Washingtoner Zeitung«, sagte Golowko. Es war 7.00 Uhr abends, und draußen wares so kalt und dunkel, wie es nur im Moskauer Winter sein kann. Und was Golowko zu melden hatte, machte die Nacht auch nicht wärmer.
Andrej Il’itsch Narmonow ließ sich die Übersetzung vom Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden reichen, las sie durch und warf die zwei Seiten dann mit Verachtung auf den Schreibtisch. »Was soll dieser Quatsch?«
»Holtzman ist ein bekannter Reporter, der Zugang zu den Spitzen der Fowler-Administration hat.«
»Und verzapft wohl auch eine Menge Belletristik, so wie unsere Journalisten.«
»Dieser Ansicht sind wir nicht. Für uns weist der Ton des Artikels darauf hin, daß Holtzman die Informationen vom Weißen Haus bekam.«
»Tatsächlich?« Narmonow zog ein Taschentuch hervor, schneuzte sich die Nase und verfluchte die Erkältung, die der jähe Wetterumschwung ihm beschert hatte. Selbst für eine kleine Unpäßlichkeit hatte er jetzt keine Zeit. »Das glaube ich nicht. Ich habe Fowler persönlich über die Probleme bei der Verschrottung der Raketen unterrichtet. Dieser Artikel ist dummes Geschwätz. Sie wissen, daß ich mich mit Hitzköpfen in Uniform auseinanderzusetzen hatte – diesen Narren, die im Baltikum auf eigene Faust losschlugen. Und die Amerikaner wissen das auch. Ich finde es unglaublich, daß die diesen Unsinn ernst nehmen. Ihr Nachrichtendienst wird ihnen mit Sicherheit die Wahrheit melden – und die Wahrheit ist, was ich Fowler persönlich gesagt habe!«
»Genosse Präsident.« Golowko hielt kurz inne. Die Anrede »Genosse« gewöhnte man sich nur schwer ab. »So wie es bei uns Elemente gibt, die den Amerikanern mißtrauen, gibt es auch in den USA welche, die uns weiter hassen und beargwöhnen. Für viele kam die Veränderung in unserem Verhältnis zu rasch und zu überraschend, um sich gleich anzupassen. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß es amerikanische Regierungsmitglieder gibt, die dieser Meldung Glauben schenken.«
»Fowler ist eitel und längst nicht so charakterstark, wie er vorgibt, aber kein Narr – und nur ein Narr kann nach einem Gespräch mit mir diesen Quatsch glauben.« Narmonow gab Golowko die Übersetzung zurück.
»Meine Analytiker sind anderer Ansicht. Wir halten es für möglich, daß die Amerikaner diese Sache glauben.«
»Besten Dank für Ihre Analyse. Ich bin anderer Meinung.«
»Die Meldung bedeutet auch, daß die Amerikaner einen Spion in unserer Regierung sitzen haben.«
»Das bezweifle ich nicht – immerhin haben wir ja auch unsere Leute in Washington –, aber im vorliegenden Fall ist das anders. Wie kann ein Spion etwas melden, was ich nicht gesagt habe? Über dieses angebliche Problem habe ich mit niemandem gesprochen. Es existiert nicht. Was fangen Sie mit einem Agenten an, der Sie belügt?«
»Wir ergreifen sehr strenge Maßnahmen«, versicherte Golowko.
»Und die Amerikaner werden das nicht anders halten.« Narmonow machte eine kurze Pause und lächelte dann. »Wissen Sie, was das bedeuten kann?«
»Wir sind immer aufgeschlossen für neue Ideen.«
»Denken Sie einmal wie ein Politiker. Dies könnte auf einen Machtkampf in der US-Regierung hinweisen. Daß wir mit hineingezogen worden sind, könnte reiner Zufall sein.«
Darüber dachte Golowko nach. »Wir haben erfahren, daß Ryan, der Stellvertretende Direktor, bei Fowler unbeliebt ist...«
»Ah, Ryan, an den erinnere ich mich. Ein ernst zu nehmender Gegenspieler?«
»Allerdings.«
»Und ein Ehrenmann. Er gab mir einmal sein Wort und hielt es auch.«
So was vergißt ein Politiker mit Sicherheit nicht, dachte Golowko.
»Warum ist man unzufrieden mit ihm?« fragte Narmonow.
»Angeblich ist es eine Frage des persönlichen Stils.«
»Bei Fowlers Arroganz kann ich mir das gut vorstellen.« Narmonow hob die Hände. »Na bitte, da haben Sie es. Hätte ich nicht auch einen Geheimdienstanalytiker abgeben können?«
»Sie wären erstklassig gewesen«, gab Golowko zurück, der natürlich nichts anderes sagen konnte. Überdies hatte sein Präsident eine Frage aufgeworfen, die von seinen Leuten noch nicht genau untersucht worden war. Der Stellvertretende Vorsitzende verließ das Staatsoberhaupt und setzte eine besorgte Miene auf. Die Flucht des KGB-Vorsitzenden Gerasimow in den Westen – Golowko vermutete, daß sie vor Jahren von Ryan persönlich eingefädelt worden war – hatte natürlich viele Auslandsoperationen des KGB lahmgelegt. In Amerika waren sechs, in Europa acht komplette Ringe aufgeflogen, und mit dem Aufbau von Ersatznetzen wurde erst jetzt begonnen. Der KGB hatte also seinen Einblick in die amerikanische Regierung verloren. Die einzig günstige Entwicklung war, daß man einen nennenswerten Teil der amerikanischen diplomatischen und militärischen Kommunikation zu entschlüsseln begonnen hatte – zwischen vier und fünf Prozent im Monat. Doch das Knacken von Codes war kein Ersatz für gutplazierte Infiltranten. Die Sache hatte etwas sehr Merkwürdiges; und Golowko wußte nicht, was es war. Vielleicht hatte sein Präsident recht. Vielleicht waren das nur kleine Wellen, erzeugt durch einen internen Machtkampf. Es konnte aber auch etwas anderes dahinterstecken. Die Ungewißheit verbesserte Golowkos Laune nicht.
»Ich habe die Maschine gerade noch erwischt«, sagte Clark. »Hat man das Auto abgeklopft?«
»Wenn heute Mittwoch ist...«, erwiderte Jack. Sein Dienstwagen wurde einmal wöchentlich mit Spürgeräten auf Wanzen untersucht.
»Können wir dann über die Sache sprechen?«
»Ja.«
»Chavez hatte recht – es ist ganz einfach. Man braucht nur dem richtigen Mann eine hübsche kleine mordida zuzustecken. Ein Mann vom Bodenpersonal meldet sich an diesem Tag krank, so daß Chavez und ich Dienst tun in der 747. Ich spiele die Putzfrau, mache die Waschbecken und Klos sauber und fülle die Bar auf. Morgen haben Sie die offizielle Einschätzung, was die Durchführbarkeit angeht, auf dem Tisch, aber die Kurzversion lautet: Jawohl, wir schaffen das, und die Gefahr, daß wir entdeckt werden, ist minimal.«
»Wissen Sie, was passiert, wenn die Sache schiefgeht?«
»Sicher. ›Schwerer internationaler Zwischenfall‹, und ich werde vorzeitig in Pension geschickt. Mir macht das nichts, Jack, ich kann mich jederzeit zur Ruhe setzen. Nur um Ding wäre es schade. Der Junge ist vielversprechend.«
»Was tun Sie, wenn Sie ertappt werden?«
»Dann behaupte ich in meinem besten Spanisch, von einem japanischen Journalisten angeworben und gut bezahlt worden zu sein. Wenn die Japaner glauben, daß ein Landsmann dahintersteckt, werden sie keine großen Umstände machen – wegen Gesichtsverlust und so weiter.«
»John, Sie sind gerissen und hinterfotzig.«
»Alles nur im Dienst meines Landes.« Clark fing an zu lachen. Wenige Minuten später bog er ab. »Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.«
»Ich hatte heute einen langen Tag.«
»Ich habe diesen dummen Zeitungsartikel gelesen. Was unternehmen wir da?«
»Das Weiße Haus wird sich an Holtzman wenden und ihm raten, die Finger von der Sache zu lassen.«
»Hat jemand vom Dienst gesungen?«
»Soweit wir wissen, nicht. Beim FBI sieht es ähnlich aus.«
»Also eine Tarnung für die wahre Story?«
»Es hat den Anschein.«
»Was für ein Schwachsinn«, merkte Clark an, als sie auf den Parkplatz fuhren.
Carol war in ihrem Haus und räumte gerade den Abendbrottisch ab. Der Christbaum war schon aufgestellt. Clark begann die Geschenke anzuschleppen. Einige hatte Jack in England erstanden, aber verpackt worden waren sie von Nancy Cummings und Clark; Ryan war im Geschenkeeinpacken ein hoffnungsloser Fall. Als sie ins Haus traten, hörten sie Weinen.
»Ist nichts Schlimmes, Dr. Ryan«, sagte eines der Kinder in der Küche. »Die kleine Jackie hat was angestellt. Die Mama ist im Bad mit ihr.«
»Gut.« Ryan ging dorthin und meldete sich vorsorglich an.
»Kommen Sie ruhig rein!« rief Carol.
Jack sah Carol, die sich über die Badewanne beugte. Jacqueline heulte kläglich und monoton; typisch für ein Kind, das weiß, daß es etwas Ungezogenes getan hat. Auf dem gekachelten Boden lag ein Häufchen Kinderkleider, und es roch süßlich nach Blüten. »Was ist passiert?«
»Jackie ist an mein Parfüm gegangen und hat die ganze Flasche ausgekippt«, sagte Carol und sah auf.
Jack hob die Bluse der Kleinen auf. »Stimmt, total durchtränkt.«
»Mein bestes, teuerstes Parfüm! Ungezogenes Mädchen!«
Jacquelines Gejammer wurde schriller. Wahrscheinlich hatte sie schon den Hintern versohlt bekommen; Jack war froh, daß er das verpaßt hatte. Er bestrafte seine eigenen Kinder, wenn nötig, zwar auch, sah aber nur ungern zu, wie andere Leute ihre Kindern züchtigten. Das war eine seiner Schwächen. Als Carol ihre Jüngste aus der Wanne hob, roch sie immer noch nach Parfüm.
»Das Zeug ist aber stark!« Jack nahm die Kleine auf den Arm, aber das Weinen wurde kaum leiser.
»80 Dollar die Flasche!« rief Carol, aber ihr Zorn war nun verflogen. Sie hatte genug Erfahrung mit kleinen Kindern, um zu wissen, daß sie hin und wieder was anstellten. Jack ging mit dem kleinen Mädchen ins Wohnzimmer. Als sie die Geschenkpakete sah, hellte sich ihre Miene auf.
»Sie sind viel zu großzügig«, bemerkte ihre Mutter.
»Ach was, ich war sowieso einkaufen.«
»Sie sollten Weihnachten mit Ihrer Familie verbringen und nicht hierherkommen.« Clark kam mit einer letzten Ladung Geschenke herein. Es waren seine, wie Jack feststellte. Nett von ihm.
»Und wir haben gar nichts für Sie«, klagte Carol Zimmer.
»Aber doch – Jackie hat mit mir geschmust.«
»Und ich?« fragte Clark.
Jack gab ihm die Kleine. Merkwürdig, viele Männer hatten Angst vor Clark, wenn sie ihn nur zu Gesicht bekamen, aber Carols Kinder hielten ihn für einen großen Teddybär. Kurze Zeit später brachen sie wieder auf.
»Das war nett von Ihnen, John«, sagte Ryan.
»Ist doch nichts Besonderes. Außerdem macht es viel mehr Spaß, Geschenke für kleine Kinder als für Erwachsene zu kaufen. Wissen Sie, was meine Maggie auf ihren Wunschzettel gesetzt hat? Einen ›Bali-BH‹! Wie, zum Teufel, kann ein Vater in ein Kaufhaus gehen und Reizwäsche für seine eigene Tochter verlangen?«
»Für Barbies sind Ihre Töchter inzwischen zu alt.«
»Schade, Doc, schade.«
Jack wandte den Kopf und lachte leise. »Übrigens, dieser Büstenhalter...«
»Wenn ich den Kerl erwische, der den aufhakt, mach’ ich Hackfleisch aus ihm.«
Jack hatte gut lachen, seine Tochter war noch nicht soweit. Er stellte es sich schwer vor, sie mit einem Fremden ziehen lassen zu müssen, seinem Schutz entzogen. Und für einen Mann wie Clark mußte das noch härter sein.
»Morgen um die übliche Zeit?«
»Ja.«
»Bis dann, Doc.«
Um 8.55 Uhr betrat Ryan sein Haus. Sein Abendessen stand am üblichen Platz. Er schenkte sich wie üblich ein Glas Wein ein, trank einen Schluck, zog dann seinen Mantel aus und hängte ihn in den Schrank, ehe er nach oben ging, um sich umzuziehen. Dabei begegnete er Cathy und lächelte ihr zu. Er küßte sie nicht; dazu war er einfach zu müde. Und das war sein Problem: Er hatte keine Zeit, sich zu entspannen. Clark hat recht, ich brauche ein paar Tage Urlaub, dachte Jack, während er sich umzog.
Cathy ging an den Schrank, um ein Krankenblatt aus ihrem Mantel zu holen. Sie hatte sich schon fast wieder abgewandt, als sie etwas Sonderbares roch. Cathy Ryan steckte verdutzt den Kopf in den Schrank und schnüffelte auf eine Weise herum, die komisch gewirkt hätte, wenn ihr Gesicht nicht so ernst gewesen wäre, als sie die Duftquelle fand: Jacks teuren Kamelhaarmantel, den sie ihm im vergangenen Jahr gekauft hatte.
Er roch nach einem fremden Parfüm.