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Das Gelobte Land
Der amerikanische Luftstützpunkt Ramstein Air Base liegt in einem Tal, was Ryan leicht irritierte. Seiner Ansicht nach gehörte ein Flughafen auf plattes Land. Auf dem Stützpunkt war ein Geschwader F-16 stationiert; jeder Jagdbomber stand in seinem eigenen bombengesicherten und von Bäumen umgebenen Unterstand – die Deutschen konnten mit ihrer Manie für Grün selbst die radikalsten amerikanischen Umweltschützer beeindrucken. Das war einer der seltenen Fälle, in denen sich die Ziele der Ökopaxe mit den Anforderungen der Militärs deckten. Die Unterstände waren aus der Luft nur sehr schwer auszumachen, und auf manchen der Gebäude, die von den Franzosen errichtet worden waren, wuchsen sogar Bäume – eine sowohl vom ästhetischen als auch vom militärischen Standpunkt aus gesehen erfreuliche Tarnung.
Auf dem Stützpunkt gab es auch einige große Passagiermaschinen, darunter eine umgebaute Boeing 707 mit der Aufschrift »United States of America«. Diese kleinere Version der Maschine des Präsidenten wurde in Ramstein »Miss Piggy« genannt und stand dem Oberbefehlshaber der US-Luftwaffe in Europa zur Verfügung. Ryan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Hier gesellten sich auf einer umweltfreundlichen Anlage über 70 Kampfflugzeuge, deren Aufgabe die Vernichtung eben jener sowjetischen Streitkräfte war, die nun aus Deutschland abzogen, in friedlicher Eintracht zu einem Flugzeug, das Miss Piggy hieß. Verrückte Welt.
Andererseits garantierte das Fliegen mit der Air Force erstklassigen Service und VIP-Behandlung, die ihren Namen verdiente – in diesem Fall Unterkunft in dem hochkomfortablen Cannon Hotel. Der Stützpunktkommandant, ein Colonel, hatte Ryan an seiner VC-20B Gulfstream begrüßt und rasch zu den Unterkünften für hohe Besucher gebracht, wo er sich mit Hilfe des Inhaltes der Minibar die nötige Bettschwere verschaffte, um die Folgen des Jetlags in einem langen Schlaf zu minimieren. Alternativen gab es sowieso keine, denn das TV-Angebot bestand aus nur einem Programm, dem AFN. Als er um sechs Uhr Ortszeit steif und hungrig aufwachte, hatte er sich an die Zeitumstellung fast gewöhnt.
Zum Joggen verspürte Jack wirklich keine Lust; das redete er sich jedenfalls ein. In Wirklichkeit hätte er, selbst wenn ihm jemand eine Pistole an die Schläfe gehalten hätte, keine 800 Meter geschafft. Er entschied sich daher für einen flotten Spaziergang. Bald wurde er von Fitneß-Fanatikern überholt, junge und schlanke Männer, die bestimmt Jagdpiloten waren. Der Frühnebel hing noch in den Kronen der Bäume, die dicht an der Straße gepflanzt waren, und es war viel kühler als daheim.
Hin und wieder zerriß das Röhren der Düsentriebwerke die Stille – »The Sound of Freedom« hatte vierzig Jahre lang den Frieden gewahrt und ging den Deutschen nun auf die Nerven. Die Einstellungen änderten sich so rasch wie die Zeiten. Amerikas militärische Macht hatte ihr Ziel erreicht und gehörte nun, was die Deutschen anging, bereits der Vergangenheit an. Verschwunden die innerdeutsche Grenze, umgerissen die Zäune, entfernt die Wachtürme und Minen. Auf dem einstmals plattgewalzten Todesstreifen wuchsen nun Gras und Blumen. Anlagen im Osten, die einstmals auf Satellitenfotos studiert oder von westlichen Agenten mit großem finanziellen Aufwand und unter lebensgefährlichen Bedingungen ausgekundschaftet worden waren, standen nun den Schnappschuß-Touristen offen – unter denen sich auch Geheimdienstleute tummelten, die auf die Springflut der Veränderungen eher schockiert als nachdenklich reagierten. Manche fanden sich bei der Inspektion vor Ort in ihrem früheren Argwohn bestätigt, und andere wiederum mußten feststellen, daß sie völlig schiefgelegen hatten.
Ryan schüttelte den Kopf. Das Ganze war mehr als erstaunlich. Die Deutschlandfrage war schon vor seiner Geburt der Kernpunkt des Ost-West-Konflikts gewesen, Thema genug für Informationspapiere, Geheimdienstanalysen und Presseberichte, um das ganze Pentagon mit Altpapier zu füllen. All die Mühe, die Detailstudien und kleinlichen Streitereien – vorbei, bald vergessen. Selbst Historiker würden nie die Energie aufbringen, alle die Daten zu sichten, die man einmal für wichtig gehalten hatte – für lebenswichtig –, die aber nun kaum mehr waren als eine umfangreichere Fußnote zum Zweiten Weltkrieg. Dieser Luftstützpunkt zum Beispiel, erbaut für Flugzeuge, die russische Maschinen abschießen und eine sowjetische Offensive zerschlagen sollten, wurde nun, da in dessen Wohnsiedlungen bald deutsche Familien einziehen würden, zu einem kostspieligen Anachronismus. Und was wird aus den Flugzeugbunkern? fragte sich Ryan. Weinkeller vielleicht?
»Halt!« Ryan blieb stehen und drehte sich um. Der Befehl kam von einer jungen Soldatin der Air Force, die ein Gewehr M-16 trug.
»Hab’ ich was falsch gemacht?«
»Ihren Ausweis, bitte.« Die junge Frau war attraktiv und sehr nüchtern. Außerdem hatte sie Verstärkung dabei, die im Wald auf der Lauer lag. Ryan gab ihr seinen CIA-Dienstausweis.
»So was hab’ ich noch nie gesehen, Sir.«
»Ich bin gestern abend mit der VC-20 gekommen und wohne im Cannon, Zimmer 109. Colonel Parker kann das bestätigen.«
»Wir haben Alarmbereitschaft, Sir«, sagte sie und griff nach dem Funkgerät.
»Tun Sie ruhig Ihre Pflicht, Miss – Verzeihung, Sergeant Wilson. Meine Maschine geht erst um zehn.« Ryan lehnte sich an einen Baumstamm und streckte sich. Ein zu schöner Morgen, um sich groß aufzuregen – auch nicht über zwei Bewaffnete, die keine Ahnung hatten, wer er war.
»Roger.« Sergeant Becky Wilson schaltete das Funkgerät ab. »Der Colonel sucht Sie, Sir.«
»Halte ich mich auf dem Rückweg am Burger King links?«
»Ja, Sir.« Sie gab ihm lächelnd seine Karte zurück.
»Danke, Sergeant. Verzeihen Sie die Störung.«
»Soll ich einen Wagen kommen lassen? Der Colonel wartet.«
»Ich gehe lieber zu Fuß. Der Colonel ist zu früh dran, er soll ruhig warten.« Ryan entfernte sich und ließ die junge Frau über die Wichtigkeit eines Mannes spekulieren, der es sich leisten konnte, den Stützpunktkommandanten auf den Stufen vor dem Cannon warten zu lassen. Ryan marschierte zehn Minuten zügig voran; sein Orientierungssinn ließ ihn trotz der fremden Umgebung und des Zeitunterschieds von sechs Stunden nicht im Stich.
»Morgen, Sir!« rief Ryan, als er guter Laune über eine Mauer auf den Parkplatz sprang.
»Ich habe ein kleines Frühstück mit dem Stab des OB arrangiert. Wir hätten gern Ihre Einschätzung der Lage in Europa gehört.«
Jack lachte. »Großartig! Und ich will Ihre hören.« Ryan ging auf sein Zimmer, um sich umzuziehen. Was bringt diese Leute auf die Idee, daß ich mehr weiß als sie? fragte er sich. Andererseits hatte er kurz vor dem Abflug vier Neuigkeiten erfahren. Die aus der Ex-DDR abziehenden sowjetischen Truppen waren mißmutig über den Mangel an Unterkünften in der Heimat. Mitglieder der ehemaligen Volksarmee waren über ihre Zwangspensionierung weit aufgebrachter, als man in Washington ahnte, und hatten vermutlich in früheren Stasi-Mitarbeitern Verbündete gefunden. Und schließlich war zwar ein rundes Dutzend Mitglieder der RAF in Ostdeutschland festgenommen worden, aber mindestens ebenso viele hatten sich abgesetzt, ehe das BKA zuschlagen konnte. Aus diesem Grund, erfuhr Ryan, war man in Ramstein in Alarmbereitschaft.
Die VC-20B startete kurz nach zehn und ging auf Südkurs. Arme Narren, diese Terroristen, dachte er, die ihr Leben, ihre Kraft und ihren Intellekt einer Sache gewidmet haben, die nun noch rascher verschwindet als die deutsche Landschaft unter mir. Wie zurückgelassene Kinder müssen sie sich fühlen. Ohne Freunde. Sie hatten sich in der CSSR und DDR versteckt und von dem bevorstehenden Zusammenbruch dieser beiden kommunistischen Staaten nichts geahnt. Wo sollten sie jetzt Unterschlupf finden? In Rußland? Ausgeschlossen. In Polen? Ein Witz. Ihre Welt hat sich jäh verändert, dachte Ryan und lächelte wehmütig, und ein weiterer Umschwung steht ihnen noch bevor. Ihre letzten Freunde werden sich bald wundern. Vielleicht, korrigierte er sich. Vielleicht ...
»Hallo, Sergej Nikolajewitsch«, hatte Ryan gesagt, als ein Besucher vor einer Woche sein Büro betrat.
»Tag, Iwan Emmetowitsch«, hatte der Russe erwidert und die Hand ausgestreckt, die bei ihrer letzten Begegnung auf dem Flughafen Scheremetjewo bei Moskau eine Waffe gehalten hatte. Das war weder für S. N. Golowko noch für Ryan ein guter Tag gewesen, aber es hatte sich, wie das Schicksal so spielt, alles zum Guten gewendet. Golowko war für seinen fast erfolgreichen Versuch, den Vorsitzenden des KGB an der Flucht in den Westen zu hindern, zum Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden dieser Organisation gemacht worden. Ein Erfolg hätte ihn nicht ganz so weit gebracht, aber nachdem dem Präsidenten seine Einsatzbereitschaft aufgefallen war, ging es mit seiner Karriere steil aufwärts. Golowkos Leibwächter saß im Vorzimmer und unterhielt sich mit John Clark.
»Nicht gerade beeindruckend«, meine Golowko und warf einen abschätzenden Blick auf die Wände aus Gipsplatten. Über dem Kleiderständer hing das einzige Foto im Raum, das mit Präsident Fowler, neben einem anständigen Gemälde, einer Leihgabe aus Regierungsbeständen.
»Jedenfalls habe ich eine schönere Aussicht als Sie, Sergej Nikolajewitsch. Steht der eiserne Felix noch auf dem Platz?«
»Vorerst noch.« Golowko lächelte. »Wie ich höre, ist Ihr Direktor nicht in der Stadt.«
»Stimmt, der Präsident brauchte seinen Rat.«
»Zu welchem Thema denn?« fragte Golowko mit einem schiefen Lächeln.
»Keine Ahnung«, versetzte Ryan lachend und dachte: zu allen möglichen Themen.
»Tja, es ist nicht leicht für uns beide.« Auch der neue KGB-Vorsitzende war kein Nachrichtendienst-Fachmann. Nicht ungewöhnlich; häufig war der Chef dieses finsteren Apparates aus der Partei gekommen, aber da inzwischen auch diese der Vergangenheit angehörte, hatte Narmonow einen Computerexperten an die Spitze seines wichtigsten Nachrichtendienstes gesetzt. Neue Ideen sollten den KGB effizienter machen. Ryan wußte, daß Golowko inzwischen einen IBM-PC auf dem Schreibtisch stehen hatte.
»Sergej, ich habe schon immer gesagt: Wenn Vernunft die Welt regierte, wäre ich arbeitslos. Aber sehen Sie sich bloß die Lage an. Kaffee?«
»Gerne, Jack«, meinte Golowko und lobte einen Augenblick später das Gebräu.
»Nancy füllt mir jeden Morgen die Maschine. Nun, was kann ich für Sie tun?«
»Diese Frage hat man mir schon oft gestellt, aber noch nie in einer solchen Umgebung.« Golowko lachte dröhnend. »Jack, fragen Sie sich auch manchmal, ob das Ganze nicht bloß ein Traum ist, bei dem wir alle unter Drogen stehen?«
»Nein. Ich hab’ mich kürzlich beim Rasieren geschnitten, bin aber nicht aufgewacht.«
Golowko murmelte etwas auf russisch, das Ryan nicht verstand. Seinen Übersetzern aber würde es beim Auswerten der Bänder nicht entgehen.
»Ich bin derjenige, der das Parlament über unsere Aktivitäten informiert. Ihr Direktor war so freundlich, unserer Bitte um Rat zu entsprechen.«
Diese Chance ließ Ryan sich nicht entgehen. »Kein Problem, Sergej Nikolajewitsch. Lassen Sie einfach alle Ihre Informationen über meinen Schreibtisch laufen. Ich sage Ihnen dann gerne, wie sie am besten zu präsentieren sind.«
Golowko spielte mit. »Gerne, aber dafür hätte der Vorsitzende kein Verständnis. « Es wurde Zeit, das Geplänkel abzustellen und zum Geschäft zu kommen.
»Wir erwarten ein quid pro quo«, eröffnete Ryan die Verhandlungen.
»Und das wäre?«
»Informationen über die Terroristen, die Sie früher unterstützt haben.«
»Das geht nicht«, erwiderte Golowko glatt heraus.
»Wieso nicht?«
»Ein Nachrichtendienst muß Loyalität wahren, wenn er funktionieren soll.«
»Wirklich? Erzählen Sie das Fidel Castro, wenn Sie ihn wieder mal sehen«, schlug Ryan vor.
»Langsam blicken Sie durch, Jack.«
»Danke, Sergej. Meine Regierung hat auf die jüngsten Äußerungen Ihres Präsidenten zum Thema Terrorismus mit Befriedigung reagiert. Der Mann ist mir sympathisch, das wissen Sie. Gemeinsam verändern wir die Welt. Und Sie selbst waren doch auch gegen die Unterstützung, die Ihre Regierung diesen widerlichen Typen gewährte.«
»Wie kommen Sie darauf?« fragte der Erste Stellvertretende Vorsitzende.
»Sergej, als Geheimdienstfachmann können Sie unmöglich die Aktionen dieser undisziplinierten Kriminellen gutheißen. Ich empfinde das ebenfalls so, aber bei mir hat das noch einen persönlichen Grund.« Ryan lehnte sich zurück; seine Miene verhärtete sich. Niemals würde er vergessen können, daß Scan Miller und die anderen Mitglieder der Ulster Liberation Army zwei ernste Versuche gestartet hatten, ihn und seine Familie umzubringen. Erst vor drei Wochen waren Miller und seine Komplizen, nachdem sie alle rechtlichen Mittel einschließlich Petitionen an das Oberste Bundesgericht, den Präsidenten der Vereinigten Staaten und den Gouverneur von Maryland ausgeschöpft hatten, einer nach dem anderen in Baltimore in die Gaskammer gegangen. Möge der Herr ihnen gnädig sein, dachte Ryan. Dieses Kapitel war nun endgültig abgeschlossen.
»Und der kürzliche Fall?«
»Mit den Indianern? Das unterstreicht nur mein Argument. Diese sogenannten Revolutionäre beschafften sich ihr Geld mit Rauschgifthandel. Warten Sie nur, die Gruppen, die von Ihnen finanziert wurden, werden sich gegen Sie wenden und Ihnen in ein paar Jahren größere Probleme bereiten als uns.« Beide wußten natürlich, daß diese Einschätzung korrekt war. Die Verbindung von Terrorismus und Drogenhandel begann den Sowjets Kummer zu machen, denn auf dem kriminellen Sektor begriff man die Regeln der freien Marktwirtschaft am schnellsten. Und das fand Ryan ebenso bedenklich wie Golowko. »Nun, was meinen Sie dazu?«
Golowko neigte den Kopf. »Ich werde dem Vorsitzenden den Vorschlag unterbreiten. Er wird bestimmt einverstanden sein.«
»Wissen Sie noch, was ich vor zwei Jahren in Moskau sagte? Wozu Diplomaten und lange Verhandlungen, wenn wir Profis die Sache unter uns regeln können?«
»Ich hätte jetzt eher mit einem Kipling-Zitat gerechnet«, versetzte der Russe trocken. »Nun, wie gehen Sie mit Ihrem Kongreß um?«
Jack lachte in sich hinein. »Ganz einfach: Wir sagen die Wahrheit.«
»Bin ich elftausend Kilometer weit geflogen, um mir das anzuhören?«
»Man wählt eine Handvoll Abgeordnete aus, auf deren Verschwiegenheit man sich verlassen kann und die das Vertrauen aller ihrer Kollegen genießen – das ist das Hauptproblem –, und informiert sie über alles, was sie wissen müssen. Allerdings bedarf es gewisser Grundregeln, an die sich alle Beteiligten halten müssen – und zwar immer.« Ryan legte eine Pause ein. Es ging ihm gegen den Strich, vor einem Kollegen vom Fach so zu dozieren.
Golowko runzelte die Stirn. Nie gegen die Regel zu verstoßen, das war natürlich nicht einfach. Bei Nachrichtendiensten geht nicht immer alles sauber nach Vorschrift, und Russen haben eine konspirative Ader.
»Bei uns funktioniert das gut«, fügte Ryan hinzu.
Wirklich? fragte er sich insgeheim. Sergej muß wissen, ob dieses System klappt oder nicht ... er muß zum Beispiel wissen, ob wir seit Peter Henderson einen Ostagenten im Kongreß haben ... andererseits weiß er auch, daß wir trotz der krankhaft übersteigerten Geheimniskrämerei des KGB viele seiner Operationen herausgefunden haben. Das hatten die Sowjets selbst öffentlich eingestanden: Die große Zahl von Überläufern hatte viele sorgfältig geplante KGB-Operationen gegen die USA und den Westen ruiniert. Wie in Amerika schirmte die Geheimhaltung auch in der Sowjetunion Fehlschläge ebenso wie Erfolge ab.
»Letzten Endes ist es eine Frage des Vertrauens«, sagte Ryan nach einer weiteren Pause. »Ihre Parlamentarier sind Patrioten. Würden sie den Streß des Politikerdaseins ertragen, wenn sie ihr Land nicht liebten? Bei uns ist das nicht anders.«
»Man genießt die Macht«, entgegnete Golowko.
»Nicht unbedingt; jedenfalls nicht die intelligenten Leute, mit denen Sie zu tun haben werden. Gewiß, Idioten gibt es immer, auch bei uns. Zum Glück aber existieren auch kluge Leute, die wissen, daß politische Macht eine Illusion ist, und sie stehen noch nicht auf der Roten Liste. Die Pflichten sind immer größer als die Macht. Keine Angst, Sergej, Sie werden es vorwiegend mit Leuten zu tun bekommen, die so klug und ehrlich sind wie Sie.«
Golowko quittierte das Kompliment des Kollegen mit einem knappen Nikken. Seine frühere Einschätzung war korrekt gewesen: Ryan hatte den Durchblick. Vielleicht sind wir keine richtigen Gegner mehr, dachte er, höchstens Konkurrenten, die einander respektieren.
Ryan schaute seinen Besucher wohlwollend an und freute sich, ihn überrascht zu haben. Außerdem hoffte er, daß Golowko einen gewissen Oleg Kirilowitsch Kadischow, CIA-Codename SPINNAKER, für das parlamentarische Kontrollkomitee vorschlagen würde. Kadischow galt bei den Medien als einer der brillantesten Köpfe in dem wichtigtuerischen sowjetischen Parlament, der sich bemühte, ein neues Land aufzubauen; seine Intelligenz und Integrität standen im Widerspruch zu der Tatsache, daß er seit Jahren auf der Gehaltsliste der CIA stand und der beste aller von Mary Pat Foley angeworbenen Agenten war. Das Spiel geht weiter, dachte Ryan und fügte mit einigem Bedauern hinzu: wahrscheinlich auf immer und ewig. Andererseits spionierte Amerika selbst gegen Israel, und zwar unter dem Motto »die Dinge im Auge behalten«. Von einer »Operation« gegen dieses Land sprach man nie. Das hätten die Wachhunde im Parlament sofort durchsickern lassen. Armer Sergej, dachte Ryan, du hast noch viel zu lernen!
Zum Mittagessen führte Ryan seinen Gast in die Kantine der CIA-Führung. Er war überrascht, daß Golowko das Essen besser fand als KCB-Standardmenüs. Die Leiter der Direktorate und ihre Stellvertreter fanden sich ebenfalls in der Kantine ein, um dem Russen die Hand zu schütteln und sich mit ihm fotografieren zu lassen. Nach einer letzten Gruppenaufnahme fuhr Golowko mit dem Aufzug hinunter in die Tiefgarage, wo sein Wagen stand. Anschließend suchten die Leute der Abteilungen »Wissenschaft und Technik« und »Sicherheit« alle Korridore und Räume, die Golowko und sein Leibwächter betreten hatten, nach Wanzen ab und wiederholten die Prozedur noch mehrere Male, bis sicher feststand, daß der Gast tatsächlich die Gelegenheit ungenutzt hatte verstreichen lassen. »Nichts ist mehr wie früher«, hatte ein Mann von W&T geklagt.
Als Ryan an den Kommentar dachte, mußte er lachen. In der Tat entwickelte sich alles mit atemberaubender Geschwindigkeit. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und zog den Gurt stramm. Die VC-20 näherte sich den Alpen, wo es zu Turbulenzen kommen konnte.
»Darf ich Ihnen eine Zeitung bringen, Sir?« fragte die Flugbegleiterin, eine hübsche Frau im Rang eines Staff Sergeant, verheiratet und schwanger. Es war Ryan unangenehm, sich von ihr bedienen zu lassen.
»Was haben Sie denn?«
»Die International Herald Tribune.«
»Vorzüglich!« Ryan nahm das Blatt und schnappte nach Luft. Da war das Bild, auf der Titelseite – ein Schwachkopf mußte es der Presse zugespielt haben. Golowko, Ryan und die Chefs der Direktorate W & T, Operationen, Verwaltung, Archiv und Aufklärung einträchtig beim Mittagessen. Natürlich waren die Identitäten der Amerikaner nicht geheim, aber trotzdem...
»Kein sehr schmeichelhaftes Bild, Sir«, merkte die Flugbegleiterin grinsend an. Ryan störte das nicht.
»Wann soll das Kind kommen, Sergeant?«
»In fünf Monaten, Sir.«
»Dann kommt es in eine bessere Welt als unsere alte. Setzen Sie sich doch bitte. Ich bin nicht progressiv genug, um mich von einer Schwangeren bedienen zu lassen.«
Die Herald Tribune ist ein gemeinschaftliches Unternehmen der New York Times und der Washington Post und erscheint in Paris. Das Blatt, das amerikanische Geschäftsleute im Ausland mit lebensnotwendigen Americana wie Football-Resultaten und den neuesten Comics versorgt, wird seit der Wende auch im ehemaligen Ostblock von Leuten, die ihr Englisch verbessern und sich über den früheren Klassenfeind informieren wollen, gerne gelesen. Die vorzügliche Informationsquelle fand so viele neue Leser, daß das amerikanische Management die Redaktion vergrößerte und dafür sorgte, daß das Blatt in Prag, Budapest und Warschau den Abonnenten durch Boten zugestellt wurde.
Einer dieser Stammleser war Günther Bock. Nachdem ihn ein Freund, der bei der Stasi war, gewarnt hatte, verließ er Ostdeutschland vor einigen Monaten recht hastig und lebte nun in Sofia. Zusammen mit seiner Frau Petra hatte Bock Zellen der Baader-Meinhof-Gruppe und später, nachdem diese von der westdeutschen Polizei zerschlagen worden war, der RAF geleitet. Zweimal war er knapp der Festnahme entgangen. Danach hatte er sich über die tschechische Grenze abgesetzt und schließlich in der DDR quasi zur Ruhe gesetzt. Mit einem neuen Namen, neuen Papieren und einer festen Anstellung – er kam zwar nie zur Arbeit, aber seine Papiere waren in Ordnung – wähnte er sich in Sicherheit. Weder er noch Petra hatten mit dem Volksaufstand gerechnet, der die DDR-Machthaber stürzte, und gehofft, die Wende unerkannt überstehen zu können. Der Sturm der Demonstranten auf das Ministerium für Staatssicherheit und die Vernichtung von Millionen von Akten hatten sie ebenfalls überrascht. Es waren jedoch nicht alle Dokumente zerstört worden, denn unter den Demonstranten waren Agenten des Bundesnachrichtendienstes gewesen, die genau gewußt hatten, in welchen Räumen sie wüten mußten. Innerhalb weniger Tage begannen RAF-Mitglieder abzutauchen. Anfangs war es nicht einfach gewesen, sich ein Bild von der Lage zu verschaffen. Das verlotterte Telefonsystem der DDR erschwerte die Kommunikation, und die Ex-Terroristen waren aus naheliegenden Sicherheitsgründen in verschiedenen Städten untergebracht worden. Als ein anderes Ehepaar nicht wie abgemacht zum Abendessen erschien, hatten Günther und Petra Lunte gerochen – zu spät allerdings. Während der Ehemann die Flucht vorbereitete, trat ein fünfköpfiges Team von GSG-9 die dünne Tür der Bockschen Wohnung in Ostberlin ein. Die Männer fanden Petra beim Stillen eines der Zwillinge vor. Trotz der rührenden Szene konnten sie angesichts der Tatsache, daß Petra Bock drei Deutsche ermordet hatte, einen davon sehr brutal, kein Mitleid aufbringen. Petra saß nun in Stammheim eine lebenslange Freiheitsstrafe ab – was im Klartext hieß, daß sie das Gefängnis erst im Sarg verließ -, und die beiden kleinen Töchter wurden von einem Münchner Polizeibeamten und seiner Frau, die keine Kinder bekommen konnte, adoptiert.
Zu seiner Überraschung mußte Bock feststellen, wie sehr ihn der Verlust der Familie schmerzte. Immerhin war er ein Revolutionär, der sich seiner Sache verschworen und für sie getötet hatte. Warum war er dann über die Inhaftierung seiner Frau und den Verlust seiner Kinder so entsetzlich aufgebracht? Doch er konnte das Lächeln der beiden Kleinen, deren Augen und Nase wie die der Mutter waren, nicht vergessen. Wenigstens wußte er, daß ihnen kein Haß auf ihn eingetrichtert werden würde, denn sie wußten nichts von Günthers und Petras früherer Existenz. Er hatte sich einer Sache verschrieben, die größer und wichtiger war als seine physische Existenz, und zusammen mit seinen Genossen bewußt und entschieden auf eine bessere Welt für die Massen hingearbeitet. In diesem Sinne wollten sie ihre Kinder erziehen, damit die nächste Generation der Bocks die Früchte der heroischen Anstrengungen ihrer Eltern ernten konnte. Und das sollte ihm nun versagt bleiben. Günther Bock empfand kalten Haß.
Bedrückender noch war seine Konfusion. Das Unvorstellbare war geschehen. Das Volk des Ersten Arbeiter- und Bauernstaates hatte sich revolutionär gegen seinen fast perfekten sozialistischen Staat erhoben und für ein von den Kräften des Imperialismus errichtetes monströses Ausbeutersystem entschieden, verführt von den Verlockungen des Konsums allein? Bock konnte trotz seiner Intelligenz keinen rationalen Zusammenhang erkennen, konnte sich nicht zu der Erkenntnis durchringen, daß die Menschen seines Landes den »wissenschaftlichen Sozialismus« geprüft und als nicht praktikabel verworfen hatten.
Er hatte zu lange für den Marxismus gelebt, um ihn nun leugnen zu können, und ohne den theoretischen Überbau und das revolutionäre Ethos war er nichts weiter als ein gewöhnlicher Krimineller und gemeiner Mörder. Und nun hatten seine Wohltäter diese Werte summarisch abgelehnt. Einfach unmöglich. Unmöglich.
Und unfair, daß so viel Unmögliches auf einmal passiert war. Er faltete die Zeitung auf, die er zwanzig Minuten zuvor sieben Straßen von seiner derzeitigen Unterkunft entfernt gekauft hatte. Das Foto auf der Titelseite stach ihm sofort ins Auge.
»Schwachsinn«, murmelte Günther Bock, als er die Bildunterschrift las: CIA BEWIRTET KGB!
»Als neue bemerkenswerte Wendung in erstaunlichen Zeiten empfing die CIA den Stellvertretenden Vorsitzenden des KGB zu einer Konferenz, bei der ›Themen von gemeinsamem Interesse‹ für die beiden weltgrößten Geheimdienst-Imperien erörtert wurden ...«, hieß es in dem Artikel. »Aus zuverlässigen Quellen verlautete, daß bei diesem neuesten Kapitel der Zusammenarbeit zwischen Ost und West unter anderem ein Austausch von Informationen über die zunehmend enger werdenden Verbindungen zwischen dem internationalen Terrorismus und Rauschgifthandel vereinbart wurde. CIA und KGB werden zusammenarbeiten, um...«
Bock ließ die Zeitung sinken und starrte aus dem Fenster. Wie alle Terroristen wußte er, wie es ist, wenn man wie gehetztes Wild gejagt wird. Das war der Weg, den er zusammen mit Petra und den Genossen gewählt hatte. Ihr Auftrag war klar: alle ihre Fähigkeiten gegen den Feind einzusetzen. Der Kampf der Kräfte des Lichts gegen die Mächte der Finsternis. Im Augenblick mußten die Kräfte des Lichts sich zwar verstecken, aber das war nebensächlich. Früher oder später, wenn die Massen die Wahrheit erkannten und sich auf die Seite der Revolutionäre stellten, würde es einen Umschwung geben. Unangenehm war nur, daß sich die Massen für einen anderen Weg entschieden hatten und die dunklen Verstecke für die Kräfte des Lichts immer seltener wurden.
Nach Bulgarien war er aus zwei Gründen gekommen. Es war von allen ehemaligen Ostblockländern das rückständigste und hatte die Wende vom kommunistischen Standpunkt aus einigermaßen geordnet durchgezogen. Die Kommunisten waren, wenngleich unter anderem Namen, noch am Ruder und hielten einen politisch sicheren oder wenigstens neutralen Kurs. Der bulgarische Geheimdienst, der früher dem KGB die Killer gestellt hatte – inzwischen machten sich die Sowjets die Hände nicht mehr schmutzig –, war noch mit verläßlichen Freunden durchsetzt. Verläßlich? dachte Bock. Noch waren die Bulgaren im Bann ihrer russischen Herren, die sich nun Partner nannten, und wenn der KGB in der Tat mit der CIA kooperierte, verringerte sich die Zahl der sicheren Orte um eine Dezimalstelle.
Bock hätte bei dem Gedanken an die zunehmend größer werdende Gefahr eine Gänsehaut bekommen sollen, aber sein Gesicht wurde rot vor Zorn und zuckte. Als Revolutionär hatte er immer geprahlt, die ganze Welt stünde gegen ihn – aber immer in der inneren Gewißheit, daß die Dinge nicht so standen, daß es so weit nie kommen würde. Nun jedoch schienen sich seine Prahlereien zu bewahrheiten. Noch gab es Zufluchtsorte und zuverlässige Kontakte. Aber wie viele? Wann begannen sich vertrauenswürdige Freunde den Veränderungen anzupassen? Sowjets und Deutsche, Polen und Tschechen, Ungarn und Rumänen – sie alle hatten den Sozialismus verraten. Welches Bruderland war als nächstes an der Reihe?
Sah man denn nicht die Falle dieser unglaublichen Verschwörung der konterrevolutionären Kräfte? Ohne Not verwarf man die strukturierte Freiheit in einer perfekten Gesellschaftsordnung, geprägt von Chancengleichheit, Gerechtigkeit, sozialem Frieden ...
Konnte das alles eine Lüge, ein entsetzlicher Fehler gewesen sein? Hatten er und Petra die feigen Ausbeuter umsonst getötet?
Aber darauf kam es Günther Bock im Augenblick nicht an. Bald würde er wieder auf der Flucht sein, bald sollte sein sicherer Platz zum Jagdrevier für seine Feinde werden. Wenn die Bulgaren den Russen Einsicht in ihre Akten gewährten, wenn im KGB die richtigen Männer im richtigen Büro saßen, konnte sein neuer Name inklusive Adresse schon unterwegs nach Washington sein. Ein Tip von dort an den BND, und er würde innerhalb von einer Woche nicht weit von Petras Zelle in Stammheim sitzen.
Petra mit dem dunkelblonden Haar und den schelmischen blauen Augen. Tapfer wie ein Mann. Kalt im Umgang mit Feinden, liebevoll zu ihren Genossen. In ihrer Mutterrolle ebenso erfolgreich wie bei allen anderen Aufgaben, die sie in Angriff genommen hatte. Nun aber verraten von angeblichen Freunden, eingesperrt wie ein Tier, ihrer Kinder beraubt. Petra, seine Genossin, Geliebte, Ehefrau, überzeugte Mitstreiterin. Um ihr Leben betrogen. Und nun jagte man ihn noch weiter von ihr weg. Irgendwie mußte es einen Weg geben, die Vergangenheit wieder zurückzuholen. Doch zunächst war die Flucht das Wichtigste.
Bock legte die Zeitung weg und räumte in der Küche auf. Danach packte er einen Koffer und verließ die Wohnung. Da der Aufzug mal wieder streikte, ging er die vier Treppen hinunter und stieg draußen in eine Straßenbahn ein. Neunzig Minuten später war er am Flughafen. Er reiste mit einem Diplomatenpaß, trug fünf weitere im Futter seines russischen Koffers versteckt und hatte als umsichtiger Mann dafür gesorgt, daß drei der Pässe die Nummern von Reisedokumenten trugen, die auf tatsächlich existierende bulgarische Diplomaten ausgestellt waren; hiervon wußte das bulgarische Außenministerium nichts. So war ihm die Benutzung des wichtigsten Transportmittels für internationale Terroristen, das Flugzeug, garantiert. Noch vor der Mittagszeit hob seine Maschine ab und flog gen Süden.
Ryans Maschine landete kurz vor zwölf Uhr Ortszeit auf einem Militärflugplatz bei Rom und zufällig kurz nach einer anderen VC-20B des 89. Transportgeschwaders, die aus Moskau gekommen war. Die schwarze Limousine auf dem Vorfeld wartete auf die Insassen beider Flugzeuge.
Der stellvertretende Außenminister Scott Adler begrüßte Ryan mit einem dezenten Lächeln.
»Nun?« rief Ryan laut, um den Fluglärm zu übertönen.
»Alles klar.«
»Donnerwetter!« sagte Ryan und ergriff Adlers Hand. »Mit wie vielen Wundern können wir in diesem Jahr noch rechnen?«
»Wie viele dürfen’s denn sein?« Der Karrierediplomat Adler war aus der Rußlandabteilung des State Departments aufgestiegen, beherrschte die Sprache fließend und kannte die Sowjetunion und ihre gegenwärtige und vergangene Politik besser als die meisten anderen Regierungsmitglieder, russische eingeschlossen. »Wissen Sie, woran man sich am schwersten gewöhnt?«
»Immer da zu hören anstatt njet?«
»Genau, da verliert man den Spaß am Verhandeln. Diplomatie kann unglaublich öde sein, wenn beide Seiten Vernunft zeigen.« Adler lachte, als der Wagen anfuhr.
»Jetzt steht uns wohl beiden eine neue Erfahrung bevor«, merkte Ryan völlig nüchtern an und drehte sich nach »seiner« Maschine um, die für den Weiterflug klar gemacht wurde. Von nun an sollten Adler und er gemeinsam reisen.
Mit der üblichen schweren Eskorte jagten sie auf das Zentrum von Rom zu. Die Roten Brigaden, vor ein paar Jahren fast ausgerottet, waren wieder aktiv, und die Italiener schützten ausländische Würdenträger aus Prinzip sorgfältig. Neben dem Fahrer saß ein humorloser Bursche mit einer kleinen Beretta. Zwei Autos fuhren der Limousine voraus, zwei folgten. Eingekesselt war das Ganze von so vielen Krafträdern, daß man hätte glauben können, es handele sich um ein Moto-Cross. Bei der raschen Fahrt durch die uralten Straßen von Rom sehnte Ryan sich ins Flugzeug zurück, denn jeder italienische Autofahrer schien Ambitionen für die Formel 1 zu haben. Mit Clark am Steuer eines unauffälligen Wagens auf einer spontan gewählten Route hätte sich Ryan sicherer gefühlt, aber in seiner derzeitigen Position zählten bei den Sicherheitsvorkehrungen nicht nur praktische, sondern auch protokollarische Kriterien. Es gab natürlich noch einen anderen Grund...
»Es geht doch nichts über einen unauffälligen Empfang«, murmelte Jack.
»Nicht aufregen. Den großen Bahnhof gibt es hier immer. Sind Sie zum ersten Mal in Rom?«
»Ja. Wollte schon lange hin, kam aber nie dazu. Ich interessiere mich für die Kunst und die Geschichte.«
»Da gibt’s eine Menge zu sehen«, stimmte Adler zu. »Und was die Geschichte anbetrifft – meinen Sie, daß wir nun auch welche machen?«
Ryan wandte sich seinem Kollegen zu. Die Vorstellung, Geschichte zu machen, war für ihn ein vollkommen neuer Gedanke. Und ein gefährlicher. »Das gehört nicht zu meinem Job, Scott.«
»Sie wissen ja, was passiert, wenn diese Sache klappt.«
»Ehrlich gesagt, habe ich mir über die Konsequenzen noch keine Gedanken gemacht.«
»Das sollten Sie aber tun. Keine Tat bleibt ungestraft.«
»Reden Sie von Minister Talbot?«
»Nein, von meinem Chef ganz bestimmt nicht.«
Ryan schaute nach vorne und sah, wie ein Laster der Fahrzeugkolonne hastig auswich. Der italienische Polizist an der rechten Flanke der Motorrad-Eskorte hatte seinen Kurs um keinen Millimeter geändert.
»Es geht mir nicht um die Meriten. Ich hatte nur eine Idee, das ist alles. Und jetzt bin ich das Vorauskommando.«
Adler schüttelte leicht den Kopf und schwieg. Wie konnte sich dieser Mann so lange im Regierungsdienst halten? fragte er sich.
Die gestreiften Anzüge der Schweizergarde hatte Michelangelo entworfen. Wie die roten Waffenröcke der britischen Guards waren auch sie Relikte aus einer längst vergangenen Zeit, die man weniger aus praktischen Erwägungen als aus touristisch-kommerziellen Zwecken beibehielt. Die Männer mit ihren Waffen sahen richtig urig aus. Die Wächter des Vatikans trugen Hellebarden, häßliche, langschäftige Hackinstrumente, mit denen die Infanterie früher die Ritter von den Pferden geholt oder notfalls auch nur den Gaul verletzt hatte. War ein Ritter in seiner Rüstung erst einmal aus dem Sattel, wurde er ohne viel Federlesens geknackt wie ein Hummer. Viele Leute finden mittelalterliche Waffen romantisch, dachte Ryan, aber was man mit ihnen anstellte, war alles andere als romantisch. Ein modernes Gewehr mochte den Körper des Gegners durchlöchern, aber dieses alte Kriegsgerät hatte ihn zerstückelt. Sinn und Zweck war in beiden Fällen das Töten. Nur sorgte das Gewehr für »saubere« Beerdigungen.
Die Garde war auch mit Gewehren des schweizerischen Herstellers SIG ausgerüstet und trug nicht ausschließlich Renaissance-Kostüme. Seit dem Anschlag auf den Papst hatten viele Männer eine zusätzliche Ausbildung erhalten – unauffällig natürlich, denn martialische Praktiken paßten nicht zum Image des Vatikans. Ryan fragte sich, wie der Vatikan offiziell zum Todesschuß stand und ob der Kommandeur der Schweizergarde sich ärgerte, weil Vorgesetzte, die weder die Art der Bedrohung noch etwas von der Notwendigkeit durchgreifender Schutzmaßnahmen verstanden, ihm Beschränkungen auferlegten. Bestimmt aber nutzten die Männer der Garde ihren Spielraum, so gut sie konnten, murrten, wenn sie unter sich waren, und äußerten, wenn ihnen der Zeitpunkt recht erschien, ihre Meinung – wie jeder in diesem Geschäft.
Empfangen wurden sie von einem irischen Bischof namens Shamus O’Toole, dessen dichter roter Haarschopf einen schrillen Kontrast zu seiner Kleidung abgab. Ryan stieg als erster aus dem Wagen, und es schoß ihm die Frage durch den Kopf: Muß ich nun O’Tooles Ring küssen? Er wußte es nicht; einen richtigen Bischof hatte er seit seiner Kommunion nicht mehr gesehen. O’Toole löste dieses Problem geschickt und drückte Ryan herzhaft die Hand.
»Überall auf der Welt begegnet man Iren«, sagte er und grinste breit.
»Irgend jemand muß ja für Ordnung sorgen.«
»Wohl wahr!« Nun begrüßte der Bischof Adler, der, da er Jude war, nicht im Traum daran dachte, jemandes Ring zu küssen. »Kommen Sie mit, meine Herren!«
O’Toole führte sie in ein Gebäude, dessen Geschichte ein dreibändiges gelehrtes Werk und dessen Kunst und Architektur einen Bildband gerechtfertigt hätten. Die geschickt in die Türrahmen integrierten Metalldetektoren im zweiten Stock waren nur für Experten, wie Jack einer war, zu bemerken. Wie im Weißen Haus, dachte er. Nicht alle Männer der Schweizergarde waren in Uniform. Einige Leute, die in Zivil durch die Korridore streiften, wirkten zu jung und zu fit, um Bürokraten zu sein. Ryan hatte dennoch den Eindruck, sich in einem Zwischending aus Museum und Kloster zu befinden. Die Priester trugen Soutanen, und die ebenfalls zahlreich anwesenden Nonnen gingen in Tracht und nicht, wie ihre amerikanischen Schwestern, in Halbzivil. Ryan und Adler wurden kurz in einem Wartezimmer alleine gelassen – nicht, um ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, sondern um ihnen Gelegenheit zu geben, das Ambiente zu genießen. Ryan betrachtete bewundernd eine Madonna von Tizian, während Bischof O’Toole die Besucher anmeldete.
»Erstaunlich. Hat der Mann jemals ein kleines Bild gemalt?« murmelte Ryan.
Adler lachte leise. »Auf jeden Fall verstand er es, eine Miene, einen Blick und einen Moment festzuhalten. Ah, es ist soweit.«
»Gut«, sagte Ryan, der sich erstaunlich zuversichtlich fühlte.
»Gentlemen!« rief O’Toole von der offenen Tür her. »Hier entlang, bitte.« Sie gingen durch ein zweites Vorzimmer mit zwei unbesetzten Schreibtischen auf eine riesige, über vier Meter hohe Doppeltür zu.
Giovanni Kardinal D’Antonios Arbeitszimmer wäre in Amerika für Bälle oder Staatsbankette benutzt worden. Die Decke zierten Fresken, die Wände waren mit blauer Seide bespannt, und die Teppiche auf dem uralten Parkett hatten die Größe eines mittelgroßen Wohnzimmers. Das Mobiliar, die vermutlich neuesten Objekte im Raum, schien mindestens zweihundert Jahre alt zu sein: Die Polstermöbel waren mit Brokat bezogen und hatten geschwungene, blattgoldbelegte Beine. Das silberne Kaffeeservice war ein dezenter Hinweis, wo Ryan sich hinzusetzen hatte.
Der Kardinal kam mit dem Lächeln, das vor Jahrhunderten ein König einem favorisierten Minister geschenkt haben mochte, von seinem Schreibtisch auf sie zu. D’Antonio war ein kleiner Mann, der, seiner Leibesfülle nach zu urteilen, gerne gut aß. Tabakgeruch verriet eine Angewohnheit, die er mit seinen knapp siebzig Jahren eigentlich schon aufgegeben haben sollte. Sein rundliches Gesicht strahlte eine derbe Würde aus. D’Antonio war der Sohn eines sizilianischen Fischers, und der verschmitzte Blick seiner braunen Augen ließ auf einen etwas rauhen Charakter schließen, den seine fünfzig Jahre im Dienst der Kirche nicht hatten überdecken können. Ryan wußte von seiner Herkunft und konnte sich leicht vorstellen, wie er früher zusammen mit seinem Vater die Netze eingeholt hatte. D’Antonios Derbheit war eine nützliche Tarnung für einen Diplomaten, und das war der Beruf des Kardinals, wenn auch vielleicht nicht seine Berufung. Dieser Mann, der, wie viele seiner Kollegen im Vatikan, mehrere Sprachen beherrschte, ging seinem Handwerk seit dreißig Jahren nach und bemühte sich mangels militärischer Macht mit Schlauheit um den Frieden auf der Welt. Er war ein einflußreicher Agent, an vielen Orten willkommen und immer bereit, zuzuhören oder guten Rat zu geben. Natürlich begrüßte er Adler zuerst.
»Schön, Sie wiederzusehen, Scott.«
»Es ist mir wie immer ein Vergnügen, Eminenz.« Adler ergriff die ausgestreckte Hand und setzte sein Diplomatenlächeln auf.
»Und Sie sind Dr. Ryan. Wir haben schon viel von Ihnen gehört.«
»Hoffentlich nur Gutes, Eminenz.«
»Nehmen Sie doch bitte Platz.« D’Antonio wies auf ein Sofa, das so wertvoll aussah, daß Ryan kaum wagte, sich zu setzen. »Kaffee?«
»Ja, gerne«, sagte Adler für beide. Bischof O’Toole schenkte ein und setzte sich dann, um Notizen zu machen. »Sehr freundlich von Ihnen, uns so kurzfristig zu empfangen.«
»Ach was!« Ryan war ziemlich überrascht, den Kardinal eine Zigarrenspitze aus der Tasche holen zu sehen. D’Antonio schnitt die Brasil mit einem silbernen Instrument ab und zündete sie mit einem goldenen Feuerzeug an, ohne sich für das Laster zu entschuldigen. Es war, als habe der Kardinal die Würde abgelegt, um seinen Gästen die Befangenheit zu nehmen. Wahrscheinlich hält er sich bei der Arbeit gerne an einer Zigarre fest, dachte Ryan, wie Bismarck.
»Sie sind mit der groben Skizzierung unseres Konzepts vertraut«, begann Adler.
»Si. Ich muß sagen, ich finde es hochinteressant. Der Heilige Vater machte vor einiger Zeit einen ähnlichen Vorschlag.«
Ryan merkte auf. Das war ihm unbekannt.
»Ich verfaßte damals eine Studie über diese Initiative«, sagte Adler. »Der schwache Punkt war die Frage der Sicherheit, aber das hat sich nach dem Golfkrieg geändert. Sie wissen natürlich, daß unser Konzept nicht ganz...«
»Ihr Konzept ist für uns akzeptabel«, erklärte D’Antonio und hob majestätisch seine Zigarre. »Wie können wir uns einem solchen Vorschlag entgegenstellen?«
»Genau das, Eminenz, wollten wir hören.« Adler griff nach seiner Kaffeetasse. »Und Sie haben keine Vorbehalte?«
»Sie werden feststellen, daß wir sehr flexibel sind, solange alle Beteiligten guten Willen zeigen. Wenn alle Parteien gleichberechtigt sind, unterstützen wir vorbehaltlos Ihren Vorschlag.« Die Augen des Alten funkelten. »Die Frage ist nur: Können Sie den gleichen Status für alle garantieren?«
»Ich glaube schon«, erwiderte Adler ernst.
»Wenn wir nicht allesamt Scharlatane sind, sollte das möglich sein. Wie stehen die Sowjets dazu?«
»Sie werden sich nicht einmischen. Mehr noch, wir hoffen auf ihre offene Unterstützung. Auf jeden Fall, angesichts ihrer derzeitigen Probleme...«
»Genau. Sie können von einer Entspannung in der Nahost-Region, der Stabilisierung verschiedener Märkte und der Verbesserung des internationalen Klimas nur profitieren.«
Erstaunlich, dachte Ryan. Verblüffend, mit welcher Selbstverständlichkeit man die Veränderungen auf der Welt bereits aufgenommen hat – als hätte man sie kommen gesehen. In Wirklichkeit aber war niemand auf sie gefaßt gewesen. Hätte jemand vor zehn Jahren so etwas prophezeit, wäre er für verrückt erklärt worden.
»Sehr richtig.« Der stellvertretende Außenminister stellte seine Tasse ab. »Nun zur Frage der Bekanntmachung.«
Wieder eine Geste mit der Zigarre. »Sie möchten sicherlich, daß der Heilige Vater das übernimmt.«
»Sehr aufmerksam! Genau das wäre unser Wunsch.«
»Nun, ganz verkalkt bin ich noch nicht«, versetzte der Kardinal. »Geben wir vorab etwas an die Presse?«
»Lieber nicht.«
»Gut, Diskretion ist für uns kein Problem. Aber wie sieht es in Washington aus? Wer ist über diese Initiative informiert?«
»Nur sehr wenige Leute.« Ryan machte zum ersten Mal den Mund auf. »So weit, so gut.«
»Aber Ihre nächste Station ...?« D’Antonio war über das Ziel der nächsten Etappe nicht informiert worden, konnte sich aber denken, wohin die Reise ging.
»Dort könnte es Probleme geben«, erwiderte Ryan vorsichtig. »Nun, wir werden sehen.«
»Der Heilige Vater und ich werden für Ihren Erfolg beten.«
»Vielleicht werden Ihre Gebete diesmal erhört«, meinte Adler.
Fünfzig Minuten später startete die VC-20B wieder, gewann über der Küste an Höhe und überflog dann in südöstlicher Richtung auf dem Weg zu ihrem nächsten Ziel die Halbinsel Italien.
»Donnerwetter, das ging aber flott«, meinte Ryan, als die Warnleuchte erlosch. Er blieb trotzdem angeschnallt. Adler steckte sich eine Zigarette an und blies Rauch gegen das Kabinenfenster.
»Jack, das war eine von den Situationen, wo es entweder schnell oder überhaupt nicht geht.« Er drehte sich um und lächelte. »Sie sind allerdings selten.«
Der Flugbegleiter brachte eine Meldung, die gerade über Fax eingegangen war.
»Was ist denn jetzt schon wieder los?« murrte Ryan.
In Washington fehlt einem oft die Zeit, eine einzige Zeitung geschweige denn gar mehrere Blätter zu lesen. Damit Regierungsbeamte wissen, was die Presse über sie und ihre Taten sagt, wird ein täglicher Pressespiegel zusammengestellt. Die Frühausgaben der wichtigsten US-Zeitungen gelangen via Linienmaschinen nach Washington und werden noch vor Sonnenaufgang auf Berichte über die Regierungsarbeit hin überprüft. Relevante Artikel werden ausgeschnitten, und die Zusammenstellung geht dann in Tausenden von Fotokopien an die verschiedenen Dienststellen. Dort wiederum setzen Beamte das Selektionsverfahren fort, indem sie Berichte anstreichen, die für ihre Vorgesetzten interessant sind. Besonders qualvoll ist diese Wahl im Weißen Haus, wo sich das Personal per definitionem für alles interessiert.
Dr. Elizabeth Elliot war als Sonderberaterin für Fragen der nationalen Sicherheit dem Sicherheitsberater Dr. Charles Alden direkt unterstellt. Liz Elliot, auch »E. E.« genannt, trug ein schickes Leinenkostüm. Der derzeitige Trend bei »Power«-Kleidung ging zur femininen Linie – und trug damit der Erkenntnis Rechnung, daß selbst für den begriffsstutzigsten Mann der Unterschied zwischen den Geschlechtern unübersehbar ist. Warum also sollte man diese Wahrheit optisch zu vertuschen versuchen? Die Wahrheit war, daß Dr. Elliot recht gut aussah und diese Tatsache durch ihre Kleidung gerne unterstrich. Sie war mit einssiebzig relativ groß, hatte sich dank langer Arbeitstage und spärlicher Mahlzeiten eine schlanke Figur bewahrt und haßte es, unter Charlie Alden die zweite Geige spielen zu müssen. Obendrein war Alden Yale-Absolvent; sie hingegen hatte bis vor kurzem in Bennington Politikwissenschaft gelehrt und konnte nicht ertragen, daß der Universität Yale ein höherer Prestigewert zugeschrieben wurde.
Die Arbeitsbelastung im Weißen Haus war weniger als noch vor einigen Jahren, zumindest im Bereich Nationale Sicherheit. Präsident Fowler verzichtete auf eine Frührunde. Auf der Welt ging es entspannter zu als während der Amtsperioden seiner Vorgänger, und Fowlers Hauptprobleme waren innenpolitischer Natur. Über diese informierte er sich, indem er am Morgen zwei Nachrichtenprogramme gleichzeitig sah; eine Angewohnheit, die seine Frau auf die Palme und seine Untergebenen zum Lachen gebracht hatte. So brauchte Dr. Alden erst um acht zum Dienst zu erscheinen, um sich informieren zu lassen und dem Chef dann um halb zehn einen Vortrag zu halten. Da Fowler mit der CIA nur ungern direkt zu tun hatte, war es E. E., die kurz nach sechs die Depeschen und Meldungen durchsah, mit den CIA-Beamten vom Dienst konferierte – gegen diese hatte auch sie eine Aversion – und sich mit Leuten vom Außen- und Verteidigungsministerium besprach. Außerdem las sie die Presseübersicht und strich für ihren Chef, den schätzenswerten Dr. Charles Alden, wichtige Artikel an.
»Als wär’ ich eine Tippse!« fauchte E. E.
Alden war für sie praktisch ein Widerspruch in sich. Ein Liberaler, der knallhart redete, ein Schürzenjäger, der für die Gleichberechtigung der Frau eintrat, ein freundlicher, rücksichtsvoller Mann, der es wahrscheinlich genoß, sie zur Funktionärin zu degradieren. Weniger wichtig fand sie, daß er die Weltlage scharfsinnig beobachtete und erstaunlich genaue Prognosen abgeben konnte und ein Dutzend geistreicher und substantieller Bücher verfaßt hatte. Für sie zählte nur, daß er ihr vor die Nase gesetzt worden war. Fowler hatte ihr den Posten nämlich schon versprochen, als er noch ein aussichtsloser Präsidentschaftskandidat gewesen war. Daß Alden im Eckbüro des Westflügels und sie im Souterrain landete, war Ergebnis eines politischen Kuhhandels. Diese Konzession hatte der Vizepräsident auf dem Parteikonvent eingeklagt und darüber hinaus noch ein Büro, das eigentlich ihr zugestanden hätte, einem seiner Leute zugeschanzt. Sie wurde also in den Keller verbannt. Als Gegenleistung stieg der Vizepräsident in Fowlers Team ein und führte den Wahlkampf so unermüdlich, daß nach Ansicht vieler Kommentatoren ihm der Sieg zu verdanken war. Der Vize hatte Kalifornien eingebracht, und ohne die Stimmen dieses Staates säße J. Robert Fowler noch heute als Gouverneur in Ohio. Und so mußte sich Elizabeth Elliot mit einem siebzehn Quadratmeter großen Kabuff im Souterrain abfinden und dazu noch für einen Yalic, der sich einmal im Monat in einer Talkshow spreizte und mit ihr als Hofdame mit Staatsoberhäuptern parlierte, Sekretärin und Verwaltungsassistentin spielen.
Dr. Elizabeth Elliot war in ihrer notorischen üblen Morgenlaune. Sie verließ ihr Arbeitszimmer und holte sich in der Kantine eine Tasse Kaffee. Das starke Gebräu aus der Maschine machte ihre Laune noch schlechter, aber sie fing sich und setzte ein Lächeln auf, mit dem sie das Sicherheitspersonal, das jeden Morgen am Eingang zum Westflügel ihren Ausweis prüfte, nie bedachte; für sie waren das einfach nur Bullen, und um die brauchte man sich nicht zu kümmern. Das Essen wurde von Marinestewards serviert. Positiv daran war nur, daß sie überwiegend Minoritäten angehörten, und die vielen Filipinos unter ihnen waren in E. E.’s Augen ein skandalöses Überbleibsel aus Amerikas Kolonialzeit. Wichtig im Haus waren nur die politischen Beamten, für die E. E. ihren schwach entwickelten Charme reservierte; langgediente Sekretärinnen und Beamte waren bloße Bürokraten und zählten nicht. Die Agenten vom Secret schenkten Elizabeth Elliot etwa so viel Beachtung wie dem Hund des Präsidenten, wenn er einen gehabt hätte. Für die Agenten und Beamten, die den Betrieb im Weißen Haus ungeachtet des Kommens und Gehens diverser Wichtigtuer in Gang hielten, war E. E. eine von den vielen Personen, die ihren Aufstieg parteipolitischen Taktiken verdankten und im Lauf der Zeit wieder verschwanden. Für Kontinuität sorgten nur die Leute vom Fach, die treu ihre Pflicht taten, wie sie es im Diensteid gelobt hatten. Im Weißen Haus herrschte ein altes Kastensystem: Jede Gruppe fühlt sich allen anderen überlegen.
E. E. kehrte in ihr Zimmer zurück, stellte den Kaffee ab und reckte sich gründlich. Ihr Drehsessel war bequem – insgesamt fand sie die Ausstattung erstklassig und weitaus besser als in Bennington –, aber die endlosen Wochen der langen Arbeitstage hatten nicht nur einen seelischen, sondern auch körperlichen Tribut gefordert. Es wird Zeit, daß ich mich wieder sportlich betätige oder wenigstens mal einen Spaziergang mache, sagte sie sich. Viele ihrer Kollegen vertraten sich in der Mittagspause die Beine; manche liefen sogar. Junge Frauen, besonders die ledigen, joggten mit den im Haus tätigen Offizieren vom Militär – zweifellos, weil sie die bei den Soldaten üblichen kurzen Haare und schlichten Gemüter attraktiv fanden. Doch da E. E. keine Zeit für solche Spielereien hatte, beschränkte sie sich auf ein paar Streckübungen und setzte sich dann leise fluchend an ihren Tisch. Sie, Lehrstuhlinhabcrin an Amerikas bedeutendstem Frauen-College, mußte für einen verfluchten Yalie die Sekretärin spielen. Aber da Meckern nichts änderte, ging sie wieder an die Arbeit.
Sie hatte die Presseschau zur Hälfte durchgearbeitet, blätterte um und hob ihren gelben Filzstift. Der Umbruch war schlampig; E. E., die einen schon pathologisch zu nennenden Ordnungssinn hatte, ärgerte sich über die schiefen Spalten. Oben auf Seite elf stand ein kurzer Artikel aus dem Hartford Courant mit der Überschrift: VATERSCHAFTSKLAGE GEGEN ALDEN. Ihre Hand mit der Kaffeetasse hielt in der Luft inne. Das kann doch nicht wahr sein, dachte E. E.
». . . Ms. Marsha Blum beschuldigt Professor Charles W. Alden, früherer Leiter des Fachbereichs Geschichte an der Universität in Yale und jetziger Sicherheitsberater von Präsident Fowler, der Vater ihrer neugeborenen Tochter zu sein. Die junge Frau, die an ihrer Dissertation über russische Geschichte arbeitet, bezieht sich auf ein zweijähriges Verhältnis mit Dr. Alden und klagt wegen unterlassener Unterhaltszahlungen...«
»Der geile Bock«, flüsterte Elliot.
Da hatte sie nicht unrecht. Dr. Alden hatte wegen seiner amourösen Eskapaden bereits Seitenhiebe von der Washington Post einstecken müssen. Charlie jagte jedem Kleidungsstück hinterher, in dem eine Frau steckte.
Marsha Blum ... Jüdin? spekulierte E. E. Hm, hat der Kerl doch tatsächlich eine seiner Doktorandinnen gevögelt und ihr sogar ein Kind verpaßt. Komisch, daß sie nicht abgetrieben, die Sache aus der Welt geschafft hat. Ist sie sauer, weil sie von ihm abserviert wurde?
Und dieser Typ soll heute noch nach Saudi-Arabien fliegen...
Das dürfen wir nicht zulassen ...
Dieser Schwachkopf hatte keinen Ton gesagt, zu niemandem. Sonst hätte ich davon erfahren, dachte sie grimmig. So was wird als Scheißhausparole verbreitet. Vielleicht hatte er gar nichts von der Schwangerschaft gewußt. Konnte die kleine Blum so sauer auf Charlie sein? E. E. lächelte süffisant. Klar, warum nicht?
Elliott griff nach dem Telefonhörer ... und hielt kurz inne. Man rief den Präsidenten nicht wegen einer x-beliebigen Sache in seinem Schlafzimmer an. Und ganz besonders nicht, wenn man von einem Vorfall zu profitieren hoffte.
Andererseits ...
Was würde der Vizepräsident sagen? Immerhin war Alden sein Protege und sittenstreng. Er hatte Charlie schon vor drei Monaten ermahnt, sich bei seinen Weibergeschichten zurückzuhalten. Tja, und nun hatte Alden die schlimmste politische Sünde begangen: Er war erwischt worden, mit der Hand im Honigtöpfchen. E. E. lachte hart auf. Der Schwachkopf hat sich nicht entblödet, eine Hupfdohle aus dem Seminar zu bumsen! Und so was will dem Präsidenten sagen, wie die Staatsgeschäfte zu führen sind. Diese Vorstellung löste fast ein spitzes Kichern aus.
Nun denn, erst mal zur Schadensbegrenzung.
Die Feministinnen würden natürlich ausrasten und die Dummheit der kleinen Blum, die die angeblich ungewollte Schwangerschaft nicht auf emanzipierte Art geregelt hatte, ignorieren. Ihr Bauch gehörte schließlich ihr. In den Augen der Emanzen war Alden, der ausgerechnet für einen angeblich profeministischen Präsidenten arbeitete, ein mieser Pascha, der eine »Schwester« ausgenutzt hatte.
Es war auch zu erwarten, daß die Abtreibungsgegner aufheulten – noch lauter sogar. Diese Gruppe hatte kürzlich einen intelligenten Schachzug gemacht – für E. E. ein wahres Wunder – und zwei stockkonservative Senatoren eine Gesetzesvorlage einbringen lassen, die Väter zwang, für ihre uneheliche Nachkommenschaft zu sorgen. Wenn man die Abtreibung schon verbot – das war selbst diesen Neandertalern aufgegangen –, mußte jemand für die unerwünschten Kinder aufkommen. Außerdem hatte sich dieser Verein mal wieder die Moral auf die Flagge geschrieben und die Fowler-Administration schon mehrmals heftig attackiert. Für die radikale Rechte war Alden von nun an nichts anderes als ein verantwortungsloser Lüstling – zum Glück ein weißer – in einer Regierung, die ihr sowieso zuwider war.
E. E. überdachte einige Minuten lang alle Aspekte, zwang sich dazu, die Optionen leidenschaftslos abzuschätzen und den Fall auch von Aldens Gesichtspunkt aus zu sehen. Was konnte er tun? Die Vaterschaft abstreiten? Das würde ein Gentest, dem sich zu unterziehen Alden vermutlich nicht den Mumm hatte, klären. Und wenn er Farbe bekannte... nun, heiraten konnte er die Kleine, die laut Zeitung erst vierundzwanzig war, wohl kaum. Zahlte er Unterhalt, gestand er damit einen groben Verstoß gegen die Standesehre, denn Professoren durften eigentlich nicht mit ihren Studentinnen ins Bett gehen. Wie in der Politik galt auch an den Universitäten die Regel: Du sollst dich nicht erwischen lassen. Was bei einem Fakultätsessen nur eine urkomische Anekdote war, wurde in der Presse zum Skandal.
Charlie ist weg vom Fenster, sagte sie sich, und ausgerechnet zu diesem günstigen Zeitpunkt...
Sie tippte die Telefonnummer des Schlafzimmers ein.
»Hier Dr. Elliot. Ich muß den Präsidenten sprechen.« Eine Pause; nun fragte der Secret-Service-Agent den Präsidenten, ob er das Gespräch annehmen wollte. Hoffentlich hockt der Chef nicht auf dem Klo! dachte E. E.
Am anderen Ende wurde eine Hand von der Muschel genommen. E. E. hörte das Summen eines Elektrorasierers und dann eine barsche Stimme.
»Was gibt’s, Elizabeth?«
»Mr. President, es gibt ein kleines Problem, über das ich Sie gleich informieren muß.«
»Sofort?«
»Ja, Sir, auf der Stelle. Die Sache kann großen Schaden anrichten.«
»1st etwas über unsere Initiative durchgesickert?«
»Nein, Mr. President, es geht um einen anderen, potentiell sehr ernsten Fall.«
»Na schön, kommen Sie in fünf Minuten rauf. Ich nehme an, Sie können abwarten, bis ich mir die Zähne geputzt habe.«
»Gut, in fünf Minuten, Sir.«
Die Verbindung wurde unterbrochen. Elliot legte langsam den Hörer auf. Fünf Minuten reichten ihr nicht. Hastig holte sie ihr Kosmetiketui aus einer Schublade und eilte zur Toilette. Ein rascher Blick in den Spiegel ... nein, erst eine Magnesiumtablette, um den Magen gegen die Auswirkungen des Kaffees zu schützen. Dann richtete sie Frisur und Make-up ... gut so. Noch die Rouge-Akzente korrigieren ...
Dr. phil. Elizabeth Elliot marschierte steif in ihr Arbeitszimmer zurück, blieb noch eine halbe Minute stehen, um sich innerlich zu sammeln, griff dann nach der Presseschau und ging zum Aufzug, der schon da war. In der offenen Tür stand ein Mann vom Secret Service, der ihr freundlich lächelnd einen guten Morgen wünschte – aber nur, weil er grundsätzlich höflich war, selbst zu einem arroganten Biest wie E. E.
»Wohin?«
Dr. Elliot schenkte ihm ihr charmantestes Lächeln. »Nach oben«, antwortete sie dem verdutzten Agenten.