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Letzte Gefechte
Nach Westen zu fliegen ist immer leichter als nach Osten, weil sich der Körper eher an einen längeren als an einen kürzeren Tag gewöhnt, und gutes Essen und gepflegte Weine erleichtern die Umstellung noch. Die Air Force One hatte einen großen Konferenzraum für alle möglichen Anlässe; in diesem Fall gab der Präsident ein Essen für hohe Regierungsmitglieder und ausgewählte Leute vom Pressekorps. Das Essen war wie immer superb. Die 747 des Präsidenten ist wohl das einzige Flugzeug auf der Welt, in dem die Mahlzeiten nicht auf Plastiktellern und aus der Mikrowelle serviert werden. Ihre Stewards kaufen täglich frische Zutaten ein, die meistens in 13 000 Metern Höhe und bei 1000 Stundenkilometern zubereitet werden, und mehr als einer der Köche hatte schon den Dienst beim Militär aufgegeben, um Küchenchef in einem feinen Restaurant zu werden. »Leibkoch des Präsidenten« macht sich gut im Lebenslauf. Der Wein kam aus dem Staat New York und war ein besonders guter Rose, der dem Präsidenten, der sonst Bier trank, schmeckte. Im Frachtraum der umgebauten 747 standen drei Kisten davon. Zwei Stewards in weißen Uniformen füllten die Gläser auf, während die verschiedenen Menü-Gänge serviert und abgeräumt wurden. Die Atmosphäre war entspannt und die Unterhaltung inoffiziell; ein Reporter, der hieraus zitierte, würde nie wieder an Bord eingeladen.
»Mr. President«, fragte jemand von der New York Times, »wie bald wird dieses Abkommen umgesetzt?«
»Der Prozeß beginnt gerade. Vertreter der Schweizer Armee sehen sich bereits in Jerusalem um, und Minister Bunker spricht mit der israelischen Regierung, um das Eintreffen amerikanischer Streitkräfte in der Region vorzubereiten. Binnen zwei Wochen sollte die Sache angelaufen sein.«
»Und die Menschen, die ihre Häuser verlassen müssen?« fragte eine Reporterin der Chicago Tribune.
»Für sie bedeutet das eine ernste Unannehmlichkeit, aber sie werden mit unserer Hilfe rasch eine neue Unterkunft finden. Israel hat um Kredite ersucht, um in den USA Fertighäuser zu erwerben, die wir auch bewilligen werden. Wir finanzieren auch eine Fabrik, damit solche Einheiten im Land selbst hergestellt werden können. Tausende werden umgesiedelt. Das wird schmerzhaft sein, aber wir versuchen, es diesen Menschen so weit wie möglich zu erleichtern.«
»Vergessen wir nicht«, merkte Liz Elliot an, »daß Lebensqualität mehr ist als nur ein Dach überm Kopf. Der Frieden hat seinen Preis, aber auch seine Vorteile. Diese Menschen können sich nun zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich sicher fühlen.«
»Verzeihung, Mr. President«, sagte die Reporterin und hob ihr Glas, »das sollte keine Kritik sein. Ich glaube, wir sind uns alle einig, daß dieses Abkommen ein Gottesgeschenk ist.« Überall am Tisch wurde genickt. »Aber die Frage der Umsetzung interessiert unsere Leser.«
»Am schwierigsten wird die Umsiedlung werden«, erwiderte Fowler ruhig. »Wir danken der israelischen Regierung, die der Aktion zugestimmt hat, und werden uns bemühen, sie so schmerzlos wie möglich über die Bühne zu bringen.«
»Und welche amerikanischen Einheiten werden zur Verteidigung Israels entsandt?« fragte ein anderer Reporter.
»Ich bin froh, daß Sie diese Frage stellen«, sagte Fowler, und das stimmte auch, aber aus einem anderen Grund: Die Reporterin hatte das größte potentielle Hindernis übersehen – die Knesset, die das Abkommen noch ratifizieren mußte. »Sie haben vielleicht gehört, daß wir eine neue Armee-Einheit aufstellen, das Zehnte Kavallerieregiment. Es wird gerade in Fort Stewart, Georgia, gebildet, und auf meine Anweisung werden schon jetzt Schiffe der Verteidigungsreserve mobilisiert, um die Soldaten so rasch wie möglich nach Israel zu bringen. Die Zehnte Kavallerie ist ein berühmtes Regiment mit einer großen Tradition, die der sogenannten ›Buffalo Soldiers‹. Und zum Glück ergab es sich« – mit Glück hatte die Personalentscheidung überhaupt nichts zu tun gehabt –, »daß es von einem Afro-Amerikaner kommandiert wird, Colonel Marion Diggs, einem vorzüglichen Soldaten und West-Point-Absolventen. Das wären die Bodenstreitkräfte. Die Luftkomponente ist ein volles Geschwader F-16 mit AWACS-Maschinen und dem üblichen Bodenpersonal. Und schließlich lassen uns die Israelis in Haifa einen Marinestützpunkt einrichten. Obendrein verfügen wir ja im östlichen Mittelmeer über einen Trägerverband und eine Einheit der Marines als Verstärkung.«
»Angesichts der Kürzungen im Verteidigungshaushalt ...«
»Die Zehnte Kavallerie war Dennis Bunkers Idee; ich wollte, mir wäre das eingefallen. Was die Finanzierung angeht, werden wir die Mittel schon finden.«
»Ist das wirklich nötig, Mr. President? Ist es unbedingt erforderlich, daß wir angesichts der Probleme mit dem Haushalt und besonders mit dem Verteidigungshaushalt. . .«
»Aber natürlich«, schnitt die Sicherheitsberaterin dem lästigen Reporter das Wort ab. Du Arsch, sagte ihre Miene. »Israels Sicherheit ist ein sehr ernster und realer Faktor, und unsere Bereitschaft, sie zu garantieren, ist das Sine qua non des Abkommens.«
»Autsch, Marty«, murmelte ein anderer Reporter.
»Wir kompensieren für die zusätzlichen Ausgaben auf anderen Gebieten«, erklärte der Präsident. »Ich weiß, daß ich mich nun auf das ideologiebeladene Thema der Staatsfinanzen einlasse, finde aber, daß wir bewiesen haben, daß die Ausgaben der Regierung sich auszahlen. Die Bürger unseres Landes werden eine kleine Steuererhöhung für die Erhaltung des Weltfriedens verstehen und unterstützen«, fuhr Fowler nüchtern fort.
Das notierte sich jeder Reporter. Der Präsident wollte also schon wieder eine Steuererhöhung vorschlagen. Die Friedensdividenden I und II lagen hinter ihnen; nun stand die erste Friedensabgabe an, und die würde den Kongreß wie alle anderen mit dem Abkommen verbundenen Vorlagen glatt passieren. Eine Reporterin lächelte, als sie sah, wie der Präsident seine Sicherheitsberaterin anschaute. Sie hatte vor der Romreise zweimal versucht, Liz Elliot unter ihrer Privatnummer zu erreichen, und immer nur den Anrufbeantworter bekommen. Dem hätte sie nachgehen sollen. Sie hätte sich vor Elliots Haus nicht weit von der Kalorama Road postieren und festhalten können, wie oft sie zu Hause schlief und wie oft nicht. Aber... das ging sie im Grunde nichts an. Der Präsident war Witwer, und sein Privatleben brauchte die Öffentlichkeit nicht zu interessieren, solange er diskret blieb und solange es seine Amtsführung nicht beeinträchtigte. Die Reporterin vermutete, daß ihr als einziger die Sache aufgefallen war. Nun, dachte sie, wenn sich der Präsident und seine Sicherheitsberaterin so gut vertragen, ist das vielleicht positiv: Sieh nur, wie gut das Vatikan-Abkommen geklappt hat...
Brigadegeneral Abraham Ben Jakob las den Vertragstext allein in seinem Büro durch. Da er von Berufs wegen ein mißtrauischer Mann war, fiel es ihm selten schwer, seine Gedanken zu formulieren. Sein ganzes Erwachsenenleben lang, das im Alter von sechzehn mit dem Wehrdienst begonnen hatte, war die Welt sehr leicht zu verstehen gewesen. Es gab Israelis, und es gab andere. Die meisten anderen waren Feinde oder potentielle Gegner. Wenige andere galten als Verbündete oder vielleicht Freunde, aber Freundschaft mit Israel war vorwiegend eine einseitige Angelegenheit. Avi hatte in den USA fünf Operationen gegen die Amerikaner geführt. »Gegen« war selbstverständlich relativ zu verstehen. Es war nie seine Absicht gewesen, den USA Schaden zuzufügen. Er wollte nur Dinge in Erfahrung bringen, die die amerikanische Regierung wußte, oder sich Sachen beschaffen, über die sieverfügte. Diese Informationen oder Waffen sollten natürlich nie gegen die USA verwendet werden, aber den Amerikanern gefiel es verständlicherweise nicht, wenn man ihnen die Geheimnisse stahl. Das aber machte General Ben Jakob nicht den geringsten Kummer. Er hatte den Auftrag, den Staat Israel zu schützen, und nicht, nett zu Leuten zu sein. Dafür hatten die Amerikaner Verständnis. Gelegentlich teilten sie auf einer sehr informellen Basis Informationen mit dem Mossad, der sich sehr selten revanchierte. Das Ganze wurde ausgesprochen zivilisiert gehandhabt – die beiden Dienste verhielten sich wie konkurrierende Firmen, die Gegner und Märkte gemeinsam hatten und gelegentlich kooperierten, einander aber nie ganz trauten.
Dieses Verhältnis würde sich nun zwangsläufig ändern. Amerika setzte Truppen zum Schütze Israels ein und war somit für die Verteidigung des Landes mitverantwortlich. Umgekehrt machte es Israel für die Sicherheit der US-Truppen verantwortlich, eine Tatsache, die die US-Medien bislang übersehen hatten. Hierfür war der Mossad zuständig, und in der Folge war mit einem viel intensiveren Informationsaustausch zu rechnen. Avi gefiel das nicht. Trotz der augenblicklichen Euphorie war Amerika kein Land, dem man Geheimnisse anvertrauen konnte, und schon gar nicht solche, die mit großer Mühe und manchmal sogar mit dem Blut von Agenten beschafft worden waren. Dem Mossad stand ein hoher CIA-Vertreter ins Haus, mit dem die Einzelheiten abgesprochen werden sollten. Bestimmt wird Ryan geschickt, dachte Avi und begann, sich Notizen zu machen. Er mußte so viel wie möglich über diesen Mann herausfinden, um zu einer günstigen Übereinkunft mit ihm zugelangen.
Ryan ... hatte er wirklich die ganze Sache in Gang gesetzt? Das ist die Frage, dachte Ben Jakob. Die US-Regierung hatte das abgestritten, aber Ryan war weder Fowlers Favorit noch der seiner Sicherheitsberaterin Elizabeth Elliot. Seine Informationen über sie waren eindeutig. Als Professorin hatte sie »im Namen der Fairneß und Ausgewogenheit« Vertreter der PLO eingeladen und sie ihren Standpunkt darlegen lassen. Es hätte aber noch schlimmer kommen können. Sie war wenigstens keine Vanessa Redgrave, die mit der Kalaschnikow fuchtelnd Tänze vollführte, trieb aber die »Objektivität« so weit, daß sie höflich den Ausführungen von Vertretern eines Volkes lauschte, das in Ma’alot israelische Kinder und in München israelische Sportler angegriffen hatte. Wie die meisten Mitglieder der amerikanischen Regierung hatte sie die Bedeutung des Wortes Prinzipien vergessen. Ryan aber gehörte nicht zu dieser Mehrheit. . .
Das Abkommen war Ryans Geisteskind, das stand für Ben Jakob fest. Auf den Gedanken, das Problem über die Religion zu lösen, wären Fowler und Elliot nie gekommen.
Das Abkommen. Er konzentrierte sich wieder auf den Vertragstext und seine Notizen. Wie hatte sich seine Regierung nur in diese Ecke manövrieren lassen?
We shall overcome ...
So einfach war das? Panische Anrufe und Telegramme von Israels amerikanischen Freunden, die abzuspringen begannen, als ob ...
Wie hätte es auch anders kommen können? fragte sich Avi. Das Abkommen war unter Dach und Fach – höchstwahrscheinlich, räumte er ein. Die Ausbrüche in der israelischen Bevölkerung hatten begonnen; in den nächsten Tagen mußte mit Aufruhr gerechnet werden. Der Grund lag auf der Hand:
Israel räumte Westjordanien. Es würde zwar Truppen zurücklassen, ähnlich wie Amerika noch Einheiten in Deutschland und Japan stationiert hat, aber auf der Westbank sollte ein demilitarisierter Palästinenserstaat entstehen, dessen Grenzen die UNO garantierte. Tja, so steht es wahrscheinlich auf einem schön gerahmten Stück Pergament, überlegte Ben Jakob. Die echte Garantie würde von Israel und Amerika kommen. Saudi-Arabien und seine Bruderstaaten am Golf sollten die wirtschaftliche Rehabilitation der Palästinenser finanzieren. Auch der ungehinderte Zugang nach Jerusalem war garantiert – dort würden die stärksten israelischen Verbände stehen, in großen, leicht zu sichernden Lagern, die das Recht hatten, ungehindert Streife zu gehen. Jerusalem selbst würde zu einem Dominion des Vatikans werden. Der Zivilverwaltung stand ein gewählter Oberbürgermeister vor – Avi fragte sich, ob der jetzige Amtsinhaber, ein sehr unparteiischer Israeli, seinen Posten behalten würde –, aber für religiöse und auswärtige Angelegenheiten war unter der Autorität des Vatikans eine Troika von Geistlichen zuständig. Die Sicherheitskräfte für Jerusalem stellte die Schweiz mit einem motorisierten Regiment. Avi kommentierte diese Vorstellung mit einem verächtlichen Schnauben, aber die Schweizer Armee hatte der israelischen als Vorbild gedient, und die eidgenössische Einheit sollte auch zusammen mit den Amerikanern üben. Dem Vernehmen nach setzte sich die 10. Kavallerie aus erstklassigen regulären Truppen zusammen. Auf dem Papier machte sich das alles großartig.
Papier ist geduldig.
Auf Israels Straßen jedoch hatten bereits fanatische Demonstrationen begonnen. Tausende von Bürgern sollten vertrieben werden. Zwei Polizisten und ein Soldat waren schon verletzt worden – von Israelis. Die Araber hielten sich aus der Sache heraus. Eine separate, von den Saudis geleitete Kommission sollte feststellen, welches Stück Land welcher arabischen Familie gehörte – hier hatten die Israelis mit ihrer wahllosen Landnahme eine heillose Verwirrung gestiftet, aber das war glücklicherweise nicht Avis Problem. Er hieß mit Vornamen Abraham, nicht Salomon. Ob das alles klappt? fragte er sich.
Das kann unmöglich funktionieren, dachte Kati. Er hatte auf die Nachricht von der Unterzeichnung des Abkommens mit einem zehn Stunden dauernden Anfall von Übelkeit reagiert und fühlte sich nun, da er den Vertragstext vor sich hatte, an der Schwelle des Todes.
Frieden? Und Israel existiert trotzdem weiter? Wofür hatte er dann alle die Opfer gebracht, wofür waren Hunderte, Tausende von Freiheitskämpfern den Märtyrertod gestorben? Wofür hatte Kati sein Leben hingegeben? Jetzt kannst du genausogut sterben, sagte er sich. Er hatte auf alles verzichtet. Er hätte ein normales Leben mit Frau, Kindern, Haus und einem angenehmen Beruf – Arzt, Ingenieur, Bankangestellter, Kaufmann – führen können. Er war intelligent genug, um alles, was er sich vornahm, auch bewältigen zu können – aber nein, er hatte den steinigsten Pfad gewählt. Er hatte sich vorgenommen, eine Nation zu gründen, seinem Volk eine Heimat zu schaffen, ihnen die Menschenwürde zurückzugeben. Er hatte sein Volk führen und die Eindringlinge schlagen wollen.
Um unvergessen zu bleiben.
Das war sein sehnlichster Wunsch. Ungerechtigkeit stach jedem ins Auge, aber wer sie beseitigte, ging in die Geschichte ein, wenn auch nur als Nebenfigur, als Vater einer kleinen Nation ...
Stimmt nicht, gestand Kati. Wer das erreichen wollte, mußte den Großmächten trotzen, den Amerikanern und Europäern, die sein uraltes Heimatland mit ihren Vorurteilen geprägt hatten. Wer dieses Unrecht beseitigte, zählte zu den großen Gestalten der Geschichte. Doch wessen Taten würden nun in Erinnerung bleiben? Wer hatte wen besiegt, wer hatte was erobert?
Das darf nicht sein, sagte sich der Kommandant. Aber sein Magen krampfte sich erneut zusammen, als er den trockenen, präzisen Vertragstext las. War es möglich, daß sich die Palästinenser, sein edles, unerschrockenes Volk, von dieser Infamie hatten verführen lassen?
Kati stand auf und eilte ins Bad. Als er sich erbrach, fand sein Verstand eine Antwort auf die Frage. Nach einer Weile richtete er sich auf und spülte den Mund aus. Ein anderer, bitterer Geschmack aber wollte nicht weichen.
Auf der anderen Straßenseite hörte Günther Bock in einem Haus, das ebenfalls der Organisation gehörte, die Nachrichten der Deutschen Welle. Bock war zwar Internationalist und nun auch Emigrant, verstand sich aber nach wie vor und an erster Stelle als Deutscher, wenn auch ein revolutionärer und sozialistischer. Das Wetter in der Heimat war heute wieder warm und trocken gewesen; ein schöner Tag also, um Petra an die Hand zu nehmen und einen Spaziergang am Rhein zu machen ...
Bei der Kurzmeldung blieb ihm fast das Herz stehen. »... die Terroristin Petra Hassler-Bock wurde heute in ihrer Zelle erhängt aufgefunden. Hassler-Bock, verheiratet mit dem flüchtigen RAF-Mitglied Günther Bock, wurde wegen des brutalen Mords an Wilhelm Manstein zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Sie war achtunddreißig Jahre alt.
Zum Fußball: Dresdens unaufhaltsamer Aufstieg geht weiter. Unter Mannschaftskapitän Willi Scheer ...«
Bock saß in dem dunklen Zimmer, und seine Augen weiteten sich. Da er noch nicht einmal den Anblick der Leuchtskala des Kurzwellenempfängers ertragen konnte, starrte er zum Fenster hinaus in die sternhelle Nacht.
Petra tot?
Er wußte, daß es wahr war, er redete sich nichts ein. Es war zu wahrscheinlich. . . ja unvermeidlich. »Erhängt aufgefunden!« Natürlich, ein vorgetäuschter Selbstmord wie im Fall der drei Baader-Meinhof-Mitglieder; eines hatte sich angeblich sogar dreimal in den Kopf geschossen.
Sie hatten seine Frau ermordet. Seine schöne Petra war tot. Sein bester Kamerad, seine treueste Genossin, seine Liebe. Tot. Günther war überrascht, wie schwer die Nachricht ihn traf. Was hätte er auch anderes erwarten sollen? Man mußte sie ja aus dem Weg räumen. Sie war ein Bindeglied zur Vergangenheit und auch eine potentiell gefährliche Symbolgestalt für Deutschlands sozialistische Zukunft. Der Mord an ihr diente zur weiteren politischen Stabilisierung des neuen Deutschlands, des Vierten Reiches.
»Petra«, flüsterte er. Sie war mehr als eine politische Figur gewesen, mehr als eine Revolutionärin. Er erinnerte sich an jede Kontur ihres Gesichts, jede Kurve ihrer mädchenhaften Figur. Er dachte an die Stunden, die er auf die Geburt ihrer Kinder wartend verbracht hatte, und an Petras Lächeln danach. Auch von Erika und Ursel war er nun getrennt; es schien, als seien auch sie tot.
Bock ertrug die Einsamkeit nicht mehr. Er zog sich an und ging über die Straße. Kati war, wie er zu seiner Erleichterung feststellte, noch wach, sah aber sehr schlecht aus.
»Was ist, mein Freund?« fragte der Kommandant.
»Petra ist tot.«
Katis Miene zeigte echten Schmerz. »Was ist geschehen?«
»Es heißt, sie sei erhängt in ihrer Zelle gefunden worden.« Meine Petra, dachte Bock, und der Schock setzte erst jetzt ein, aufgehängt an ihrem anmutigen Hals. Die Vorstellung war unerträglich. Zusammen mit Petra hatte er einen Klassenfeind auf diese Weise hingerichtet und zugesehen, wie das Gesicht erst bleich und dann dunkler wurde, bis ...
Grauenhaft. Er durfte sich Petra so nicht vorstellen.
Kati senkte betrübt den Kopf. »Möge Allah unserer lieben Genossin gnädig sein.«
Bock ließ sich sein Mißfallen nicht anmerken. Petra hatte so wie er nie an Gott geglaubt. Aber er verstand, daß Kati es nur gut gemeint hatte – als Freund. Und da Bock nun einen Freund brauchte, ignorierte er die bedeutungslose Bemerkung und holte tief Luft.
»Ein schlimmer Tag für unsere Bewegung, Ismael.«
»Es steht noch ärger, als Sie glauben. Dieses verfluchte Abkommen ...«
»Ich weiß«, sagte Bock. »Ich weiß.«
»Was halten Sie davon?« Auf eines konnte sich Kati bei Bock verlassen: seine Ehrlichkeit und Objektivität.
Der Deutsche nahm sich eine Zigarette vom Schreibtisch des Kommandanten und zündete sie mit dem Tischfeuerzeug an. Er setzte sich nicht, sondern ging im Raum auf und ab. Offenbar mußte er in Bewegung bleiben, um sich zu beweisen, daß er noch lebte. Nun zwang er sich, die Frage objektiv zu beantworten.
»Man muß dies als Teil eines größeren Plans sehen. Als die Russen den Weltsozialismus verrieten, setzten sie eine Reihe von Ereignissen in Gang, deren Ziel die Konsolidierung der Herrschaft der kapitalistischen Klassen über den Großteil der Welt war. Früher hielt ich die sowjetischen Konzessionen nur für eine kluge Strategie, um an Wirtschaftshilfe aus dem Westen heranzukommen – Sie müssen verstehen, daß die Russen ein rückständiges Volk sind, Ismael, das es noch nicht einmal geschafft hat, aus dem Kommunismus etwas zu machen. Karl Marx war Deutscher, wie Sie wissen«, fügte er mit einem ironischen Grinsen hinzu und verschwieg diplomatisch die Tatsache, daß Marx Jude gewesen war. Bock machte eine kurze Pause und fuhr dann in einem kalten, analytischen Tonfall fort. Er war dankbar, sich kurz gegen den Gram verschließen und wieder wie ein Revolutionär reden zu können.
»Ich war im Irrtum. Es ging nicht um eine Strategie, sondern um kompletten Verrat. Die fortschrittlichen Kräfte in der Sowjetunion sind noch gründlicher ausmanövriert worden als selbst in der DDR. Die Annäherung an die USA ist durchaus real. Man tauscht die reine Ideologie gegen vorübergehenden Wohlstand, gewiß, hat aber nicht die Absicht, ins sozialistische Lager zurückzukehren.
Amerika seinerseits fordert einen Preis für seine Hilfe. Es zwang die Sowjets, dem Irak die Unterstützung zu verweigern und ihre Unterstützung für Sie und Ihre arabischen Brüder zu reduzieren, und endlich, diesem Plan zur Sicherung Israels zuzustimmen. Zweifellos hatte die israelische Lobby in Amerika diesen Trick schon lange geplant. Die Voraussetzung für sein Gelingen aber war das Einverständnis der Sowjetunion. Und nun sehen wir uns nicht nur Amerika, sondern einer globalen Verschwörung konfrontiert. Wir haben keine Freunde mehr, Ismael. Wir stehen allein.«
»Soll das heißen, daß wir besiegt sind?«
»Nein!« Bocks Augen blitzten. »Wenn wir jetzt aufgeben – der Gegner hat ohnehin schon genug Vorteile, mein Freund. Wenn wir ihnen noch einen liefern, werden wir beim derzeitigen Stand der Dinge alle miteinander zur Strecke gebracht. Es wird noch schlimmer kommen. Bald beginnen die Russen ihre Zusammenarbeit mit den Amerikanern und Zionisten.«
»Wer hätte je gedacht, daß die USA und die UdSSR ...«
»Niemand. Niemand außer den Betreibern, also der herrschenden amerikanischen Elite und Narmonow und seinen Lakaien. Sie gingen überaus geschickt vor. Wir hätten es kommen sehen sollen, mein Freund, aber wir waren blind. Sie hier und ich in Europa. Wir haben versagt.«
Kati sagte sich, daß die Wahrheit genau das war, was er nun hören mußte, aber sein Magen reagierte anders.
»Wie sollen wir Abhilfe schaffen?« fragte der Kommandant.
»Wir haben es mit einer Allianz zweier sehr unwahrscheinlicher Freunde und ihrer Mitläufer zu tun. Es muß ein Weg gefunden werden, dieses Bündnis zu zerstören. Die Geschichte lehrt, daß nach dem Bruch einer Allianz die ehemaligen Partner einander mit größerem Mißtrauen betrachten als vor ihrem Zusammenschluß. Wie ist das zuwege zu bringen?« Bock zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich auch nicht. Das wird Zeit brauchen... Gelegenheiten gibt es. Oder sollte es geben«, verbesserte er sich. »Das Streitpotential ist groß. Viele Menschen, auch in Deutschland, denken so wie wir.«
»Aber beginnen muß es mit Zwietracht zwischen Amerika und Rußland?« fragte Kati, der die Exkurse seines Freundes wie immer interessant fand.
»In diese Richtung muß unsere Strategie zielen. Es wäre sehr günstig, wenn der Erneuerungsprozeß so begänne, aber das ist leider unwahrscheinlich.«
»Vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich, wie du meinst, Günther«, dachte Kati laut, ohne es zu merken.
»Wie bitte?«
»Ach, nichts. Darüber sprechen wir später. Ich bin müde, mein Freund.«
»Verzeihung, ich wollte Sie nicht wachhalten.«
»Wir werden Petra rächen. Die Hunde müssen für ihre Verbrechen büßen!« versprach Kati.
»Das ist mir ein Trost.« Bock ging hinaus und war zwei Minuten später wieder in seinem Zimmer. Das Radio lief noch, der Sender brachte volkstümliche Weisen. Nun kehrte die Trauer zurück, aber Bock weinte nicht, sondern empfand nur Haß. Petras Tod war ein schwerer Schlag, aber darüber hinaus war seine ganze Weltanschauung verraten worden. Der Verlust seiner Frau war nur ein weiteres Symptom für eine schwere, bösartige Krankheit. Wenn es nach ihm ging, würde die ganze Welt für den Mord an Petra büßen müssen – im Namen der revolutionären Gerechtigkeit natürlich.
Kati konnte nicht einschlafen, überraschenderweise unter anderem auch deshalb, weil ihn Schuldgefühle plagten. Auch er hatte Erinnerungen an Petra Hassler und ihren geschmeidigen Körper – damals war sie schon mit Günther verheiratet gewesen –, und er stellte sie sich tot vor, am Ende eines Stricks. Wie war sie gestorben? Durch Selbstmord, wie es in den Nachrichten geheißen hatte? Kati glaubte das. Europäer waren klug, aber es fehlte ihnen das Durchhaltevermögen. Ihr Vorteil war die größere Perspektive, die wiederum aus ihrer kosmopolitischen Umgebung und ihrer generell besseren Bildung resultierte. Kati und sein Volk neigten dazu, sich auf das unmittelbare Problem zu konzentrieren. Die europäischen Genossen aber sahen die weitreichenden Fragen klarer. Dieses Moment der Voraussicht und klaren Wahrnehmung überraschte Kati. Er und seine Leute hatten die Europäer zwar immer als Genossen, aber nicht als Ebenbürtige betrachtet, eher als Dilettanten auf dem Gebiet des revolutionären Kampfes. Das war eine Fehleinschätzung. Ihre Aufgabe war schon immer schwerer gewesen, weil ihnen die unzufriedenen Massen fehlten, aus denen Kati und seine Kollegen ihre Leute rekrutierten. Ihr relativer Mißerfolg war auf objektive Umstände zurückzuführen und sagte nichts über ihre Intelligenz oder Entschlossenheit aus.
Bock hätte mit seinem klaren Blick einen guten Stabsoffizier abgegeben.
Was nun? fragte sich Kati. Um diese Frage zu beantworten, mußte er nachdenken und sich Zeit nehmen. Er beschloß, sie ein paar Tage zu überschlafen. . . oder eher eine Woche, und versuchte, Ruhe zu finden.
»... ich habe die große Ehre, den Präsidenten der Vereinigten Staaten vorzustellen.«
Die versammelten Mitglieder beider Häuser des Kongresses erhoben sich wie ein Mann von ihren Plätzen im Sitzungssaal des Repräsentantenhauses. In der ersten Reihe waren die Mitglieder des Kabinetts, die Vereinigten Stabschefs und die Richter des Obersten Bundesgerichts. Auch sie erhoben sich. In den Galerien saßen andere, darunter die Botschafter von Saudi-Arabien und Israel, die sich zum ersten Mal nebeneinander niedergelassen hatten. Die Fernsehkameras nahmen im Schwenk den großen Raum auf, in dem berühmte und berüchtigte historische Ereignisse stattgefunden hatten. Von den Wänden hallte frenetischer Applaus wider.
Präsident Fowler legte sein Manuskript auf das Rednerpult, drehte sich um und begrüßte den Sprecher des Repräsentantenhauses, den Präsidenten pro tempore des Senats und Vizepräsidenten der USA, Robert Durling. In der Euphorie des Augenblicks wurde allgemein übersehen, daß Durling als letzter an die Reihe kam. Nun lächelte und winkte Fowler der Menge zu, und wieder schwoll der Lärm an. Der Präsident spielte sein Gestenrepertoire voll aus: das einhändige Winken, das beidhändige Winken, Hände auf Schulterhöhe, Hände überm Kopf. Demokraten und Republikaner reagierten begeistert, was Fowler erstaunlich fand. Seine lautstärksten politischen Gegner aus Repräsentantenhaus und Senat demonstrierten gewissenhaft einen Enthusiasmus, der, wie der Präsident wußte, echt war. Zur allgemeinen Überraschung gab es im Kongreß noch echten Patriotismus. Schließlich bat Fowler mit einer Geste um Ruhe, und der Applaus ebbte zögernd ab.
»Liebe Mitbürger, ich bin in dieses Haus gekommen, um über die neuesten Entwicklungen in Europa und dem Nahen Osten zu berichten und um dem Senat zwei Vertragswerke vorzulegen, welche, wie ich hoffe, Ihre rasche und begeisterte Zustimmung finden werden.« Applaus. »Mit diesen Verträgen und in enger Zusammenarbeit mit anderen Ländern – teils alte Freunde, teils wertvolle neue Verbündete – haben die Vereinigten Staaten zum Frieden in einer Region beigetragen, die zwar der Welt eine Botschaft des Friedens gebracht, ihn selbst aber nur zu selten genießen konnte.
Man sehe sich die Geschichte der Menschheit an, verfolge die Entwicklung des menschlichen Geistes. Aller Fortschritt, alle Lichter, die uns den Weg aus der Barbarei gewiesen haben, alle großen und guten Frauen und Männer, beteten, träumten, hofften und arbeiteten für diesen Augenblick – diesen Moment, diese Chance, diesen Höhepunkt, die letzte Seite in der Geschichte des Konflikts unter Menschen. Wir haben keinen Ansatzpunkt, sondern ein Ziel erreicht. Wir ...« Applaus unterbrach den Präsidenten, der leicht ungehalten reagierte, weil er die Störung nicht eingeplant hatte. Fowler lächelte breit und bat mit einer Geste erneut um Ruhe.
»Wir haben ein Ziel erreicht. Und ich habe die Ehre, Ihnen berichten zu dürfen, daß Amerika auf dem Weg zu Gerechtigkeit und Frieden vorangegangen ist.« Beifall. »Was auch angemessen ist, denn...«
»Ganz schön dick aufgetragen«, kommentierte Cathy Ryan.
»Kann man wohl sagen«, grunzte Jack in seinem Sessel und griff nach dem Weinglas. »Aber so läuft es eben. Auch solche Anlässe haben ihre Regeln. Das ist wie bei der Oper: Man muß sich an die Aufmachung halten. Außerdem haben wir es mit einer bedeutenden, ja kolossalen Entwicklung zu tun. Es bricht mal wieder der Frieden aus.«
»Wann fliegst du?« fragte Cathy.
»Bald«, erwiderte Jack.
»Die Sache hat natürlich ihren Preis, aber die Geschichte fordert Verantwortungsbewußtsein von jenen, die sie gestalten«, sagte Fowler im Fernsehen. »Wir haben die Aufgabe, den Frieden zu sichern. Wir müssen amerikanische Männer und Frauen zum Schutz des Staates Israel entsenden. Wir haben geschworen, dieses kleine und mutige Land gegen alle Feinde zu verteidigen.«
»Wer wären diese Feinde denn?« fragte Cathy.
»Weder Syrien noch der Iran sind im Augenblick über das Abkommen glüeklich. Und was den Libanon betrifft – nun ja, den gibt es als richtiges Land überhaupt nicht. Er ist nur eine Fläche auf der Karte, wo Menschen sterben. Auch Libyen und die vielen terroristischen Gruppen sind Feinde, die uns noch Sorgen machen.« Ryan leerte sein Glas und ging in die Küche, um es wieder zu füllen. Schade um den guten Wein, dachte Jack. So wie ich den runterkippe, könnte ich genausogut billigen Fusel aus dem Supermarkt trinken ...
»Es kommen auch finanzielle Belastungen auf uns zu«, erklärte Fowler gerade, als Ryan zurückkam.
»Also schon wieder eine Steuererhöhung«, murrte Cathy.
»Was hast du denn anderes erwartet?« meinte Ryan und dachte: Für fünfzig Millionen bin ich verantwortlich. Eine Milliarde hier, eine Milliarde dort...
»Wird das Abkommen denn wirklich einen Unterschied machen?« fragte sie.
»Ja. Zumindest wird sich erweisen, ob diese religiösen Führer zu ihrem Wort stehen oder nur Schwätzer sind. Wir haben sie nämlich in ihre eigene Falle gelockt, Schatz, oder, besser noch, über ihre sogenannten Prinzipien stolpern lassen. Nun müssen sie entweder nach ihren Glaubensgrundsätzen auf einen Erfolg hinarbeiten oder sich als Scharlatane zu erkennen geben.«
»Und ...?«
»Ich halte sie nicht für Scharlatane, sondern erwarte, daß sie zu ihren Prinzipien stehen. Sie haben keine andere Wahl.«
»Und dann hast du bald so gut wie nichts mehr zu tun?«
Jack entging ihr optimistischer Tonfall nicht. »Na, das steht noch nicht fest.«
Der Rede des Präsidenten folgten die Kommentare. Opposition meldete Rabbi Salomon Mendelew an, ein älterer New Yorker, der als einer der eifrigsten, manche sagten sogar fanatischsten Befürworter der Politik des Staates Israel galt, seltsamerweise das Land aber noch nie besucht hatte. Jack nahm sich vor, am nächsten Tag den Grund dafür herauszufinden. Mendelew führte eine kleine, aber umtriebige Fraktion der Israel-Lobby an und hatte praktisch als einziger die Schüsse auf dem Tempelplatz befürwortet oder zumindest Verständnis für sie aufgebracht. Er hatte einen Vollbart und trug eine schwarze Jarmulke und einen zerknitterten Anzug.
»Das ist Verrat am Staat Israel«, war seine Antwort auf die erste Frage. Zu Jacks Überraschung sprach er ruhig und überlegt. »Wenn die USA Israel zwingen, seinen rechtmäßigen Besitz zurückzugeben, verraten sie das historische Recht des jüdischen Volkes auf das Land seiner Väter und gefährden auch die Sicherheit des Staates aufs schwerste. Mit Waffengewalt werden Israels Bürger aus ihren Häusern vertrieben – wie vor fünfzig Jahren«, schloß er düster.
»Moment mal!« fuhr ein anderer Kommentator hitzig auf.
»Wie erregt diese Leute sind!« bemerkte Jack.
»Ich selbst habe im Holocaust Familienmitglieder verloren«, sagte Mendelew und klang noch immer sachlich. »Zweek des Staates Israel ist es, den Juden eine sichere Heimat zu geben.«
»Aber der Präsident schickt amerikanische Truppen ...«
»Wir haben auch amerikanische Truppen nach Vietnam geschickt«, versetzte Rabbi Mendelew. »Und Versprechungen gemacht und auch dort ein Abkommen geschlossen. Sicher kann Israel nur in Grenzen sein, die sich auch verteidigen lassen, und zwar von seinen eigenen Truppen. Amerika hat Israel so lange unter Druck gesetzt, bis es mit dem Abkommen einverstanden war. Fowler stoppte Waffenlieferungen an Israel, als ›Signal‹. Die Botschaft war deutlich: Entweder gebt ihr nach, oder es gibt ein Embargo. Das habe ich in Erfahrung gebracht, und das werde ich vor dem Auswärtigen Ausschuß des Senats auch beweisen.«
»O je«, bemerkte Jack leise.
»Scott Adler, der stellvertretende Außenminister, überbrachte die Botschaft persönlich, während Jack Ryan, der stellvertretende Direktor der CIA, in Saudi-Arabien dem König versprach, Amerika werde Israel an die Kandare nehmen. Das ist schon schlimm genug, aber wenn man bedenkt, daß Adler, der selbst Jude ist, so etwas fertigbringt ...« Mendelew schüttelte den Kopf.
»Der Mann hat gute Quellen.«
»Stimmt das, was er da sagt, Jack?«
»Nicht ganz, aber was Scott und ich im Nahen Osten taten, sollte geheim bleiben. Nur ein kleiner Kreis wußte, daß ich überhaupt auf Auslandsreise war.«
»Ich wußte Bescheid...«
»Aber du kanntest mein Ziel nicht. Laß mal, der Mann kann ein bißchen Lärm machen, aber nichts ausrichten.«
Am nächsten Tag begannen die Demonstrationen. Die Gegner des Abkommens hatten alles auf eine Karte gesetzt; es war ein letzter, verzweifelter Versuch. Die beiden Anführer waren russische Juden, denen erst vor kurzem die Ausreise aus der Sowjetunion, dem Land, das ihnen nur wenig Liebe entgegenbrachte, gestattet worden war. Nach der Ankunft in ihrer einzig wahren Heimat durften sie sich auf der West Bank ansiedeln, einem Teil Palästinas, den Israel Jordanien im Sechs-Tage-Krieg entrissen hatte. Ihre Wohnungen – für amerikanische Begriffe winzig, für russische hingegen unvorstellbar luxuriös – befanden sich in Fertigbaublocks, die an einem der für die Region typischen felsigen Hänge standen. Die Umgebung war ihnen neu und fremd, aber doch eine Heimat, für die zu kämpfen sie bereit waren. Anatolij, der sich inzwischen Nathan nannte, hatte einen Sohn, der schon Offizier bei der israelischen Armee war, und auch Davids Tochter diente. Die kürzliche Ankunft in Israel war für alle wie eine Erlösung gewesen – und nun sollten sie ihre Häuser verlassen müssen? Schon wieder? Sie hatten in letzter Zeit schon genug Krisen erlebt; was jetzt passierte, war eine zuviel.
Da ihr ganzes Haus von Emigranten aus Rußland bewohnt war, fiel es Anatolij und David nicht schwer, ein Kollektiv zu bilden und den Protest zu organisieren. Sie suchten sich einen orthodoxen Rabbi als spirituellen Führer – einen Geistlichen hatte ihre Siedlung noch nicht – und brachen mit Thora und Fahne nach Jerusalem auf. Selbst in einem so kleinen Land brauchte der Marsch seine Zeit, erregte aber unweigerlich die Aufmerksamkeit der Medien. Als die verschwitzten und erschöpften Marschierer ihr Ziel erreicht hatten, war die ganze Welt über ihren Zug und seinen Zweck informiert.
Die Knesset ist nicht unbedingt das gemächlichste Parlament der Welt. Das politische Spektrum reicht von der extremen Rechten bis zur harten Linken, und für die moderaten Kräfte der Mitte bleibt nur herzlich wenig Raum. Es wird oft geschrien, gestikuliert und auf jede verfügbare Oberfläche getrommelt. Das Ganze spielt sich unter den Augen von Theodor Herzl ab, verewigt auf einem Schwarzweißfoto, der der Begründer des Zionismus war und 1866 in seinem »judenstaat« die Vision einer sicheren Heimat für sein verfolgtes und mißhandeltes Volk darlegte. In der Knesset wird mit solcher Heftigkeit gestritten, daß sich ein Beobachter verwundert fragen muß, warum es in einem Land, dessen Bürger fast alle Reservisten sind und somit eine automatische Waffe im Schrank haben, bei lebhaften Debatten im Parlament nicht zu wüsten Schießereien kommt. Was Theodor Herzl von dem Chaos gehalten hätte, steht dahin. Es war Israels Plage, daß die Diskussionen zu leidenschaftlich geführt wurden und die Regierungskoalition in politischen und religiösen Fragen so stark polarisiert war. Fast jede Untersekte hatte ihr eigenes Territorium und entsandte deshalb einen Vertreter ins Parlament. Verglichen mit dieser Formel nimmt sich selbst Frankreichs oft fragmentierte Nationalversammlung wohlorganisiert aus, und dieses System machte es Israel nun schon seit einer Generation unmöglich, eine stabile Regierung mit einer schlüssigen Staatspolitik zu bilden.
Die Demonstranten, zu denen immer mehr Menschen gestoßen waren, trafen eine Stunde vor Beginn der Debatte über das Abkommen vor der Knesset ein. Schon galt der Sturz der Regierung für möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, und die gerade eingetroffenen Bürger schickten Emissäre zu jedem Mitglied der Knesset, das sie ausfindig machen konnten. Abgeordnete, die mit ihnen einig waren, traten vor das Gebäude und verurteilten das Abkommen mit flammenden Worten.
»Das gefällt mir nicht«, meinte Liz Elliot, die in ihrem Büro den Fernseher laufen hatte. Der politische Aufruhr in Israel war viel heftiger, als sie erwartet hatte. Auf ihren Wunsch war Ryan zugegen, um seine Einschätzung der Lage zu geben.
»Ja«, stimmte der DDCI zu, »das ist leider der einzige Aspekt, den wir nicht kontrollieren konnten.«
»Wie hilfreich, Ryan.« Auf Elliots Schreibtisch lagen die Ergebnisse einer Umfrage, die Israels renommiertestes demoskopisches Institut gehalten hatte. Von fünftausend Befragten waren 38 Prozent für das Abkommen, 41 Prozent dagegen, und 21 Prozent äußerten sich unentschieden. Diese Zahlen reflektierten ungefähr das Kräfteverhältnis in der Knesset, wo die Rechte geringfügig stärker war als die Linke und wo sich die wacklige Mitte aus Splittergruppen zusammensetzte, die allesamt auf ein günstiges Angebot von der einen oder anderen Seite warteten, das ihnen eine größere politische Bedeutung verschaffte.
»Scott Adler legte uns das schon vor Wochen dar. Wir wußten von Anfang an, daß die israelische Regierung nicht stabil ist. Wann hatte sie denn überhaupt in den letzten zwanzig Jahren eine sichere Mehrheit?«
»Aber wenn der Premier es nicht schafft...«
»Dann läuft Plan B wieder an. Sie wollten doch Druck ausüben, oder? Ihr Wunsch geht in Erfüllung.« Die einzige Frage, die wir nicht genau durchdacht haben, ging es Ryan durch den Kopf. Aber auch gründliche Überlegungen hätten nichts geholfen. Seit einer Generation herrschte in der israelischen Regierung Anarchie. Man hatte die Arbeit an dem Abkommen in der Annahme begonnen, daß die Knesset es, mit vollendeten Tatsachen konfrontiert, notgedrungen ratifizieren würde. Ryans Meinung zu diesem Thema war nicht eingeholt worden, aber er hielt diese Einschätzung dennoch für fair.
»Unser innenpolitischer Spezialist in der Botschaft hält die von unserem Freund Mendelew gesteuerte Splitterpartei für das Zünglein an der Waage«, merkte Elliot an, die sich bemühte, ruhig zu bleiben.
»Gut möglich«, räumte Jack ein.
»Das ist doch absurd!« fauchte Elliot. »Dieser lächerliche Knacker war ja noch nie im Land...«
»Das hängt mit seiner religiösen Überzeugung zusammen. Erst nach der Ankunft des Messias will er Israel besuchen.«
»Herr im Himmel!« rief die Sicherheitsberaterin.
»Genau der.« Ryan lachte und bekam einen giftigen Blick ab. »Liz, der Mann hat eben seine Überzeugungen. Sie mögen uns etwas exzentrisch vorkommen, aber die Verfassung verlangt, daß wir sie tolerieren und respektieren. So halten wir es in den USA.«
Elliot schüttelte die Faust in Richtung Fernseher. »Dieser Spinner ruiniert uns alles! Können wir denn gar nichts tun?«
»Was denn zum Beispiel?« Ihr Benehmen deutete auf mehr hin als nur auf Panik.
»Ach, ich weiß nicht – irgend etwas muß doch möglich sein...« Elliot wartete auf eine Reaktion ihres Besuchers.
Ryan beugte sich vor und wartete so lange, bis er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. »Die historischen Präzedenzfälle wären Jesus und Savonarola, lästige Prediger. So, und wenn Sie nun auf etwas Konkretes hinauswollen, sagen Sie es klar und deutlich. Wollen Sie einen Eingriff in das Parlament einer befreundeten Demokratie vorschlagen oder etwas Illegales innerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten?« Ryan machte eine Pause, in deren Verlauf ihr Blick schärfer wurde. »Weder das eine noch das andere kommt in Frage, Dr. Elliot. Lassen wir die Israelis ihre eigenen Entscheidungen treffen. Wenn Sie auch nur erwägen, mir einen Eingriff in Israels demokratischen Prozeß zu befehlen, bekommt der Präsident mein Rücktrittsschreiben so schnell, wie ich es ihm vorbeibringen kann. Wenn Sie sich laut wünschen, diesem kleinen alten Mann in New York sollte etwas zustoßen, erfüllt das den Tatbestand der kriminellen Verschwörung. Ganz abgesehen davon, daß ich eine wichtige Funktion in dieser Regierung habe, bin ich als normaler Bürger verpflichtet, mutmaßliche Verstöße gegen das Gesetz den zuständigen Behörden zu melden.« Wenn Blicke töten könnten, dachte Ryan, als er ihre Reaktion sah.
»Verdammt! Ich habe nie gesagt...«
»Dr. Elliot, Sie sind gerade in die gefährlichste aller Fallen getappt. Sie beginnen zu glauben, daß Ihr Wunsch, die Welt zu verbessern, wichtiger ist als die Prinzipien, von denen sich unsere Regierung bei ihrer Arbeit leiten lassen soll. Ich kann Sie an solchen Gedanken nicht hindern, versichere Ihnen aber, daß meine Behörde sich an derartigen Aktionen nicht beteiligen wird, solange ich ihr angehöre.« Das klang zwar sehr nach einer Moralpredigt, aber Ryan fand es nötig, Dr. Elliot spielte mit dem gefährlichsten aller Gedanken.
»So etwas habe ich nie gesagt!«
»Na schön, dann habe ich mich eben geirrt. Sie haben das weder gedacht noch ausgesprochen. Verzeihung. Lassen wir nun die Israelis entscheiden, ob sie das Abkommen ratifizieren oder nicht. Sie haben eine demokratisch gewählte Regierung und das Recht, diesen Entschluß selbst zu treffen. Wir haben das Recht, sie sanft in die richtige Richtung zu steuern und ihnen zu verstehen zu geben, daß die Höhe unserer Hilfe von ihrer Zustimmung zum Abkommen abhängt, aber es kommt nicht in Frage, daß wir in ihren Entscheidungsprozeß eingreifen. Es gibt Grenzen, die auch die US-Regierung nicht überschreiten darf.«
Die Sicherheitsberaterin rang sich ein Lächeln ab. »Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen über korrekte Regierungspolitik, Dr. Ryan. Das wäre alles.«
»Ich habe zu danken, Dr. Elliot. Ich empfehle übrigens, daß wir die Sache auf sich beruhen lassen. Das Abkommen wird trotz der Szenen, die wir gerade gesehen haben, Zustimmung finden.«
»Wieso?« Elliot zischte fast.
»Weil das Abkommen objektiv günstig für Israel ist. Das wird den Leuten klarwerden, sobald sie die Information erst einmal richtig verdaut haben. Und dann geraten die Volksvertreter unter Druck. Israel ist immerhin eine Demokratie, und Demokratien treffen im allgemeinen vernünftige Entscheidungen. Das ist eine historische Tatsache. Die Demokratie setzt sich auf der Welt zunehmend durch, weil sie funktioniert. Wenn wir in Panik geraten und übereilte Entscheidungen treffen, stören wir den Prozeß nur. Lassen wir ihm aber seinen Lauf, bekommen wir sehr wahrscheinlich ein positives Ergebnis.«
»Wahrscheinlich?« fragte Elliot spöttisch.
»Sicher ist nichts im Leben; es gibt nur Wahrscheinlichkeiten«, erklärte Ryan und dachte: Das sollte doch jedem klar sein. »Einmischung macht einen Mißerfolg wahrscheinlicher als Zurückhaltung. Inaktivität ist oft die richtige Haltung; in diesem Fall zum Beispiel. Überlassen wir die Frage der israelischen Politik. Ich bin der Auffassung, daß es funktionieren wird.«
»Schönen Dank für die Analyse«, sagte sie und wandte sich ab.
»Es war mir wie immer ein Vergnügen.«
Elliot wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, und fuhr dann herum. »Du arrogantes Arschloch! Dich säg’ ich ab!« fauchte sie.
Ryan stieg auf dem West Executive Drive in seinen Wagen. Du bist zu weit gegangen, sagte er sich.
Nein. Sie spielte mit gefährlichen Gedanken, und ich mußte ihr auf der Stelle den Kopf zurechtrücken.
Er hatte dieses Symptom schon öfter gesehen. Washington bewirkte schlimme Veränderungen in Menschen. Sie kamen voller Ideale, die sich in der schwülen, drückenden Atmosphäre aber schnell verflüchtigten. Sie wurden zu Gefangenen des Systems, wie die Leute sagten. Ryan dachte eher an geistigmoralische Umweltverschmutzung. Washington verätzte die Seele.
Und was macht dich immun? fragte sich Ryan und merkte nicht, daß Clark ihn im Rückspiegel beobachtete. Du bist dir treu geblieben, weil du deine Integrität gewahrt, nie nachgegeben hast, kein einziges Mal... oder? Er hätte manches anders machen können. Manches war nicht so erfolgreich verlaufen, wie er es sich gewünscht hätte.
Du bist gar nicht anders, kam die Erkenntnis. Das bildest du dir doch nur ein.
Solange ich mich diesen Fragen und den Antworten stellen kann, bin ich sicher.
»Und?«
»Nun, ich kann allerhand tun«, erwiderte Ghosn. »Aber nicht allein. Ich brauche Hilfe.«
»Und Schutz?«
»Das ist ein wichtiger Aspekt. Ich muß ganz ernsthaft die Möglichkeiten einschätzen und kann erst dann sagen, was ich genau brauche. Fest steht, daß ich auf bestimmten Gebieten Hilfe brauche.«
»Zum Beispiel?«
»Sprengstoff zum Beispiel.«
»Das ist doch Ihr Fach«, wandte Ghosn ein.
»Kommandant, dieses Projekt erfordert eine Präzision, mit der wir noch nie zu arbeiten gezwungen waren. Gewöhnlicher Plastiksprengstoff scheidet aus, weil er sich zu leicht verformt. Ich brauche Sprengstoffplatten, die so hart sind wie Stein, eine Fertigungstoleranz von einem Tausendstel Millimeter haben und deren Form mathematisch bestimmt werden muß. Die Theorie könnte ich mir noch aneignen, aber dazu bräuchte ich Monate. Ich würde meine Zeit lieber auf die Umarbeitung des spaltbaren Materials verwenden... und ...«
»Und was noch?«
»Ich glaube, daß ich die Bombe verbessern kann.«
»Wie denn?«
»Wenn ich das, was ich bisher gelesen habe, richtig interpretiere, ließe sich die Bombe in einen Zünder verwandeln.«
»In einen Zünder für was?« fragte Kati.
»Eine Fusionsbombe, eine Wasserstoffbombe. Das würde die Sprengkraft um das Zehn- oder gar Hundertfache erhöhen. Damit könnten wir Israel oder zumindest einen sehr großen Teil davon zerstören.«
Der Kommandant machte eine Pause, um das aufzunehmen. Dann sprach er leise weiter. »Aber Sie brauchen Unterstützung. Wo findet man die am besten?«
»Günther dürfte wertvolle Kontakte in Deutschland haben – wenn man ihm trauen kann.«
»Ich habe das bedacht. Günther ist vertrauenswürdig.« Kati erklärte warum.
»Ist diese Geschichte auch wahr?« fragte Ghosn. »Ich glaube ebensowenig an den Zufall wie Sie.«
»Eine deutsche Zeitung brachte ein Bild, das sehr echt aussah.«
Ein deutsches Boulevardblatt hatte sich ein Schwarzweißfoto verschafft, das den Tod durch Erhängen in allen grausigen Einzelheiten zeigte. Die Tatsache, daß Petras Oberkörper nackt war, hatte die Veröffentlichung des Bildes gesichert.
»Die Zahl der Leute, die darüber Bescheid wissen, muß so klein wie möglich bleiben, oder – Verzeihung, Kommandant.«
»Aber wir brauchen Hilfe. Das verstehe ich.« Kati lächelte. »Sie haben recht. Besprechen wir unsere Pläne mit unserem Freund. Schlagen Sie vor, daß wir die Bombe in Israel explodieren lassen?«
»Wo sonst? Es steht mir zwar nicht zu, solche Pläne zu machen, aber ich ging davon aus...«
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Eins nach dem anderen, Ibrahim. Wann fahren Sie nach Israel?«
»Nächste Woche oder so.«
»Warten wir ab, was aus diesem Abkommen wird.« Kati dachte nach. »Machen Sie sich an Ihre Studien. Wir wollen nichts übereilen. Stellen Sie fest, was Sie brauchen. Dann werden wir versuchen, es Ihnen am sichersten Ort zu besorgen.«
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber in der Politik kann alles, was zwischen fünf Minuten und fünf Jahren liegt, eine Ewigkeit bedeuten. Im vorliegenden Fall verstrichen knapp drei Tage, ehe der Durchbruch kam. Fünfzigtausend neue Demonstranten, angeführt von Kriegsveteranen, erschienen vor der Knesset, und diese Gruppe trat für das Abkommen ein. Wieder wurde gebrüllt und gefuchtelt, aber zu offener Gewalt kam es zur Abwechslung einmal nicht, weil die Polizei die fanatischen Massen auseinanderhielt.
Das Kabinett trat erneut in geschlossener Sitzung zusammen, und manche überhörten, manche registrierten den Lärm vor den Fenstern. Der Verteidigungsminister blieb bei der Diskussion überraschend still. Nur als er befragt wurde, erklärte er, daß die von den Amerikanern versprochenen zusätzlichen Waffen überaus nützlich seien: 48 Jagdbomber F-16, zum ersten Mal Schützenpanzer Bradley M-2/3 und Panzerabwehrraketen »Hellfire«. Ferner sollten sie Zugang zur Technologie einer revolutionären neuen Panzerkanone, die Amerika gerade entwickelte, erhalten. Außerdem waren die Amerikaner bereit, den Großteil der Kosten einer hochmodernen Übungsanlage im Negev zu tragen, die ähnlich aussehen sollte wie das National Training Center in Fort Irwin, Kalifornien, wo die Zehnte Kavallerie auf ihre Rolle als Manövergegner für israelische Einheiten ausgebildet wurde. Der Verteidigungsminister kannte den Effekt, den das NTC auf das amerikanische Heer gehabt hatte: Es war nun so professionell wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Er rechnete damit, daß die Kampfkraft der israelischen Streitkräfte durch die neuen Waffen und das Übungsgelände um 50 Prozent erhöht wurde. Hinzu rechnete er das Geschwader F-16 der US-Luftwaffe und das Panzerregiment, die beide, wie in einem geheimen Zusatzprotokoll des Verteidigungsabkommens festgehalten, Israel im Notfall zur Hilfe eilen würden. Israel bestimmte, wann der Verteidigungsfall eintrat. Dieses Zugeständnis war, wie der Außenminister betonte, in der amerikanischen Geschichte einmalig.
»Ist das Abkommen also unserer nationalen Sicherheit förderlich oder abträglich?« fragte der Premierminister.
»Es ist in Grenzen günstig«, räumte der Verteidigungsminister ein.
»Sie sind also einverstanden?«
Der Verteidigungsminister wägte für einen Augenblick ab, schaute dem Mann am Kopfende des Tisches festin die Augen und stellte die stumme Frage: Habe ich deine Unterstützung, wenn ich Premier werden will?
Der Premierminister nickte.
»Ich werde zu den Demonstranten sprechen. Wir können mit diesem Abkommen leben.«
Die Rede besänftigte zwar nicht alle, überzeugte aber ein Drittel der Vertragsgegner so weit, daß sie abzogen. Die schwache Mitte im israelischen Parlament verfolgte die Ereignisse, konsultierte ihr Gewissen und traf ihren Entschluß. Das Abkommen wurde mit knapper Mehrheit ratifiziert. Noch ehe das Vertragswerk den Auswärtigen und den Verteidigungsausschuß des amerikanischen Senats passiert hatte, begann seine Realisierung.