Prolog:
Der zerbrochene Pfeil
»Wie der Wolf im Pferch.« Diese Zeile von Lord Byron zitierten automatisch die meisten Kommentatoren, wenn sie den syrischen Angriff auf die von Israel besetzten Golanhöhen am Samstag, den 6. Oktober 1973 um 14 Uhr Ortszeit schilderten. Wahrscheinlich hatten die literarisch gebildeten unter den syrischen Offizieren genau das im Sinn, als sie letzte Hand an ihre Pläne für eine Operation legten, die den Israelis mehr Panzer und Artillerie entgegenschleudern sollte, als sich Hitlers Panzergeneräle jemals träumen ließen.
Die Schafe jedoch, die die syrische Armee an diesem grausigen Tag im Oktober vorfand, glichen eher angriffslustigen Widdern als den sanftmütigen Tieren der Pastorale. Obwohl im Verhältnis eins zu neun unterlegen, waren die beiden israelischen Brigaden auf dem Golan Elite-Einheiten. Den Norden der Höhen hielt die 7. Brigade, deren Linien, eine raffinierte, in Starrheit und Flexibilität fein ausgewogene Verteidigungsanlage, kaum nachgaben. Einzelne starke Stellungen wurden hartnäckig gehalten und lenkten die syrischen Vorstöße in felsige Hohlwege, wo sie von Panzerreserven, die hinter der Demarkationslinie lauerten, abgeschnitten und zerschlagen werden konnten. Als am zweiten Tag Verstärkung nachrückte, war die Lage noch unter Kontrolle – wenn auch nur knapp. Am Ende des vierten Tages lag die syrische Panzerarmee, die über die 7. Brigade hergefallen war, in rauchenden Trümmern.
Die Barak-(»Blitz«-)Brigade hielt den südlichen Abschnitt der Höhen und hatte weniger Glück. Hier begünstigte das Terrain die Verteidiger nicht so sehr, und hier schienen die syrischen Verbände auch fähiger geführt worden zu sein. Binnen Stunden war die Barak-Brigade in mehrere Teile zersprengt worden. Zwar sollte sich später erweisen, daß jedes Bruchstück gefährlicher als ein Vipernnest war, doch für den Moment nutzten die syrischen Panzerspitzen die Lücken rasch aus und jagten auf ihr strategisches Ziel, den See Genezareth, zu. Was im Lauf der nächsten 36 Stunden passierte, sollte das israelische Militär auf die schwerste Probe seit 1948 stellen.
Am zweiten Tag traf Verstärkung ein. Sie mußte praktisch Mann für Mann aufs Gefechtsfeld verteilt werden, um Lücken zu schließen oder versprengte Einheiten zu sammeln, die unter der Gefechtsbelastung auseinandergebrochen und, was es noch nie zuvor in der Geschichte des Staates Israel gegeben hatte, vor den angreifenden Arabern geflohen waren. Erst am dritten Tag gelang es den Israelis, ihre Panzerkräfte zu konzentrieren und die drei syrischen Stoßkeile zu umzingeln und dann zu zerschlagen. Die Syrer wurden von einem wütenden Gegenangriff auf ihre eigene Hauptstadt zurückgeworfen und hinterließen ein entsetzliches Schlachtfeld, übersät mit Leichen und ausgebrannten Panzern. Am Ende dieses Tages empfingen die Soldaten der Barak und der 7. Brigade einen Funkspruch des israelischen Oberkommandos:
IHR HABT DAS VOLK ISRAEL GERETTET.
Was keine Übertreibung war. Dennoch erinnerte man sich außerhalb Israels, von Militärakademien einmal abgesehen, seltsamerweise kaum an die heroische Schlacht. Wie beim Sechs-Tage-Krieg erregte der Bewegungskrieg im Sinai die Bewunderung der Welt: die Überquerung des Suezkanals, die Schlacht um die »chinesische« Farm, die Einkesselung der ägyptischen 3. Armee – und dies, obwohl die Kämpfe auf den Golan-Höhen weitaus furchterregender waren und zudem noch näher der Heimat stattfanden. Die Überlebenden dieser beiden Brigaden wußten, was sie geleistet hatten, und ihre Offiziere konnten sicher sein, daß diese Schlacht bei Berufssoldaten, die verstanden, welches Können und welchen Mut eine solche Abwehr erforderte, zusammen mit den Thermopylen, Bastogne und Gloucester Hill in Erinnerung bleiben würde.
Jeder Krieg hat seine ironischen Aspekte, und der Jom-Kippur-Krieg stellte da keine Ausnahme dar. Wie die meisten ruhmreichen Abwehrschlachten war auch diese Aktion im Grunde überflüssig. Die Israelis hatten Nachrichtendienstmeldungen falsch interpretiert, die, hätte man nur zwölf Stunden früher darauf reagiert, sie in die Lage versetzt hätten, existierende Pläne umzusetzen und vor Beginn der Offensive die Truppen auf den Golanhöhen zu verstärken. Zu dem heroischen Abwehrkampf hätte es gar nicht zu kommen brauchen. Unnötig die Verluste, die so hoch waren, daß man sie erst nach Wochen einer stolzen, aber schwergetroffenen Nation bekanntgab. Hätte man den Informationen entsprechend gehandelt, wären die Syrer trotz ihrer starken Ausrüstung mit Panzern und Geschützen noch vor der Demarkationslinie massakriert worden. Doch bekanntlich bringen Massaker wenig Ruhm. Warum die Aufklärung versagte, wurde nie richtig geklärt. Gelang es dem berühmten Mossad nicht, die Pläne der Araber zu erkennen? Oder schlug die politische Führung Israels die Warnungen, die sie erhielt, in den Wind? Diese Fragen erregten natürlich sofort die Aufmerksamkeit der Weltpresse, insbesondere was den ägyptischen Vorstoß über den Suezkanal und den Durchbruch der vielgerühmten Bar-Lev-Linie anging.
Ebenso ernst, aber weniger beachtet war ein grundlegender Fehler, den der sonst so weitsichtige israelische Generalstab Jahre zuvor gemacht hatte. Trotz ihrer Feuerkraft war die israelische Armee mit Artillerie unterversorgt, dies ganz besonders, wenn man sowjetische Maßstäbe anlegte. Anstatt sich auf starke Konzentrationen mobiler Kanonen zu verlassen, stützten sich die Israelis auf große Zahlen von Mörsern mit geringer Reichweite und auf Kampfflugzeuge. Dies führte dazu, daß die israelischen Artilleristen auf dem Golan im Verhältnis eins zu zwölf unterlegen und einem mörderischen Gegenfeuer ausgesetzt waren, ganz zu schweigen von ihrer Unfähigkeit, die belagerten Verteidiger adäquat zu unterstützen. Dieser Irrtum kostete viele Menschenleben.
Wie so oft wurde dieser schwere Fehler von intelligenten Männern und aus guten Gründen begangen. Ein Kampfflugzeug, das die Syrer auf dem Golan angegriffen hatte, konnte schon eine Stunde später seine tödliche Ladung auf die Ägypter am Suczkanal herabregnen lassen. Als erste moderne Luftwaffe hatte die IAF systematisch die Umlaufzeiten ihrer Flugzeuge verkürzt. Das Bodenpersonal wurde ähnlich gedrillt wie die Mechaniker an den Boxen beim Autorennen, und sein Geschick und seine Schnelligkeit verdoppelten praktisch die Schlagkraft jeder Maschine. Das machte die IAF zu einem hochflexiblen und gewichtigen Instrument. Unter diesem Aspekt erschien eine Phantom oder eine Skyhawk natürlich wertvoller als ein Dutzend Geschütze auf Selbstfahrlafetten.
Was die israelischen Planer nicht in Erwägung gezogen hatten, war die Tatsache, daß die Araber von den Sowjets aufgerüstet wurden und daher auch die sowjetische taktische Doktrin eingeimpft bekamen. Die sowjetischen Konstrukteure der SAM-Luftabwehrraketen, deren größte Herausforderung die als überlegen geltenden NATO-Luftwaffen waren, gehörten schon immer zur Weltspitze. Russische Planer sahen in dem kommenden Oktoberkrieg eine hervorragende Gelegenheit, ihre neuesten taktischen Waffen und Methoden zu testen. Und sie versäumten sie nicht. Die Sowjets lieferten ihren arabischen Kunden ein SAM-Netz, von dem die Nordvietnamesen oder die Streitkräfte des Warschauer Paktes damals nicht zu träumen wagten: eine massive Phalanx von tief gestaffelten Raketenbatterien und Radarsystemen, und dazu die neuen mobilen SAM-Abschußgeräte, die zusammen mit den Panzerspitzen vorrükken und den Schutzschirm für die Bodenverbände vergrößern konnten. Die Mannschaften, die diese Systeme bedienen sollten, waren gründlichst ausgebildet worden; viele in der Sowjetunion, wo sie von allem, was Sowjets und Vietnamesen über amerikanische Taktiken und Technologien gelernt hatten, profitierten. Immerhin stand zu erwarten, daß die Israelis die Methoden imitierten. Von allen arabischen Soldaten sollten nur die in der Sowjetunion ausgebildeten Männer den Vorkriegserwartungen gerecht werden, denn sie neutralisierten praktisch zwei Tage lang die israelische Luftwaffe. Wären die Bodenoperationen nach Plan verlaufen, hätte das gereicht.
Hier nimmt die Geschichte ihren eigentlichen Anfang. Die Lage auf dem Golan wurde sofort als sehr ernst eingeschätzt. Die kargen und konfusen Informationen, die von den fassungslosen Stäben der beiden Brigaden eingingen, verführten das israelische Oberkommando zu der Annahme, daß man auf dem Golan die taktische Kontrolle verloren hatte. Der schlimmste Alptraum schien Wirklichkeit geworden zu sein: Unvorbereitet war man überrascht worden. Die Kibbuzim im Norden waren gefährdet. Israelische Zivilisten und Kinder bewegten sich in der Bahn syrischer Panzerverbände, die nach Belieben und praktisch ohne Warnung von den Höhen hinunter nach Galiläa rollen konnten. Die erste Reaktion der Stabsoffiziere war fast panisch.
Ein guter Stabsoffizier jedoch plant auch Panik ein.
In einem Land, für das seine Gegner die physische Vernichtung zum Kriegsziel erklärt haben, kann keine Verteidigttngsmaßnahme als zu extrem gelten. Schon 1968 hatten die Israelis die nukleare Option in ihren Kriegsplan aufgenommen. Am 7. Oktober ging um 3.55 Uhr Ortszeit und gerade 14 Stunden nach Beginn der Kampfhandlungen der Befehl für die OPERATION JOSUA per Telex an den Fliegerhorst bei Beer Scheba.
Israel verfügte damals nur über wenige Kernwaffen – und streitet bis heute ihren Besitz ab. Eine große Anzahl wäre auch im Notfall nicht gebraucht worden. In einem der zahllosen unterirdischen Bombenbunker bei Beerscheba lagen 12 recht gewöhnlich aussehende Objekte, die sich von anderen, zur Montierung unter Tragflächen taktischer Kampfflugzeuge gedachten Waffen lediglich durch rot und silbern gestreifte Markierungen an den Seiten unterschieden. Sie hatten keine Leitflossen, und an der stromlinienförmigen Verkleidung aus poliertem Aluminium mit kaum sichtbaren Nähten und einigen Ösen sah nichts ungewöhnlich aus. Das hatte seinen Grund. Ein flüchtiger Beobachter konnte sie leicht für Treibstofftanks oder Napalmbomben halten, Objekte also, die kaum einen zweiten Blick wert waren. In Wirklichkeit aber handelte es sich um zwei Plutoniumbomben mit einer nominalen Sprengkraft von 60 Kilotonnen: genug, um das Herz einer Großstadt zu vernichten, Tausende von Soldaten im Feld zu töten oder – mit Hilfe von separat gelagerten, aber leicht an der Verkleidung zu befestigenden Ummantelungen aus Kobalt – eine ganze Landschaft auf Jahre hinaus zu vergiften.
An diesem Morgen herrschte in Beer Scheba hektischer Betrieb. Nach dem Feiertag Jom Kippur, den die Menschen des kleinen Landes mit Gottesdiensten und Familienbesuchen begangen hatten, strömten noch immer Reservisten auf den Stützpunkt. Die Männer, die die heikle Aufgabe ausführen mußten, Flugzeuge mit ihren tödlichen Bordwaffen zu bestücken, hatten schon viel zu lange Dienst getan. Ihre Konzentration ließ nach. Selbst die Neuankömmlinge litten unter Schlafmangel. Ein Waffentrupp, den man aus Sicherheitsgründen über den Auftrag im unklaren gelassen hatte, versah unter den Augen zweier Offiziere einen Schwarm A-4 Skyhawks mit Kernwaffen. Die Bomben wurden auf Wagen unter die mittleren Aufhängevorrichtungen der vier Flugzeuge gerollt, vorsichtig mit einem Kran angehoben und dann eingehängt. Weniger erschöpften Mitgliedern des Bodenpersonals hätte auffallen können, daß die Entsicherungsvorrichtungen und Leitflossen noch nicht an den Bomben befestigt worden waren. Wer dies wahrnahm, mußte zweifellos zu dem Schluß kommen, daß der für diese Aufgabe zuständige Offizier zu spät dran war – wie fast jeder an diesem kalten und verhängnisvollen Morgen. Die Nasen der Waffen waren mit Elektronik vollgepackt. Der eigentliche Zündmechanismus und die Kapsel mit dem spaltbaren Material, zusammen als »Physikpaket« bekannt, befanden sich natürlich schon in den Bomben. Im Gegensatz zu amerikanischen Kernwaffen waren die israelischen nicht für den Lufttransport in Friedenszeiten bestimmt. Deshalb fehlten ihnen die umfangreichen Sicherungen, die die Firma Pantex bei Amarillo in Texas in US-Kernwaffen einbaute. Das Entsicherungssystem bestand aus zwei Komponenten; eines wurde an der Spitze befestigt, das andere war in die Leitflossen integriert. Im großen und ganzen waren die Bomben für amerikanische oder sowjetische Maßstäbe sehr primitiv – so primitiv wie eine Pistole im Vergleich zu einem Maschinengewehr, aber wie jene auf kurze Entfernung ebenso tödlich.
Nachdem die Entsicherungsvorrichtungen angebracht und aktiviert worden waren, mußten nur noch eine Entsicherungstafel im Cockpit des Kampfflugzeugs installiert und eine Kabelverbindung zwischen Maschine und Bombe hergestellt werden. An diesem Punkt wurde die Waffe »zur Kontrolle vor Ort freigegeben«, das heißt, den Händen junger, aggressiver Piloten anvertraut. Deren Aufgabe war es, sie in einem »Idioten-Looping« genannten Manöver auf einer ballistischen Bahn ins Ziel zu bringen und sich möglichst unbeschadet zu entfernen, bevor sie detonierte.
Der ranghöchste Waffenoffizier auf dem Stützpunkt hatte die Option, gemäß den Umständen und mit Genehmigung der beiden überwachenden Offiziere die Entsicherungskomponenten anbringen zu lassen. Zum Glück war dieser Offizier von der Vorstellung, halbscharfe Atombomben auf einem Flughafen herumliegen zu haben, der jeden Augenblick von arabischen Piloten angegriffen werden konnte, alles andere als begeistert. Trotz der Gefahren, die seinem Land im Morgengrauen dieses kalten Tages drohten, hauchte der gläubige Jude ein Dankgebet, als in Tel Aviv kühlere Köpfe die Oberhand gewannen und den Befehl für die OPERATION JOSUA widerriefen. Die erfahrenen Piloten, die den Einsatz hatten fliegen sollen, kehrten in ihre Bereitschaftsräume zurück und vergaßen die Aufgabe, die man ihnen gestellt hatte. Der ranghöchste Waffenoffizier gab sofort Anweisung, die Bomben zu entfernen und an ihren sicheren Aufbewahrungsort zurückzubringen.
Das zu Tode erschöpfte Bodenpersonal begann, die Bomben abzumontieren. In diesem Augenblick erschien ein anderes Team auf seinem Wagen, um die Skyhawks mit Raketenwerfern des Typs Zuni zu bestücken. Ziel dieses Einsatzes: der Golan. Der Auftrag: Angriff auf die syrischen Panzerkolonnen, die von Kafr Shams aus auf Baraks Sektor der Frontlinie vorstießen. Die Männer beider Trupps drängten unter den Flugzeugen hin und her. Zwei verschiedene Teams versuchten gleichzeitig, ihren Auftrag zu erledigen: Eines war bemüht, Bomben abzunehmen, das andere hängte Zunis unter den Tragflächen auf.
Beerscheba wurde natürlich nicht nur von diesen vier Kampfflugzeugen benutzt. Maschinen, die den ersten Einsatz des Tages am Suezkanal geflogen hatten, kehrten zurück – oder auch nicht. Der Aufklärer RF-4C Phantom war abgeschossen worden, und seine Eskorte, ein Jäger F4-E, erreichte den Stützpunkt knapp mit nur einem funktionierenden Triebwerk und einer zerschossenen Tragfläche, aus der Treibstoff rann. Der Pilot hatte bereits eine Warnung gefunkt: Der Feind setzt eine neuartige Luftabwehrrakete ein, vielleicht die neue SA-6, auf deren Suchradar die Warnanlage der Phantom nicht reagiert hatte. Der Aufklärer war ohne Warnung in die Falle geflogen, und er selbst sei nur mit Glück den vier Geschossen, die auf ihn abgefeuert wurden, entkommen. Noch ehe der Jäger vorsichtig aufsetzte, hatte die Nachricht das Oberkommando der israelischen Luftwaffe als Blitzmeldung erreicht. Der Pilot der Phantom folgte einem Jeep zu den bereitstehenden Löschfahrzeugen, doch als die Maschine zum Stillstand kam, platzte am Hauptfahrwerk der linke Reifen. Die Strebe wurde beschädigt, knickte ab, und die zwanzig Tonnen schwere Maschine knallte auf den Asphalt. Leckender Treibstoff entzündete sich und hüllte das Flugzeug in einen kleinen, aber tödlichen Feuerball. Einen Augenblick später begann die 20-Millimeter-Munition der Bordkanone zu explodieren, und eines der beiden Besatzungsmitglieder schrie in den Flammen. Feuerwehrleute griffen mit Wassernebeln ein. Die beiden Männer, die die Atombomben bewachten, waren dem Brand am nächsten und stürzten auf die Unfallstelle zu, um den Piloten aus den Flammen zu ziehen. Alle drei wurden von Teilen der detonierenden Munition getroffen. Ein Feuerwehrmann drang mutig in das Feuer zu dem zweiten Mann der Besatzung vor und konnte den Schwerverletzten in Sicherheit bringen. Andere Feuerwehrleute luden die blutenden Offiziere und den Piloten in Krankenwagen.
Dieser Brand lenkte die Waffcntrupps, die unter den Skyhawks arbeiteten, ab. An Maschine 3 wurde eine Bombe zu früh gelöst und zerquetschte dem Vorarbeiter am Kran die Beine. In dem nun ausbrechenden Chaos verlor das Team die Übersicht. Der Verletzte wurde schnellstens ins Stützpunktlazarett gebracht, und die drei abmontierten Bomben karrte man zurück in ihren Bunker. In der Hektik des ersten Kriegstages fiel offenbar niemandem auf, daß ein Bombenkarren einen leeren Schlitten trug. Unteroffiziere erschienen an der Startlinie, um die Maschinen einer abgekürzten Prüfung auf Flugklarheit zu unterziehen. Vom Bereitschaftsschuppen kam ein Jeep herüber. Vier Piloten mit Helmen und Karten in der Hand sprangen heraus.
»Was, zum Teufel, ist das?« fauchte Leutnant Mordecai Zadin, ein schlaksiger Achtzehnjähriger, den seine Freunde Motti nannten.
»Anscheinend Treibstofftanks«, erwiderte der Unteroffizier, ein freundlicher, kompetenter Reservist von 50 Jahren, der in Haifa eine Autowerkstatt besaß.
»So’n Quatsch!« versetzte der vor Erregung fast zitternde Pilot. »Für den Golan brauch’ ich keinen Extrasprit.«
»Ich kann ihn ja abmontieren, aber das dauert ein paar Minuten.« Motti dachte kurz nach. Er war ein Sabra von einem Kibbuz im Norden des Landes und erst seit fünf Monaten Pilot. Nun sah er, wie seine Kameraden in ihre Maschinen stiegen und sich anschnallten. Der syrische Angriff rollte auf sein Heimatdorf zu, und er bekam plötzlich Angst, bei seinem ersten Kampfeinsatz zurückgelassen zu werden.
»Scheiß drauf! Schrauben wir das Ding ab, wenn ich zurückkomme.« Zadin kletterte flink die Leiter hinauf. Der Unteroffizier folgte ihm, schnallte ihn fest und warf über seine Schulter hinweg einen Blick auf die Instrumente.
»Alles klar, Motti! Paß auf dich auf.«
»Wenn ich zurück bin, will ich meinen Tee.« Er grinste so diebisch, wie es nur ein Junge in seinem Alter fertigbringt. Der Unteroffizier schlug ihm auf den Helm.
»Bring mir bloß meinen Vogel heil zurück.« Er sprang hinunter auf den Beton und zog die Leiter weg. Dann nahm er eine letzte Sichtprüfung vor. Motti ließ inzwischen die Triebwerke an, ging auf Leerlauf, bewegte Steuerknüppel und Pedale, sah auf Kraftstoff- und Temperaturanzeige. Alles in Ordnung. Er schaute zum Piloten des Führerflugzeuges hinüber und winkte: startklar. Dann zog er das Kabinendach herunter, warf dem Unteroffizier einen letzten Blick zu und salutierte zum Abschied.
Mit seinen achtzehn Jahren war Zadin für die Verhältnisse in der israelischen Luftwaffe nicht besonders jung. Er war wegen seiner raschen Reaktionen und seiner jungenhaften Aggressivität ausgewählt worden und hatte sich seinen Platz in der besten Luftwaffe der Welt hart erkämpfen müssen. Motti flog für sein Leben gern und hatte Pilot werden wollen, seit er als kleiner Junge ein Trainingsflugzeug des Typs Bf-109 gesehen hatte. Er liebte seine Skyhawk. Das war ein Flugzeug für richtige Piloten und kein elektronisches Monstrum wie die Phantom. Die A-4, ein kleiner, schnell reagierender Raubvogel, jagte schon bei der leichtesten Bewegung des Knüppels los. Und nun der erste Kampfeinsatz. Motti hatte überhaupt keine Angst. Es fiel ihm gar nicht ein, um sein Leben zu fürehten – wie alle Teenager hielt er sich für unsterblich, und ein Kriterium bei der Auswahl von Kampfpiloten ist, daß sie keine menschlichen Schwächen zeigen. Dennoch war dies für ihn ein besonderer Tag. Nie hatte er einen schöneren Sonnenaufgang gesehen. Er war von einer übernatürlichen Aufmerksamkeit, hatte alles wahrgenommen: den starken Kaffee zum Wachwerden, den staubigen Geruch der Morgenluft in Beer Scheba, nun den Duft nach Öl und Leder im Cockpit, das leise Rauschen im Kopfhörer und das Prickeln in seinen Händen, die am Steuerknüppel lagen. So einen Tag hatte Motti Zadin noch nie erlebt, und er dachte nicht eine Sekunde daran, daß das Schicksal ihm einen weiteren verweigern mochte.
Die vier Maschinen rollten in perfekter Formation ans Ende der Startbahn 01. Das schien ein gutes Omen für den Abflug nach Norden, einem nur 15 Flugminuten entfernten Feind entgegen. Auf einen Befehl des Kommandanten, der selbst erst 21 war, drückten alle vier Piloten die Schubhebel bis zum Anschlag durch, lösten die Bremsen und sausten los in den stillen, kühlen Morgen. Sekunden später waren sie in der Luft und stiegen auf 5000 Fuß. Dabei bemühten sie sich, den zivilen Flugverkehr um den Ben Gurion International Airport, der seltsamerweise noch in Betrieb war, zu meiden.
Der Hauptmann gab die üblichen knappen Befehle: Aufschließen, Triebwerk, Bordwaffen, elektrische Systeme prüfen. Auf MiG und eigene Maschinen achten. Sicherstellen, daß die Anzeige der Freund/Feind-Kennung IFF grün ist. Die 15 Minuten Flugzeit von Beerscheba zu den Golanhöhen vergingen rasch. Zadin hielt angestrengt nach dem vulkanischen Steilhang, bei dessen Eroberung sein älterer Bruder vor sechs Jahren gefallen war, Ausschau. Den kriegen die Syrer nie zurück, sagte er sich.
»Schwarm: Rechts kurven auf Steuerkurs null-vier-drei. Ziel: Panzerkolonnen vier Kilometer östlich der Linie. Augen auf! Achtet auf SAM und Flak.«
»Führer, Vier. Panzer in eins«, meldete Zadin gelassen. »Sehen aus wie unsere Centurion.«
»Gutes Auge, Vier«, erwiderte der Hauptmann. »Das sind unsere.«
»Achtung, Abschußwarnung!« rief jemand. Augen suchten die Luft nach einer Gefahr ab.
»Scheiße!« rief eine erregte Stimme. »SAM im Anflug, tief in zwölf!«
»Hab’ sie gesehen. Schwarm: Formation auflösen!« befahl der Hauptmann.
Die vier Skyhawks zerstreuten sich. Mehrere Kilometer entfernt hielten 12 SA-2-Raketen mit Mach 3 auf sie zu. Auch die SAM drehten nach links und rechts ab, aber so schwerfällig, daß zwei zusammenstießen und explodierten. Motti flog eine Rolle nach rechts, zog den Knüppel an seinen Bauch, ging in den Sturzflug und verfluchte dabei das zusätzliche Gewicht an der Tragfläche. Knapp 30 Meter über dem felsigen Boden fing er die Skyhawk ab und jagte donnernd über die jubelnden Soldaten der belagerten Barak-Brigade hinweg auf die Syrer zu. Als geschlossener Angriff war der Einsatz im Eimer, aber das war für Motti jetzt nicht so wichtig: Er wollte ein paar syrische Panzer abschießen. Als er eine andere A-4 sah, schloß er auf und begann mit ihr den Bodenangriff. Vor ihm tauchten die gewölbten Türme syrischer T-62 auf. Ohne hinzusehen, legte Zadin einen Schalter um und machte seine Waffen scharf. Vor seinen Augen erschien das Reflexvisier der Bordkanone.
»Achtung, noch mehr SAM.« Der Hauptmann klang immer noch gelassen.
Mottis Herzschlag stockte: Ein ganzer Schwarm kleinerer Raketen – sind das die SA-6, vor denen man uns gewarnt hat? schoß es ihm durch den Kopf – fegte über die Felsen hinweg auf ihn zu. Er sah auf die Anzeige seiner Warnanlage; sie hatte die angreifenden Flugkörper nicht erfaßt. Instinktiv ging Motti höher, um Raum zum Manövrieren zu gewinnen. Vier Raketen folgten ihm in etwa drei Kilometer Abstand. Scharfe Rolle nach rechts, spiralförmiger Sturzflug, ein Haken nach links. Das täuschte drei der Raketen, aber die vierte ließ sich nicht abhängen und detonierte ganze dreißig Meter von seiner Maschine entfernt. Motti hatte das Gefühl, als sei seine Skyhawk zehn Meter zur Seite geschleudert worden. Er kämpfte mit der Steuerung und fing das Flugzeug knapp überm Boden ab. Ein flüchtiger Blick ließ ihn erstarren. Ganze Segmente seiner Backbordtragfläche waren zerfetzt. Akustische Warnsignale im Kopfhörer und Leuchtsignale am Instrumentenbrett meldeten das Desaster: Hydraulik leck, Funkgerät defekt, Generator ausgefallen. Doch die mechanische Steuerung funktionierte noch, und seine Waffen konnten mit Batteriestrom feuern. Nun sah er die Quälgeister: eine Batterie von SA-6, die aus vier Flapanzern, einem Radarwagen und einem schweren, mit Flugkörpern beladenen Lkw bestand. Sein scharfer Blick machte sogar die über vier Kilometer entfernten Syrer aus, die gerade hastig eine Rakete auf die Abschußrampe schafften.
Aber auch er wurde entdeckt, und nun begann ein Duell, das trotz seiner Kürze nichts ausließ.
Motti ging behutsam so tief, wie es seine schlagende Steuerung erlaubte, und nahm das Ziel sorgfältig ins Reflexvisier. Er hatte 48 Zuni-Raketen, die in Vierersalven abgeschossen werden konnten. Aus zwei Kilometer Entfernung eröffnete er das Feuer. Irgendwie gelang es dem syrischen SAM-Trupp, noch eine Rakete zu starten. Vor ihr hätte es eigentlich kein Entkommen geben dürfen, doch wurde der Radar-Annäherungszünder der SA-6 von den vorbeifliegenden Zunis ausgelöst,was zur Selbstzerstörung des Flugkörpers in sicherer Entfernung führte. Motti grinste grimmig hinter seiner Maske und feuerte nun Raketen und 20-Millimeter-Geschosse auf den Trupp von Männern und Fahrzeugen. Die dritte Salve traf, vier weitere folgten; Motti machte weiter, um das ganze Zielgebiet mit Raketen zu beschießen. Die SAM-Batterie verwandelte sich in ein Inferno aus brennendem Dieselöl und Raketentreibstoff und explodierenden Sprengköpfen. Ein gewaltiger Feuerball stieg vor ihm auf, den er mit einem wilden Triumphgeschrei durchflog: Die Feinde waren vernichtet, die Kameraden gerächt.
Lange währte das Hochgefühl nicht. Ganze Aluminiumbleche riß der Fahrtwind bei etwa 750 Stundenkilometern aus seiner linken Tragfläche. Die A-4 begann heftig zu vibrieren. Als Motti abdrehte, um zurückzufliegen, knickte der Flügel ganz ab, und die Skyhawk brach in der Luft auseinander. Sekunden später wurde der junge Krieger auf den Basaltfelsen des Golan zerschmettert. Niemand von dem Schwarm kehrte von diesem Einsatz zurück.
Von der SAM-Batterie war so gut wie nichts mehr übrig. Alle sechs Fahrzeuge waren in Fetzen gerissen, und von der 90 Mann starken Bedienungsmannschaft war nur der kopflose Rumpf des Batteriechefs zu identifizieren. Er, wie auch der junge Kämpfer, hatten ihrem Land treu gedient, aber ihre Taten blieben wie so oft unbesungen. Drei Tage später erhielt Zadins Mutter ein Telegramm, in dem stand, ganz Israel habe an ihrem Schmerz teil. Ein schwacher Trost für eine Mutter, die nun zwei Söhne verloren hatte.
Doch es gab ein Ereignis, das als Fußnote zu diesem ansonsten unkommentierten Vorfall in die Geschichte eingehen sollte. Eine nicht scharfgemachte Atombombe, die sich von dem auseinanderbrechenden Kampfflugzeug gelöst hattte, war weiter nach Osten geflogen. Weit von den Trümmern der Skyhawk entfernt, hatte sie sich direkt neben dem Hof eines Drusen in den Boden gebohrt. Drei Tage später bemerkten die Israelis das Fehlen der Bombe, und sie waren erst nach dem Ende des Oktoberkrieges in der Lage, die einzelnen Umstände dieses Verlustes zu rekonstruieren. Die sonst so findigen Israelis standen vor einem unlösbaren Problem. Die Bombe mußte irgendwo hinter den syrischen Linien liegen – aber wo? Welche der vier Maschinen hatte sie getragen? Bei den Syrern Erkundigungen einzuziehen kam nicht in Frage. Und konnte man den Amerikanern reinen Wein einschenken, bei denen man sich das »spezielle Nuklearmaterial« so geschickt und diskret, daß man jederzeit seinen Besitz dementieren konnte, beschafft hatte?
So blieb die Bombe liegen, ohne daß jemand von ihr wußte – bis auf den Drusen, der sie mit Erde bedeckte und weiter sein steiniges Feld bestellte.