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Entscheidungen
»Sehr interessant.«
»Eine ziemlich einmalige Gelegenheit«, stimmte Ryan zu.
»Wie zuverlässig und vertrauenswürdig ist er?« fragte Cabot.
Ryan lächelte seinen Chef an. »Sir, das ist immer die Frage. Vergessen wir die Spielregeln nicht. Ganz sicher kann man nie sein – will sagen, es dauert Jahre, bis sich ein Mindestmaß an Gewißheit entwickelt hat. Unser Spiel hat nur wenige feste Regeln, und niemand weiß, nach welchem System gepunktet wird. Wie auch immer, der Mann ist mehr als nur ein Überläufer.« Es ging um Oleg Juriewitsch Lyalin – Cabot kannte den Namen noch nicht –, einen »illegalen« KGB-Agenten, der nicht unter dem Schutz der diplomatischen Immunität, sondern als angeblicher Vertreter eines sowjetischen Kombinats arbeitete. Lyalin, Codename DISTEL, führte einen Agentenring, und zwar in Japan. »Der Mann ist ein Profi und hat ein besseres Netz als der KGB-Resident in Tokio. Seine beste Quelle sitzt im japanischen Kabinett.«
»Und?«
»Er bietet uns die Nutzung seines Netzes an.«
»Ist das wirklich so wichtig, wie ich anfange zu glauben ...?« fragte der CIA-Direktor seinen Stellvertreter.
»Chef, eine solche Chance bietet sich nur selten. In Japan haben wir noch nie richtig operiert, weil uns erstens Leute mit guten Japanischkenntnissen fehlen – selbst hier im Haus sind Übersetzer knapp – und wir zweitens unsere Prioritäten immer anderswo sahen. Allein der Aufbau der Infrastruktur für Operationen in Japan dürfte Jahre in Anspruch nehmen. Die Russen aber waren schon vor der Oktoberrevolution in Nippon tätig. Der Grund liegt in der Geschichte: Rußland und Japan hatten sich lange bekriegt, und da die Russen in Japan einen strategischen Rivalen sahen, spionierten sie dort schon, bevor Japan zur Technologiemacht aufstieg. Dieser Mann bietet uns sein japanisches Unternehmen zum Sonderpreis an, komplett mit Inventar, Außenständen, den technischen Einrichtungen – den ganzen Laden also. Günstiger könnte es gar nicht kommen.«
»Aber was er verlangt...«
»Geld? Na und? Das ist nicht ein Tausendstel eines Prozents von dem, was diese Informationen für unser Land wert sind«, betonte Jack.
»Eine Million Dollar im Monat!« protestierte Cabot und fügte insgeheim hinzu: steuerfrei!
Ryan verkniff sich ein Lachen. »Na schön, er ist eben geldgeil. Wie hoch ist unser Handelsdefizit mit Japan nach dem letzten Stand?« fragte Jack und hob die Augenbrauen. »Sein Angebot ist inhaltlich und zeitlich unbeschränkt. Als Gegenleistung brauchen wir ihn und seine Familie, falls erforderlich, nur in die Staaten auszufliegen. Er hat keine Lust, sich in Moskau zur Ruhe zu setzen. Der Mann ist fünfundvierzig, und in diesem Alter werden die Jungs meist unruhig. In zehn Jahren soll er zurück in die Sowjetunion versetzt werden – um was zu tun? Seit dreizehn Jahren lebt er fast ununterbrochen in Japan. Er hat Geschmack am Wohlstand gefunden, an Autos und Videos, und verspürt keine Neigung mehr, für Kartoffeln anzustehen. Amerika ist ihm sympathisch. Er glaubt, sein Land nicht zu verraten, da wir ja nichts erhielten, was er nicht auch nach Moskau liefert, und Teil der Abmachung ist, daß er an uns nichts weiterleitet, das Mütterchen Rußland schaden könnte. Schön, damit kann ich leben«, meinte Ryan und lachte in sich hinein. »So geht’s im Kapitalismus. Der Mann startet eine Elite-Nachrichtenagentur und bietet uns Informationen an, die wir wirklich gebrauchen können.«
»Seine Rechnung ist saftig genug.«
»Sir, die Sache ist es wert. Er kann uns Informationen liefern, die bei Außenhandelsgesprächen Milliarden wert sind und im Land Milliarden an Steuergeldern sparen. Sir, ich habe früher als Anlageberater gearbeitet und dabei mein Vermögen verdient. Eine Chance wie diese bietet sich nur alle zehn Jahre. Das Direktorat Operationen will mitziehen. Ich bin auch dafür. Wir wären Narren, wenn wir den Mann nicht nähmen. Sein Einführungspaket haben Sie ja gesehen.«
Als Kostprobe hatte Lyalin das Protokoll der letzten japanischen Kabinettssitzung geschickt, in dem akribisch genau jedes Detail, jedes Grunzen und Zischen festgehalten war. Ein allein für die Psychologen der CIA hochwichtiges Dokument, dem zu entnehmen war, wie man im japanischen Kabinett miteinander umging, dachte und Entscheidungen traf – Dinge also, die man bisher nur geschlußfolgert hatte, aber nicht bestätigen konnte.
»Es war höchst aufschlußreich, besonders, was über den Präsidenten gesagt wurde. Diese Kommentare habe ich nicht weitergeleitet. Sinnlos, ihn ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt in Rage zu bringen. Okay, die Operation ist gebilligt, Jack. Wie steuern wir sie?«
»Als Codename haben wir MUSASHI gewählt; so hieß ein berühmter Schwertmeister. Die Operation läuft unter NIITAKA. Aus naheliegenden Gründen benutzen wir japanische Namen«, Ryan erklärte das, weil Cabot zwar intelligent, in Dingen des Nachrichtendienstes aber unbedarft war, »um im Fall einer Enttarnung oder einer undichten Stelle auf unserer Seite den Eindruck zu erwecken, daß unsere Quelle eine japanische und keine russische ist. Die Codenamen dringen über dieses Gebäude nicht hinaus. Außenseitern, die eingeweiht werden, nennen wir andere Decknamen, die wir vom Computer generieren und jeden Monat ändern lassen.«
»Und wie heißt der Agent wirklich?«
»Sir, Sie haben ein Recht, den Namen zu erfahren, aber die Entscheidung überlasse ich Ihnen. Ich habe seine Identität bisher absichtlich verschwiegen, weil ich Ihnen erst einen breiten Überblick verschaffen wollte. In der Geschichte unseres Dienstes wollte ungefähr die Hälfte der Direktoren die Namen solcher Agenten wissen; die anderen verzichteten auf solche Informationen. Unser Grundprinzip lautet: Je weniger Leute eingeweiht sind, desto geringer ist die Möglichkeit, daß es undichte Stellen gibt. Admiral Greers Erstes Gesetz der ND-Operationen lautete: Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Operation auffliegt, ist dem Quadrat der Eingeweihten proportional. Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Sir.«
Cabot nickte nachdenklich und beschloß, auf Zeit zu spielen. »Sie mochten Greer, nicht wahr?«
»Er war für mich wie ein Vater, Sir. Nachdem meiner bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, adoptierte mich Greer sozusagen.« Besser gesagt: Ich hängte mich an ihn, dachte Ryan. »Was MUSASHI angeht, lassen Sie sich die Sache vielleicht lieber erst einmal durch den Kopf gehen.«
»Und wenn das Weiße Haus Einzelheiten wissen will?« fragte Cabot nun.
»Sir, was MUSASHI uns anbietet, wird bei seinen Arbeitgebern als Landesverrat gelten, ganz gleich, wie er selbst es interpretiert. Narmonow ist ein anständiger Mann, aber wir wissen von vierzig Fällen, in denen die Sowjets Leute wegen Spionage hingerichtet haben, darunter unsere sehr produktiven Agenten ZYLINDERHUT, FAHRENDER GESELLE und ein Mann namens Tolkatschow. Wir bemühten uns in allen drei Fällen um einen Austausch, aber sie wurden noch vor Beginn der Verhandlungen erschossen. Mit Berufungsverfahren ist es in der Sowjetunion nach wie vor nicht sehr weit her«, erklärte Ryan. »Kurz gesagt, Sir, wenn dieser Mann enttarnt wird, setzt es höchstwahrscheinlich einen Kopfschuß. Deswegen hüten wir die Identität unserer Agenten so eifersüchtig. Wenn wir Mist bauen, müssen Menschen sterben, trotz Perestroika. Die meisten Präsidenten verstehen das auch. Und noch etwas.«
»Ja?«
»Er stellt noch eine weitere Bedingung: Alle seine Meldungen sollen mit Boten und nicht über Kabel an uns gehen. Damit müssen wir einverstanden sein, sonst macht er nicht mit. Gut, technisch ist das kein Problem. Bei Agenten dieses Kalibers haben wir das öfters schon so gehalten. Die Art der Informationen, die er uns zu liefern verspricht, erzeugt keinen sofortigen Handlungsbedarf. United Airlines, Northwest und selbst All Nippon Airways haben Direktflüge zwischen Tokio und Washington.«
»Moment mal ...« Cabot zog eine Grimasse.
»Genau.« Jack nickte. »Er hält unser Kommunikationsnetz nicht für sicher. Sehr unangenehmer Gedanke.«
»Sie glauben doch nicht etwa ...«
»Ich bin nicht sicher. Wir sind in den letzten Jahren nur mit sehr begrenztem Erfolg in den sowjetischen Chiffrenverkehr eingedrungen. Die NSA nimmt an, daß die Gegenseite ähnliche Probleme mit unserer Kommunikation hat. Solche Annahmen sind gefährlich. Wir erhielten schon einmal einen Hinweis, daß unsere Signale nicht ganz sicher sind, aber dieser Tip kommt von einem sehr hohen Offizier. Meiner Ansicht nach sollten wir die Warnung ernst nehmen.«
»Wie groß könnte der Schaden sein?«
»Erschreckend groß«, antwortete Jack rundheraus. »Sir, wir benutzen aus naheliegenden Gründen mehrere Kommunikationssysteme. Unsere Signale gehen über MERCURY hier im Haus. Der Rest der Regierung nimmt vorwiegend die NSA in Anspruch; die Spione Walker und Pelton haben diese Systeme schon vor langer Zeit unsicher gemacht. General Olson drüben im Fort Meade behauptet zwar, inzwischen sei alles wieder gesichert, aber aus Kostengründen ist das experimentelle Einmalsystem TAPDANCE noch nicht allgemein eingeführt worden. Natürlich können wir der NSA noch eine Warnung zukommen lassen – müssen wir sogar, auch wenn sie bestimmt ignoriert wird –, aber hier bei uns muß etwas geschehen. Zuerst einmal, Sir, sollten wir eine Überprüfung von MERCURY ins Auge fassen.« MERCURY, einige Geschosse unter dem Büro des Direktors untergebracht, war die Kommunikationsverbindung der CIA und verfügte über eigene Chiffriersysteme.
»Das wird teuer«, bemerkte Cabot ernst. »Angesichts unserer angespannten Haushaltslage ...«
»Doppelt so teuer käme uns das systematische Abhören unseres Nachrichtenverkehrs zu stehen, Sir. Nichts ist wichtiger als sichere Kommunikation. Wenn die ausfällt, sind alle anderen Einrichtungen nutzlos. Wir haben inzwischen unser eigenes Einmalsystem entwickelt. Nun muß man uns nur noch die Mittel für seine Einführung bewilligen.«
»Erklären Sie mir das einmal. Ich bin da nicht umfassend informiert worden.«
»Im Grunde handelt es sich um unsere eigene Version von TAPDANCE. Der Schlüssel befindet sich auf CD-ROM. Die Transpositionen werden aus atmosphärischem Rauschen erzeugt und dann noch einmal mit später am Tag aufgenommenem Rauschen überlagert. Atmosphärische Störungen haben eine ziemlich wahllose Zusammensetzung, und wenn man zwei Proben dieses Frequenzsalats mit Hilfe eines computererzeugten Zufalls-Algorithmus vermischt, kann der Schlüssel, wie die Mathematiker uns versichern, zufälliger nicht werden. Die Transpositionen werden vom Computer generiert und in Echtzeit auf CD überspielt. Wir benutzen für jeden Tag im Jahr eine andere Scheibe. Von jeder CD gibt es nur zwei Kopien – eine für die Station, eine für MERCURY. Sicherungskopien werden nicht gezogen. Das Abspielgerät, das an beiden Enden benutzt wird, sieht normal aus, hat aber einen leistungsfähigeren Abtastlaser, der den Code beim Lesen durch Hitze löscht. Wenn die Scheibe verbraucht oder der Tag vorüber ist – meist ist letzteres der Fall, weil auf einer CD Milliarden von Zeichen gespeichert sind –, wird sie in einem Mikrowellenherd zerstört. Das dauert zwei Minuten. Das System sollte also bombensicher sein. Schwachstellen gibt es nur an drei Punkten: Bei der Herstellung der CD, auf dem Transport zu uns, und bei der Lagerung in unseren Stationen. Ein Leck in einer Außenstelle beeinträchtigt die anderen Stellen nicht. Wir haben versucht, die Scheiben gegen Eingriffe Unbefugter zu sichern, mußten aber feststellen, daß sie dadurch zu teuer und zu empfindlich werden. Der Nachteil dieses Verfahrens ist, daß zwanzig neue Kommunikationstechniker eingestellt und einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden müßten; das System ist relativ arbeitsintensiv. Der größte Kostenfaktor entstünde hier im Haus. Außendienstmitarbeiter, mit denen wir gesprochen haben, ziehen das neue System vor, weil sie es für anwenderfreundlich halten.«
»Was würde das kosten?«
»Fünfzig Millionen Dollar. Wir müßten die Abteilung MERCURY vergrößern und die Einrichtungen zur Herstellung der CDs anschaffen. Platz haben wir genug, aber die Maschinen sind nicht billig. Wenn wir die Mittel jetzt bekommen, könnte das System in drei Monaten stehen.«
»Ihre Argumente klingen überzeugend. Aber wo bekommen wir das Geld her?«
»Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, könnte ich Mr. Trent ansprechen.«
»Hmmm.« Cabot starrte auf seine Schreibunterlage. »Gut, fühlen Sie mal behutsam vor. Ich werde das Thema beim Präsidenten zur Sprache bringen, wenn er wieder zurück ist. Und was MUSASHI angeht, vertraue ich Ihnen. Wer außer Ihnen kennt die wahre Identität des Mannes?«
»Der DO, Stationschef Tokio, und der Agentenführer.« Harry Wren, der Direktor Operationen, war zwar kein Protegé Cabots, aber von ihm ins Haus geholt worden. Wren befand sich im Augenblick in Europa. Vor einem Jahr hatte Jack noch gedacht, dieser Mann sei eine Fehlbesetzung, aber inzwischen leistete Wren gute Arbeit und hatte sich einen erstklassigen Stellvertreter ausgewählt, besser gesagt ein Paar: Ed und Mary Pat Foley, die berühmten Agenten. Wäre es nach Ryan gegangen, hätte er einen der beiden zum DO ernannt – aber wen, hatte er nie entscheiden können. In dem besten Gespann, das die CIA je eingesetzt hatte, war Ed das Organisationstalent, und Mary Pat die Draufgängerin. Eine leitende Position für Mary Pat wäre in der Welt der Nachrichtendienste einmalig und im Kongreß wohl ein paar Stimmen wert gewesen. Sie erwartete nun ihr drittes Kind, dachte aber nicht daran, aus diesem Grund kürzer zu treten. Die CIA verfügte über eine eigene Kindertagesstätte, versehen mit elektronischen Schlössern und schwerbewaffnetem Sicherheitspersonal und ausgestattet mit den besten Spielzeugen und -geräten, die Jack je gesehen hatte.
»Klingt gut, Jack. Ich bedaure jetzt, dem Präsidenten das Fax so überhastet geschickt zu haben. Hätte abwarten sollen.«
»Macht nichts, Sir. Die Informationen waren gründlich gereinigt.«
»Lassen Sie mich wissen, wie Trent zur Geldfrage steht.«
»Wird gemacht, Sir.« Jack ging zurück in sein Büro. Das krieg’ ich immer besser hin, sagte sich der DDCI. Cabot ließ sich leicht manipulieren.
Ghosn nahm sich Zeit zum Nachdenken. Dies war nicht der Moment für Aufregung oder voreiliges Handeln. Er setzte sich in eine Ecke seiner Werkstatt, starrte stundenlang die blanke Kugel auf dem Lehmfußboden an und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die Frage nach der Radioaktivität ließ ihm keine Ruhe, aber für solche Sorgen war es sowieso zu spät. Wenn die Kugel harte Gammastrahlung abgab, war er praktisch schon ein toter Mann. Nun mußte er nachdenken und abwägen. Das Stillsitzen kostete ihn gewaltige Anstrengung.
Zum ersten Mal in seinem Leben schämte er sich wegen seiner unvollständigen Ausbildung. In Maschinenbau und Elektrotechnik war er fit, aber ein Buch über Nuklearphysik hatte er sich nie vorgenommen, weil er bezweifelte, mit dem Stoff später etwas anfangen zu können. So kam es, daß er seine Kenntnisse auf anderen Gebieten erweitert und vertieft hatte. Vor allem interessierte er sich für mechanische und elektronische Zündsysteme, elektronische Gegenmaßnahmen, physikalische Eigenschaften von Sprengstoffen und für die Leistungsfähigkeit von Sprengstoff-Spürgeräten. Auf dem letztgenannten Gebiet war er ein richtiger Experte, der sich alle verfügbare Literatur über solche Einrichtungen auf Flughäfen und an anderen interessanten Orten beschaffte.
Punkt eins, sagte sich Ghosn und steckte die vierundfünfzigste Zigarette des Tages an, ich muß mir jedes greifbare Buch über spaltbare Stoffe und ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften besorgen. Auch Literatur über Bombentechnologie, Kernwaffenphysik, Strahlungssignaturen ... die Israelis müssen schon seit 1973 wissen, daß ihnen eine Bombe fehlt! dachte er verblüfft. Warum haben sie sie dann nicht... Natürlich, die Golanhöhen bestehen aus Basalt, und der hat eine relativ hohe Hintergrundstrahlung, in der die Emissionen der tief im Boden steckenden Bombe untergingen.
Mir droht keine Gefahr! erkannte Ghosn.
Wäre die Bombe so »heiß«, würde man sie besser abgeschirmt haben. Allah sei gepriesen!
Konnte er...? Das war die Frage.
Warum nicht?
»Warum eigentlich nicht?« sagte Ghosn laut. »Klar, warum nicht? Ich habe alle notwendigen Teile, wenn auch beschädigt, aber immerhin...«
Ghosn trat seine Zigarette neben den vielen anderen Kippen auf dem Boden aus, erhob sich und bekam einen Hustenanfall. Er wußte, daß das Rauchen weit gefährlicher als die Bombe da war, ihn umbrachte, aber es regte den Verstand an.
Der Ingenieur hob die Kugel auf. Was fing er nun damit an? Für den Augenblick versteckte er sie in der Ecke unter einem Werkzeugkasten. Dann ging er hinaus zu seinem Geländewagen. Die Fahrt zum Hauptquartier dauerte fünfzehn Minuten.
»Ich muß den Kommandanten sprechen«, sagte Ghosn zum Chef der Wache.
»Der hat sich gerade schlafen gelegt«, erwiderte der Mann. Die ganze Wache schirmte den kranken Kommandanten inzwischen zunehmend ab.
»Er empfängt mich bestimmt.« Ghosn marschierte an dem Mann vorbei und geradewegs ins Haus.
Katis Unterkunft war im ersten Stock. Ghosn passierte einen weiteren Wachposten, ging die Treppe hoch und öffnete die Schlafzimmertür. Aus dem Bad nebenan drang ein würgendes Geräusch.
»Wer ist da, verdammt noch mal?« rief eine zornige Stimme. »Ich wollte doch nicht gestört werden!«
»Ich bin’s, Ghosn. Ich muß was Wichtiges mit Ihnen besprechen.«
»Hat das nicht bis morgen Zeit?« Kati erschien in der Türöffnung. Er sah aschfahl aus. Was er sagte, klang wie eine Frage, nicht wie ein Befehl, und das verriet Ghosn eine Menge über den Zustand seines Kommandanten. Nun, vielleicht würde ihm die Nachricht Auftrieb geben.
»Ich muß Ihnen etwas zeigen, und zwar noch heute nacht.« Ghosn war bemüht, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen.
»Ist es wirklich so wichtig?« fragte der Kommandant, und es klang fast wie ein Stöhnen.
»Ja.«
»Gut, dann sagen Sie mir, worum es geht.«
Ghosn schüttelte nur den Kopf und tippte sich dabei ans Ohr. »Um etwas Interessantes. Diese israelische Bombe hat einen neuen Zünder, der mich beinahe zerrissen hätte. Wir müssen unsere Kollegen vor der Einrichtung warnen.«
»Die Bombe? Ich dachte, das sei ein...« Kati hielt inne und schaute Ghosn fragend an. »Soll ich mir das sofort ansehen?«
»Ja, ich fahre Sie selbst hin.«
Katis Charakterstärke gewann die Oberhand. »Na schön. Warten Sie, ich ziehe mich rasch an.«
Ghosn wartete im Erdgeschoß. »Der Kommandant und ich müssen kurz fort.«
»Mohammed!« rief der Chef der Wache, aber Ghosn unterbrach.
»Ich fahre den Kommandanten selbst. In meiner Werkstatt besteht kein Sicherheitsrisiko.«
»Aber ...«
»Sie benehmen sich wie eine alte Glucke. Wenn die Israelis so gerissen wären, lebten Sie und der Kommandant schon längst nicht mehr!« Ghosn konnte in der Finsternis die Miene des Mannes nicht sehen, spürte aber den Zorn des erfahrenen Frontkämpfers.
»Warten wir ab, was der Kommandant dazu zu sagen hat!«
»Was ist denn jetzt schon wieder los?« Kati kam die Treppe hinunter und steckte sich das Hemd in die Hose.
»Kommen Sie mit mir, Kommandant. Auf dieser Fahrt brauchen wir keine Eskorte.«
»Wie Sie meinen, Ibrahim.« Kati ging zum Jeep und stieg ein. Ghosn fuhr an einigen verdutzten Wachposten vorbei.
»Worum geht es eigentlich?«
»Es ist doch eine Bombe und keine Elektronikkapsel«, antwortete der Ingenieur.
»Na und? Wir haben diese Teufelsdinger zu Dutzenden geborgen. Warum machen Sie solche Umstände?«
»Das erkläre ich Ihnen am besten am Objekt selbst.« Ghosn fuhr schnell und konzentriert. »Wenn Sie am Ende der Meinung sind, ich hätte Ihre Zeit vergeudet, können Sie mich ruhig erschießen.«
Daraufhin wandte Kati den Kopf. Die Idee war ihm schon gekommen, aber er war ein zu guter Führer, um solche Sachen zu tun. Ghosn hatte zwar nicht das Zeug zum Kämpfer, war aber auf seinem Gebiet ein Experte und leistete der Organisation wertvolle Dienste. Der Kommandant ertrug den Rest der Fahrt schweigend und wünschte sich nur, daß die Nebenwirkungen der Medikamente, nämlich Erbrechen, ausbleiben würden.
Eine Viertelstunde später stellte Ghosn den Jeep fünfzig Meter von seiner Werkstatt entfernt ab und führte den Kommandanten über Umwege ins Gebäude. Mittlerweile war Kati völlig konfus und aufgebracht. Als das Licht anging, erblickte er die Bombenhülle.
»Na und? Was ist damit?«
»Kommen Sie.« Ghosn führte den Kommandanten in die Ecke und hob den Werkzeugkasten hoch. »Sehen Sie sich das an!«
»Was ist das?« Der Gegenstand sah aus wie eine kleine Kanonenkugel. Kati war wütend auf Ghosn, der die Szene zu genießen schien. Aber das sollte sich bald ändern.
»Das ist Plutonium.«
Der Kopf des Kommandanten schnellte wie von einer Stahlfeder getrieben herum. »Was? Was wollen Sie...«
Ghosn hob die Hand und sprach leise, aber entschieden. »Mit Sicherheit kann ich nur sagen, daß es sich um die Sprengladung einer Atombombe handelt, und zwar einer israelischen.«
»Unmöglich«, flüsterte Kati.
»Fassen Sie die Kugel mal an«, schlug Ghosn vor.
Der Kommandant bückte sich und streckte den Zeigefinger aus. »Sie ist ja warm! Warum?«
»Die Wärme entsteht, weil das Plutonium, ein radioaktives Isotop, langsam zerfällt und dabei Alphateilchen ausstrahlt. Diese Strahlung ist harmlos – jedenfalls hier. Fest steht, daß wir Plutonium vor uns haben.«
»Sind Sie auch ganz sicher?«
»Absolut. Es kann nichts anderes sein.« Ghosn ging hinüber an die Bombenhülle und hielt kleine elektronische Teile hoch. »Die sehen aus wie gläserne Spinnen, nicht wahr? Das sind hochpräzise Kryton-Schalter, für die es nur eine Anwendung gibt – im Innern einer Atombombe. Sehen Sie, daß diese Platten aus Sprengstoff hier teils fünfeckig und teils sechseckig sind? Sie müssen so geformt sein, um eine perfekte Hohlkugel zu bilden. Wir haben es also mit einer Hohlladung zu tun, wie man sie auch im Geschoß der Panzerfaust findet - mit dem einen Unterschied, daß der Explosionsdruck nach innen und nicht nach vorne gerichtet ist. Im vorliegenden Fall würde diese Kugel auf die Größe einer Walnuß zusammengepreßt.«
»Unmöglich! Sie ist doch aus Metall!«
»Kommandant, ich bin zwar auf diesem Gebiet kein Experte, kenne mich aber einigermaßen aus. Wenn der Sprengstoff detoniert, wird diese Metallkugel komprimiert wie Gummi. Das ist wohl möglich – Sie wissen ja, daß der Plasmastrahl eines Panzerabwehrgeschosses dicke Stahlplatten durchbrennt. Und hier haben wir genug Explosivstoff für hundert Antitank-Projektile. Sobald das Metall vom Explosionsdruck zusammengepreßt ist, wird es kritisch. Eine Kettenreaktion setzt ein. Bitte bedenken Sie: Die Bombe fiel am ersten Tag des Oktoberkriegs in den Garten des alten Mannes. Die Israelis waren von der Wucht des syrischen Angriffs und der Wirksamkeit der russischen Raketen überrascht. Das Flugzeug wurde abgeschossen, und die Bombe ging verloren. Die näheren Begleitumstände sind nebensächlich. Entscheidend ist, daß wir hier die Teile einer Atombombe vor uns haben.«
»Können Sie ...«
»Unter Umständen ja«, sagte der Ingenieur. Der gequälte Ausdruck verschwand jäh aus Katis Gesicht.
»Ein Geschenk Allahs!«
»In der Tat, Kommandant. Wir müssen diese Sache nun gründlich durchdenken. Und dafür sorgen, daß sie geheim bleibt.«
Kati nickte. »Gewiß. Es war klug von Ihnen, die Bombe nur mir zu zeigen. In dieser Angelegenheit können wir niemandem trauen, keiner Menschenseele. . .« Kati verstummte und wandte sich dann an seinen Gefolgsmann. »Was müssen Sie tun?«
»Zuerst muß ich mich informieren. Ich brauche Bücher, Kommandant, und wissen Sie, von wo?«
»Aus Rußland?«
Ghosn schüttelte den Kopf. »Aus Israel. Woher sonst?«
Der Abgeordnete des Repräsentantenhauses Alan Trent traf sich mit Ryan in einem Sitzungssaal des Kapitols. Der Raum wurde für Verhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit benutzt und täglich auf Abhörgeräte überprüft.
»Wie geht’s, Jack?« fragte Trent.
»Ich kann nicht klagen, Al. Der Präsident hatte einen guten Tag.«
»In der Tat – er und die ganze Welt. Das Land steht in Ihrer Schuld, Dr. Ryan.«
»Lassen wir das bloß niemanden erfahren«, versetzte Ryan mit einem ironischen Lächeln.
Trent zuckte mit den Achseln. »Das sind eben die Spielregeln. Damit sollten Sie sich mittlerweile abgefunden haben. Nun, was führt Sie so kurzfristig hierher?«
»Wir haben eine neue Operation laufen, sie heißt NIITAKA«, erklärte der DDCI und sprach einige Minuten lang weiter. Zu einem späteren Zeitpunkt würde er Unterlagen liefern müssen. Im Augenblick aber mußte der Vertreter des Kongresses nur über die Operation und ihren Zweck unterrichtet werden.
»Eine Million Dollar im Monat!« Trent lachte laut. »Mehr verlangt er nicht?«
»Der Direktor war geschockt«, berichtete Jack.
»Ich habe Marcus immer gemocht, aber er ist ein Geizhals. Im Ausschuß sitzen zwei Kollegen, die bei jeder Gelegenheit auf Japan eindreschen. Wenn sie von dieser Sache hören, gibt es kein Halten mehr.«
»Und Sie gehören wohl auch zu dieser Fraktion, Al.«
Trent sah sehr verletzt aus. »Ich soll anti-japanisch eingestellt sein? Nur weil in meinem Wahlkreis zwei Hersteller von Fernsehgeräten dichtmachen mußten und ein Zulieferbetrieb für die Automobilindustrie gezwungen war, die Hälfte seiner Leute zu entlassen? Soll ich darüber sauer sein? Zeigen Sie mir mal das Protokoll der Kabinettssitzung«, befahl der Abgeordnete.
Ryan öffnete seine Aktentasche. »Sie dürfen das weder kopieren noch zitieren, Al. Es handelt sich um eine langfristige Operation, die ...«
»Jack, ich komme nicht gerade frisch aus der Provinz. Warum sind Sie so humorlos? Was ist mit Ihnen?«
»Ach, ich bin nur überarbeitet«, gestand Jack und händigte die Papiere aus. Trent, ein Schnelleser, überflog die Seiten mit unverschämter Geschwindigkeit. Dabei setzte er eine neutrale Miene auf, und er verwandelte sich in das, was er vor allem war: in einen kalten, berechnenden Politiker. Er stand weit auf der linken Seite des politischen Spektrums, war aber anders als die Mehrzahl seiner Gesinnungsgenossen kein rigider Ideologe. Seinen Leidenschaften ließ er nur bei Parlamentsdebatten und daheim im Bett freien Lauf. Ansonsten war er ein eiskalter Analytiker.
»Fowler springt im Dreieck, wenn er das sieht. Die Japaner sind wirklich ein unverschämt arroganter Verein. Haben Sie solche Sprüche jemals in unseren Kabinettssitzungen gehört?« fragte Trent.
»Nur, wenn es um innenpolitische Fragen ging. Ich bin auch vom Ton geschockt, aber Japan hat eben eine andere Kultur.«
Der Kongreßabgeordnete schaute kurz auf. »Stimmt. Unter dem Deckmäntelchen der guten Manieren versteckt sich ein wildes und barbarisches Volk, etwa so wie die Briten. Aber dieses Protokoll liest sich wie das Drehbuch zu einer ordinären Komödie. Sensationell, Jack. Wer hat den Agenten angeworben?«
»Nun, es gab das übliche Balzritual. Er tauchte bei einer Reihe von Empfängen auf, der Chef unserer Station in Tokio bekam Wind, ließ den Mann ein paar Wochen schmoren und trat dann an ihn heran. Der Russe überreichte ihm ein Informationspaket und die Vertragsbedingungen.«
»Warum heißt die Operation NIITAKA? Das Wort kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Ich habe es selbst ausgewählt. Als der japanische Trägerverband auf Pearl Harbor zulief, war das Signal zum Angriff ›Besteigt den NIITAKA‹. Vergessen Sie nicht: Sie sind der einzige hier, der dieses Wort kennt. Es wird übrigens monatlich geändert. Dieser Fall ist so heiß, daß wir alle Register ziehen.«
»Richtig«, stimmte Trent zu. »Und was, wenn der Mann ein Agent provocateur ist?«
»Diese Frage haben wir uns auch gestellt. Möglich, aber unwahrscheinlich. Wenn der KGB zu solchen Mitteln griffe, verstieße er gegen die derzeit gültigen Abmachungen.«
»Moment!« Trent hatte die letzte Seite noch einmal durchgelesen. »Was steht da über Kommunikation?«
»Ja, das ist beängstigend.« Endlich war das Thema angeschnitten. Ryan erklärte die Sache.
»Fünfzig Millionen? Ist das Ihr Ernst?«
»Soviel kostet die Einrichtung des Systems. Hinzu kämen die Gehälter für das neue Personal. Die jährlichen Betriebskosten betragen fünfzehn Millionen, wenn es erst einmal steht.«
»Ein annehmbarer Preis. Die NSA verlangt für die Umstellung ihres Systems viel mehr.«
»Nun, die hat auch eine größere Infrastruktur. Die Summe, die ich genannt habe, ist ein Festpreis. MERCURY ist ein recht kleines System.«
»Wie bald brauchen Sie die Mittel?« Trent wußte, daß Ryans Kostenvoranschläge verläßlich waren. Er schrieb das seiner Erfahrung im Geschäftsleben zu, eine bei Regierungsbediensteten selten zu findende Qualifikation.
»Letzte Woche wäre schön, Sir.«
Trent nickte. »Mal sehen, was ich tun kann. Sie wollen das Geld natürlich ›schwarz‹ haben?«
»Schwarz wie die Nacht«, erwiderte Ryan.
»Verdammt noch mal!« fluchte Trent. »Dabei habe ich Olson auf die Sache hingewiesen! Jedesmal, wenn seine Techniker einen Regentanz veranstalten, nimmt er das für bare Münze. Was, wenn...«
»Tja, was tun wir, wenn unsere gesamte Kommunikation nicht mehr sicher ist.« Das klang nicht wie eine Frage. »Ein Hoch auf die Perestroika.«
»Sind Marcus die Implikationen klar?«
»Ich habe ihm meinen Verdacht heute vormittag vorgetragen. Er versteht, worum es geht. Er mag nicht so erfahren sein, wie wir es uns wünschen, aber er lernt schnell. Ich hatte schon problematischere Vorgesetzte.«
»Sie sind viel zu loyal. Muß ein Überbleibsel aus Ihrer Dienstzeit bei den Marines sein«, merkte Trent an. »Sie gäben einen guten Direktor ab.«
»So weit kommt es nie.«
»Stimmt. Nun, seit Liz Elliot Sicherheitsberaterin ist, müssen Sie sich in acht nehmen.«
»Allerdings.«
»Warum hat sie eigentlich so einen Rochus auf Sie? Na ja, sie schnappt schnell ein.«
»Ich kam kurz nach dem Parteikonvent nach Chicago, um Fowler zu informieren, und war nach zwei Auslandsreisen übermüdet. Sie trat mir auf die Zehen, und ich revanchierte mich.«
»Versuchen Sie, nett zu ihr zu sein.«
»Das hat Admiral Greer auch gesagt.«
Trent gab Ryan die Unterlagen zurück. »Und das ist nicht einfach, stimmt’s?«
»Wohl wahr.«
»Versuchen Sie es trotzdem. Einen besseren Rat kann ich Ihnen nicht geben.« Reine Zeitverschwendung, fügte er in Gedanken hinzu.
»Ja, Sir.«
»Mit Ihrem Anschlag sind Sie gerade zur rechten Zeit gekommen. Die neue Operation wird den Ausschuß sehr beeindrucken. Meine anti-japanischen Kollegen stecken dann ihren Freunden im Haushaltsausschuß, daß die CIA etwas sehr Nützliches tut. Mit ein bißchen Glück haben Sie Ihr Geld in zwei Wochen. Fünfzig Millionen – ist doch nur Hühnerfutter. Nett, daß Sie vorbeigeschaut haben.«
Ryan schloß seine Aktentasche ab und stand auf. »Das ist mir immer ein Vergnügen.«
Trent gab ihm die Hand. »Sie sind ein feiner Kerl, Ryan. Nur schade, daß Sie hetero sind.«
Jack lachte. »Wir haben alle unsere kleinen Fehler.«
Ryan fuhr zurück nach Langley, legte die NIITAKA-Dokumente in den Safe und machte dann Feierabend. Er nahm mit Clark zusammen den Aufzug zur Tiefgarage und verließ das Haus eine Stunde früher als gewöhnlich – das taten sie ungefähr alle zwei Wochen. Vierzig Minuten später bogen sie auf den Parkplatz eines 7-Eleven-Markts zwischen Washington und Annapolis ein.
»Hallo, Doc Ryan!« rief Carol Zimmer von der Kasse. Nachdem einer ihrer Söhne sie abgelöst hatte, führte sie Jack in ihr kleines Büro. John Clark überprüfte den Laden. Um Ryans Sicherheit sorgte er sich nicht, aber er hatte seine Zweifel, was einige Rüpel aus der Gegend anging, die gegenüber dem Laden herumlungerten. Dem Anführer hatten Clark und Chavez es vor dreien seiner Kumpanen gezeigt. Als einer eingreifen wollte, war er von Chavez gnädig behandelt, also nicht ganz krankenhausreif geschlagen worden. Clark war der Ansicht, daß dies auf Dings zunehmende Reife hinwies.
»Wie gehen die Geschäfte?« fragte Jack hinten.
»Sechsundzwanzig Prozent besser als letztes Jahr.«
Die knapp vierzigjährige Carol Zimmer stammte aus Laos und war im letzten Moment vor der anrückenden nordvietnamesischen Armee von einem Hubschrauber der Air Force von einer Bergfestung in Nordlaos evakuiert worden. Damals war sie sechzehn gewesen und das letzte überlebende Kind eines Hmong-Häuptlings, der tapfer und bis in den Tod für amerikanische und eigene Interessen gekämpft hatte. Sie heiratete den Sergeant der Air Force, Buck Zimmer, der später, nachdem man ihn bei einer Operation im Stich gelassen hatte, in einem Hubschrauber umkam. Und dann hatte Ryan eingegriffen. Trotz der vielen Jahre im Regierungsdienst hatte er seinen Geschäftssinn nicht verloren, ihr einen Laden in guter Lage besorgt und einen Fonds für die Ausbildung ihrer acht Kinder eingerichtet. Das erste, das nun das College besuchte, hatte sein Geld indes nicht gebraucht: Ryans Fürsprache bei Pater Tim Riley in Georgetown hatte zu einem Stipendium geführt, und inzwischen gehörte Laurence Alvin Zimmer jr. schon zu den Besten in seinem Kurs, der als Vorbereitung auf ein Medizinstudium gedacht war. Carol Zimmer hatte ihre für Ostasiaten typische, schon fast fanatische Bildungsbeflissenheit allen ihren Kindern eingetrichtert und führte ihren kleinen Markt so streng und penibel wie ein preußischer Spieß seine Kompanie. Die Kassentheke war so sauber, daß Cathy Ryan darauf eine Operation hätte ausführen können. Ryan mußte bei dem Gedanken lächeln. Vielleicht wurde aus Laurence einmal ein Chirurg...
Nun schaute er sich die Bücher an. Er praktizierte zwar nicht mehr als amtlich zugelassener Wirtschaftsprüfer, konnte aber nach wie vor eine Bilanz lesen.
»Essen Sie mit uns zu Abend?«
»Carol, das geht leider nicht. Ich muß heim. Mein Sohn hat ein Baseball-spiel. Ist sonst alles in Ordnung? Kein Ärger mehr mit diesen Skins?«
»Die haben sich nie mehr sehen lassen. Mr. Clark hat sie verscheucht.«
»Gut. Aber wenn sie wieder auftauchen, rufen Sie mich sofort an, klar?« sagte Jack ernst.
»Gut, gut, mach’ ich«, versprach sie.
»Schön.« Jack stand auf.
»Doc Ryan?«
»Ja?«
»Die Air Force sagt, Buck sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich habe noch niemanden gefragt, aber jetzt will ich von Ihnen wissen: War es wirklich ein Unfall?«
»Carol, Buck ist im Dienst, bei einer Rettungsaktion, umgekommen. Ich war dabei und Mr. Clark auch.«
»Und die Leute, die ihn umgebracht haben ...«
»Von denen haben Sie nichts zu befürchten. Die können Sie vergessen«, sagte Ryan gelassen und sah an Carols Blick, daß sie verstand.
»Danke, Doc Ryan. Ich frage nie wieder danach, aber ich wollte einfach Gewißheit haben.«
»Schon gut.« Er war nur überrascht, daß sie so lange gewartet hatte.
Es knackte im Lautsprecher am Schott. »Hier Sonar. Kontakt in null-viersieben, designiert Sierra 5. Keine weiteren Informationen. Meldungen folgen.«
»Danke.« Captain Ricks drehte sich zum elektronischen Kartentisch um. »Kontakt verfolgen.« Nun schaute er sich im Raum um. Die Instrumente zeigten sieben Knoten Fahrt, 130 Meter Tiefe und Kurs drei-null-drei an. Der Kontakt lag an Steuerbord querab.
Ensign setzte sich sofort an einen Minicomputer, Marke Hewlett-Packard, in der achterlichen Steuerbordecke der Zentrale. »Okay«, verkündete er. »Es liegt ein ungefährer Peilwinkel vor... wird jetzt berechnet.« Dafür brauchte der Computer ganze zwei Sekunden. »Okay, Kontakt nahe Konvergenzzone. . . Distanz zwischen 3500 und 4500 Meter, wenn er sich in KZ-1 befindet, 5500 bis 6100 Meter, falls er in KZ-2 liegt.«
»Fast zu einfach«, sagte der Erste Offizier zum Skipper.
»Sie haben recht, IA. Computer abschalten«, befahl Ricks.
Lieutenant Commander Wally Claggett, Erster Offizier des Teams »Gold« von USS Maine ging zum Gerät und stellte es ab. »HP-Computer defekt«, verkündete er. »Die Reparatur wird Stunden dauern. Schade.«
»Schönen Dank«, bemerkte Ensign Ken Shaw leise zu dem Steuermannsmaat, der sich neben ihm über den Kartentisch beugte.
»Macht nichts, Mr. Shaw«, flüsterte der Maat zurück. »Das schaffen wir auch ohne den Kasten.«
»Ruhe in der Zentrale!« mahnte Captain Ricks.
Das U-Boot war auf Nordwestkurs. Die Sonar-Operatoren versorgten die Zentrale mit Informationen. Nach zehn Minuten traf das Team am Kartentisch seine Entscheidung.
»Captain«, meldete Ensign Shaw. »Unserer Schätzung nach befindet sich Kontakt Sierra-5 in KZ-1. Distanz 3900 Meter, Südkurs, Fahrt acht bis zehn Knoten.«
»Bestimmen Sie das genauer!« befahl der Captain scharf.
»Zentrale, hier Sonar. Sierra-5 hört sich wie ein sowjetisches Jagd-U-Boot der Akula-Klasse an... vorläufig als Akula 6 identifiziert, Admiral Lunin. Moment...« Eine kurze Pause. »Sierra-5 hat möglicherweise den Kurs geändert. Zentrale, Kursänderung bestätigt. Sierra-5 liegt nun eindeutig querab.«
»Captain«, sagte der IA, »das maximiert die Wirksamkeit seines Schleppsonars.«
»Genau. Sonar, Überprüfung auf Eigengeräusche.«
»Aye, wir prüfen.« Eine Pause. »Zentrale, wir machen Lärm. Es klingt so, als klapperte etwas in den achterlichen Ballasttanks. War bisher nicht aufgetreten, Sir. Eindeutig achtern, eindeutig metallisch.«
»Hier Steuerzentrale. Hier hinten stimmt was nicht. Ich höre Krach von achtern, vielleicht aus den Ballasttanks.«
»Captain, Sierra-5 ist auf Gegenkurs gegangen«, meldete Shaw. »Ziel ist nun auf Südostkurs, rund eins-drei-null.«
»Vielleicht hat er uns gehört«, grollte Ricks. »Ich gehe durch die Schicht nach oben. Auf 30 Meter gehen.«
»30 Meter, aye«, antwortete der Tauchoffizier sofort. »Steuer: Tiefenruder an fünf.« Der Rudergänger bestätigte den Befehl.
»Hier Steuerzentrale: Das Klappern hat mit der Aufwärtsbewegung aufgehört.«
Der IA neben dem Captain grunzte. »Was hat das zu bedeuten?«
»Vermutlich, daß irgendein blöder Werftarbeiter seinen Werkzeugkasten im Ballasttank vergessen hat. Ist einem Freund von mir mal passiert.« Ricks war aufgebracht, aber wenn so etwas vorkommen mußte, dann lieber hier. »Wenn wir über der Schicht sind, will ich nach Norden fahren und mich absetzen.«
»Sir, ich würde lieber abwarten. Wir wissen, wo die KZ ist. Soll er doch herausschleichen, dann können wir verschwinden, ohne daß er uns hört. Er soll ruhig glauben, daß er uns hat und daß wir nichts gemerkt haben. Mit trickreichen oder radikalen Manövern verrieten wir uns nur.«
Ricks dachte über den Einwand nach. »Nein, der Lärm achtern hat aufgehört, wir sind vermutlich schon von den Instrumenten des Akula verschwunden, und über der Schicht verlieren wir uns im Oberflächenlärm und können klarsteuern. So gut kann sein Sonar nicht sein. Er weiß noch nicht einmal, wo wir sind, sondern schnüffelt nur herum. Gehen wir über die KZ, verschaffen wir uns Distanz.«
»Aye aye«, erwiderte der IA gelassen.
Maine pendelte in 30 Metern aus, weit über der Thermoklinale, der Grenze zwischen dem relativ warmen Oberflächenwasser und dem kalten Wasser der Tiefe. Da über der Thermoklinale drastisch veränderte Sonarbedingungen herrschten, war nach Ricks’ Auffassung eine Ortung durch das Akula ausgeschlossen.
»Zentrale, hier Sonar. Wir haben Kontakt Sierra-5 verloren.«
»Ich übernehme«, verkündete Ricks.
»Der Captain hat übernommen«, bestätigte der Diensthabende.
»Ruder zehn Grad Backbord, neuer Kurs drei-fünf-null.«
»Ruder zehn Grad ßackbord, aye, neuer Kurs drei-fünf-null. Sir, Ruderlage zehn Grad Backbord.«
»Gut. Maschinenraum: Umdrehungen für zehn Knoten.«
Maine ging auf Nordkurs und machte mehr Fahrt. Erst nach mehreren Minuten war sein Schleppsonar wieder in Kiellinie und voll funktionsfähig. Während dieser Minuten war das amerikanische U-Boot sozusagen blind.
»Hier Steuerzentrale. Der Krach fängt wieder an!« tönte es aus dem Lautsprecher.
»Auf fünf verzögern – ein Drittel voraus!«
»Ein Drittel voraus, aye. Sir, Maschinenraum meldet ein Drittel voraus.«
»Gut. Steuerzentrale: Was ist mit dem Lärm?«
»Immer noch da, Sir.«
»Warten wir eine Minute«, entschied Ricks. »Sonar, haben Sie etwas von Sierra-5?«
»Negativ, Sir. Derzeit keine Kontakte.«
Ricks schlürfte seinen Kaffee und schaute drei Minuten lang auf die Uhr am Schott. »Steuerzentrale: Was macht der Lärm?« fragte er dann.
»Hat sich nicht geändert, Sir, ist immer noch da.«
»Verdammt! IA, einen Knoten weniger.« Claggett tat wie befohlen und bemerkte, daß der Skipper die Nerven verloren hatte.
Zehn Minuten vergingen. Das besorgniserregende Klappern wurde leiser, verschwand aber nicht.
»Hier Sonar! Kontakt in null-eins-fünf, erschien urplötzlich und ist offenbar Sierra-5, Sir. Eindeutig Akula-Klasse, Admiral Lunin. Läuft uns direkt entgegen und kam vermutlich gerade durch die Schicht, Sir.«
»Hat er uns geortet?«
»Vermutlich, Sir«, meldete der Sonarmann.
»Halt!« befahl eine andere Stimme. Commodore Mancuso war in den Raum gekommen. »Beenden wir die Übung an diesem Punkt. Würden die Offiziere mir bitte folgen?«
Alle atmeten auf, als das Licht anging. Der Raum befand sich in einem großen, quadratischen Gebäude, das überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem U-Boot aufwies, aber über mehrere Räume verteilt die wichtigsten Elemente eines strategischen Boots der Ohio-Klasse enthielt. Mancuso führte die Besatzung der Operationszentrale in ein Konferenzzimmer und schloß die Tür.
»Das war ein taktischer Fehler, Captain.« Bart Mancuso war dafür bekannt, daß er keine diplomatische Art hatte. »IA, was rieten Sie Ihrem Skipper?« Claggett wiederholte wörtlich seinen Vorschlag. »Captain, warum haben Sie diesen Rat nicht befolgt?«
»Sir, ich hielt unseren akustischen Vorteil für ausreichend und handelte so, um eine maximale Distanz zum Ziel zu schaffen.«
»Wally?« Mancuso wandte sich an den Skipper der Besatzung »Rot«, Wally Chambers, der demnächst USS Key West übernehmen sollte. Chambers hatte auf Dallas unter Mancuso gedient und sein Geschick als Jäger gerade unter Beweis gestellt.
»Ihr Manöver war zu berechenbar, Captain. Darüber hinaus präsentierten Sie durch die Kurs- und Tiefenänderung meinem Schleppsonar Ihre Lärmquelle und verrieten mir durch Rumpfknistern eindeutig, daß ich einen U-Kontakt hatte. Sie hätten mir den Bug weisen, die Fahrt reduzieren und die Tiefe halten sollen. Ich hatte nur einen vagen Hinweis auf Sie. Wären Sie langsamer gefahren, hätte ich Sie niemals identifiziert. So aber machte ich Ihren Sprung über die Schicht aus und spurtete unter Ihnen los, sowie ich aus der KZ war. Captain, ich wußte nicht, mit was ich es zu tun hatte, bis Sie es mir verrieten. Sie ließen mich viel zu dicht herankommen. Ich ließ mein Schleppsonar über der Schicht treiben und blieb selber unter ihr; so konnte ich Sie trotz Oberflächenlärms über 18 Meilen orten. Anschließend brauchte ich nur noch weiterzuspurten, bis ich dicht genug für erfolgversprechende Zielkoordinaten dran war. Sie waren im Visier.«
»Die Übung sollte zeigen, was passiert, wenn man seinen akustischen Vorteil verliert.« Mancuso ließ seine Erklärung wirken, ehe er fortfuhr. »Na schön, das war unfair. Aber wer sagt, daß es fair zugeht im Leben?«
»Das Akula ist ein gutes Boot, doch was taugt sein Sonar?«
»Es ist unserer Ansicht nach mit dem der 688-Boote der zweiten Garnitur zu vergleichen.«
Ausgeschlossen, dachte Ricks und fragte dann: »Mit welchen Überraschungen muß ich sonst noch rechnen?«
»Gute Frage. Antwort: Das wissen wir auch nicht. Und wer keine exakten Informationen hat, muß davon ausgehen, daß der Gegner so gut ist wie er selbst.«
Ausgeschlossen, dachte Ricks.
Vielleicht sogar noch besser, dachte Mancuso.
»Nun denn«, wandte sich der Commodore an die versammelte Besatzung der Zentrale. »Gehen Sie Ihre eigenen Daten durch. In dreißig Minuten halten wir dann die Schlußbesprechung.«
Ricks sah, daß Mancuso und Chambers beim Hinausgehen miteinander lachten. Mancuso mochte ein geschickter und tüchtiger U-Boot-Fahrer sein, aber er hatte die Mentalität eines U-Jägers und war als Commodore eines Geschwaders strategischer Boote am falschen Platz. Natürlich hatte er einen Kumpel von der Atlantikflotte hinzugezogen, auch so ein Unterwasser-Cowboy, aber das war eben der Brauch. Ricks war davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben.
Die Übung war unrealistisch gewesen, fand Ricks. Hatte Rosselli nicht gesagt, Maine sei so lautlos wie ein schwarzes Loch im Wasser? Verflucht, das war seine erste Chance gewesen, dem Commodore sein Können zu beweisen. Ein fauler Trick und die Fehler der Besatzung, auf die Rosselli so stolz gewesen war, hatten ihm die Möglichkeit genommen, bei diesem künstlichen und unfairen Test einen guten Eindruck zu machen.
»Mr. Shaw, zeigen Sie mir Ihre Unterlagen.«
»Hier, Sir.« Shaw, der seine theoretische Ausbildung erst vor zwei Monaten in Groton abgeschlossen hatte, stand in der Ecke und hatte die Karten und seine Aufzeichnungen fest an die Brust gepreßt. Ricks entriß sie ihm, breitete sie auf einem Tisch aus und musterte sie kurz.
»Schlamperei. Das hätten Sie mindestens eine Minute schneller schaffen können.«
»Jawohl, Sir«, erwiderte Shaw. Er hatte zwar keine Ahnung, wie die Aufgabe rascher zu erledigen gewesen wäre, aber der Captain hatte gesprochen, und der Captain hatte immer recht.
»Das hätte das Blatt wenden können«, sagte er in einem gedämpfteren, aber noch immer häßlich scharfen Ton.
»Das tut mir leid, Sir.« Ensign Shaw hatte zum ersten Mal einen richtigen Fehler gemacht. Ricks richtete sich auf, mußte aber trotzdem aufschauen, um Shaw in die Augen zu sehen. Auch das verbesserte seine Laune nicht.
»Mit Entschuldigungen ist es nicht getan, Mister. Entschuldigungen gefährden das Schiff und kosten Menschenleben. Entschuldigungen hört man nur von inkompetenten Offizieren. Haben Sie mich verstanden, Mr. Shaw?«
»Jawohl, Sir.«
»Bestens.« Das kam heraus wie ein Fluch. »Sorgen Sie dafür, daß so etwas nicht wieder vorkommt.«
Den Rest der halbstündigen Pause verbrachte man mit dem Studium der bei der Übung angefallenen Daten. Dann gingen die Offiziere in einen größeren Raum, um die Übung zu analysieren und zu erfahren, was die Mannschaft »Rot« gesehen und getan hatte. Lieutenant Commander Claggett hielt Ricks auf.
»Skipper, Sie sind ein bißchen zu streng mit Shaw gewesen.«
»Was soll das heißen?« fragte Ricks gereizt und überrascht.
»Shaw hat keine Fehler gemacht. Ich selbst hätte das kaum dreißig Sekunden schneller erledigen können. Der Maat, den ich ihm zur Seite stellte, hat fünf Jahre Erfahrung und ist Ausbilder in Groton. Ich behielt die beiden im Auge. Sie haben sich ordentlich gehalten.«
»Wollen Sie etwa behaupten, der Fehler sei meine Schuld?« fragte Ricks täuschend sanft.
»Jawohl, Sir«, erwiderte der IA ehrlich, wie er es gelernt hatte.
»Ach, wirklich?« versetzte Ricks und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.
Die Behauptung, Petra Hassler-Bock sei unglücklich, war ein Understatement von epischem Ausmaß. Die Enddreißigerin war seit fünfzehn Jahren auf der Flucht und hatte sich schließlich, als es im Westen für sie zu gefährlich wurde, in die DDR abgesetzt – in die ehemalige DDR, dachte der Ermittlungsbeamte des BKA mit einem zufriedenen Lächeln. Erstaunlicherweise aber war es ihr trotz des Drucks offenbar prächtig gegangen. Jedes Foto in der dicken Akte zeigte eine attraktive, vitale, lächelnde Frau mit einem mädchenhaften faltenlosen Gesicht und wuscheligem braunem Haar. Diese Person hatte kaltblütig beobachtet, wie drei Menschen gestorben waren – nachdem man sie mehrere Tage lang mit Messern gefoltert hatte. Die Morde hatten ein politisches Signal sein sollen – damals stand die Entscheidung über die Stationierung amerikanischer Pershing 2 und Cruise Missiles in der Bundesrepublik an, und die RAF wollte die Bevölkerung durch Terror auf ihre Seite bringen. Der Erfolg war natürlich ausgeblieben, aber man inszenierte den dritten Mord wie einen Horrorfilm.
»Sagen Sie, Frau Hassler-Bock, fanden Sie Vergnügen daran, Wilhelm Manstein zu töten?« fragte der Mann vom BKA.
»Manstein war ein Schwein«, erwiderte sie trotzig. »Ein fetter, geiler Hurenbock.«
Und deshalb war er auch erwischt worden, wie der Ermittler wußte. Petra hatte die Entführung eingefädelt, indem sie Manstein auf sich aufmerksam gemacht und ein kurzes, leidenschaftliches Verhältnis angefangen hatte. Ihr Opfer war nicht gerade attraktiv gewesen, aber Petra, die eine härtere Linie vertrat als die Feministinnen in anderen westlichen Ländern, hatte seine Liebkosungen über sich ergehen lassen, um sich dann später zu rächen. Vielleicht eine Überreaktion auf die alte Kinder-Küche-Kirche-Ideologie, sagte sich der Ermittler, der noch nie eine so kaltblütige und furchteinflößende Mörderin gesehen hatte wie Petra Hassler-Bock. Die ersten Körperteile, die sie mit der Post an Mansteins Familie geschickt hatte, waren jene gewesen, die sie besonders anstößig gefunden hatte. Dem Bericht des Pathologen zufolge hatte Manstein noch zehn Tage, nachdem er verstümmelt worden war, gelebt.
»Nun, Sie sind seinen Neigungen ja entgegengekommen. Günther war ja auch von der Leidenschaft, mit der Sie es mit ihm trieben, überrascht. Fünf Nächte verbrachten Sie vor der Entführung mit Manstein. Hat das auch Spaß gemacht?« Das saß. Petras Schönheit war verwelkt. Ihre Haut war fahl, sie hatte Ringe unter den Augen und acht Kilo verloren. Für einen kurzen Moment funkelte sie ihn trotzig an. »Tja, es war Ihnen wohl ein Vergnügen, sich ihm hinzugeben, ihn ›machen zu lassen‹. Sie müssen mitgespielt haben, denn sonst wäre er nicht wiedergekommen. Es ging also nicht nur darum, ihn in die Falle zu locken. Ihre Leidenschaft war nicht nur vorgetäuscht. Herr. Manstein war ein erfahrener Frauenkenner, der nur zu den besten Huren ging. Wo haben Sie Ihre Tricks gelernt, Frau Hassler-Bock? Übten Sie die vorher mit Günther – oder mit anderen? Alles im Namen der revolutionären Gerechtigkeit natürlich, der revolutionären Kameradschaft. Sie sind nichts als eine Nutte – schlimmer noch, denn Huren haben wenigstens noch Moral.
Und Ihr geliebter revolutionärer Kampf«, höhnte der Ermittler weiter. »Was für eine tolle Sache! Wie fühlt man sich, wenn sich das ganze deutsche Volk von einem abwendet?« Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum, brachte es aber nicht fertig... »Na, wo bleiben die heroischen Sprüche? Haben Sie nicht immer von Freiheit und Demokratie gefaselt? Enttäuscht es Sie nicht, daß es nun die Demokratie auch im Osten gibt und die Bürger Sie und Ihresgleichen verabscheuen? Wie fühlt man sich als Aussätzige? Kein Mensch hört mehr auf Sie«, fügte der BKA-Mann hinzu.»Sie haben von Ihrem Fenster aus die Leute auf der Straße gesehen. Eine Demonstration fand direkt vor Ihrem Haus statt. Was haben Sie sich beim Zuschauen gedacht? Was haben Sie zu Günthergesagt? Das Ganze sei nur eine Verschwörung der Reaktion?« Der Ermittler schüttelte den Kopf, beugte sich vor und starrte in die leeren, leblosen Augen der Frau.
»Wie erklären Sie sich den Ausgang der ersten freien Wahlen im Osten? Alles, wofür Sie eingestanden, gearbeitet und gemordet hatten – auf einmal falsch, alles umsonst! Na, ganz umsonst war es nicht. Sie bekamen ja Gelegenheit, mit Wilhelm Manstein zu schlafen.« Der Beamte lehnte sich zurück, zündete einen Zigarillo an und blies Rauch zur Decke. »Und nun? Hoffentlich haben Sie das kleine Abenteuer genossen. Aus diesem Gefängnis kommen Sie nämlich nie wieder heraus. Niemals. Niemand wird Mitleid mit Ihnen haben, selbst wenn Sie im Rollstuhl säßen. Man wird an Ihre Verbrechen denken und sich sagen: Lassen wir sie bei den anderen brutalen Bestien sitzen, da gehört sie hin. Ihre Lage ist hoffnungslos. Sie werden in diesem Gebäude sterben.«
Petra Hassler-Bock machte eine ruckartige Kopfbewegung. Ihre Augen weiteten sich, und sie schien etwas sagen zu wollen, blieb aber stumm.
Der Beamte fuhr im Plauderton fort. »Günther haben wir übrigens aus den Augen verloren. In Bulgarien verpaßten wir ihn nur um dreißig Stunden. Wir haben von den Russen Akten über Sie und Ihre Freunde bekommen und wissen Bescheid – auch über die Monate, die Sie in Ausbildungslagern verbrachten. Günther ist jedenfalls immer noch flüchtig. Wir vermuten, daß er sich im Libanon bei Ihren alten Freunden versteckt. Und dieser Verein kommt als nächster dran. Wissen Sie, daß Amerikaner, Russen und Israelis nun zusammenarbeiten? Das ist ein Punkt des Abkommens. Toll, nicht wahr? Ich nehme an, daß wir Günther dort erwischen ... wenn wir Glück haben, leistet er Widerstand. Dann bringen wir Ihnen ein Bild von seiner Leiche... Ach ja, wenn wir schon von Bildern reden ... das hätte ich ja fast vergessen!
Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte der Beamte, schob eine Videokassette in ein Abspielgerät und stellte den Fernseher an. Es dauerte eine Weile, bis das Bild ruhig und scharf wurde; die Aufnahmen waren offensichtlich von einem Amateur mit der Handkamera gemacht worden. Petra sah zwei kleine Mädchen in rosa Kleidern in einem typisch deutschen Wohnzimmer auf dem Teppich sitzen. Alles war sauber und ordentlich; selbst die Illustrierten lagen parallel zur Tischkante.
»Erika, Ursel, kommt mal her«, sagte eine Frauenstimme, und die beiden Kleinkinder zogen sich am Couchtisch hoch und gingen mit unsicheren Schritten auf die Frau zu, die sie in die Arme nahm. »Mutti«, sagten beide. Der Beamte schaltete den Fernseher aus.
»So, die beiden können laufen und sprechen. Ist das nicht wunderbar? Ihre neue Mutter hat sie sehr lieb. Ich dachte mir, daß Sie das gerne sehen würden. So, das wäre alles für heute.« Der BKA-Mann drückte auf einen verborgenen Knopf, und ein Wärter erschien, um die gefesselte Gefangene zurück in ihre Zelle zu führen.
Die kahle Zelle war quadratisch und hatte weiß gestrichene Backsteinwände. Ein Fenster gab es nicht, und die Stahltür hatte nur einen Spion und einen Schlitz für die Tabletts mit den Mahlzeiten. Petra wußte nicht, daß knapp unter der Decke eine infrarotdurchlässige Backsteinattrappe angebracht war, die eine Überwachungskamera verbarg. Auf dem Weg zur Zelle wahrte Petra Hassler-Bock die Fassung.
Doch kaum war die Tür zugefallen, brach sie zusammen.
Petras hohle Augen starrten auf den Fußboden, der ebenfalls weiß war. Weinen konnte sie noch nicht, als sie über den Alptraum nachdachte, zu dem ihr Leben geworden war. Das ist alles nicht wahr, redete sie sich mit einem Optimismus, der schon an Wahnsinn grenzte, ein. Sie konnte doch nicht alles, woran sie geglaubt, wofür sie gearbeitet hatte, verloren haben! Günther, die Kinder, die revolutionäre Sache, ihr Leben.
Daß man sie nur verhörte, um sie zu quälen, war ihr klar. Man hatte sie nie ernsthaft nach Informationen ausgehorcht, aber das hatte seinen Grund. Sie hatte keine nützlichen Hinweise zu geben. Man hatte ihr Fotokopien der Stasi-Akten gezeigt. Alles, was der Arbeiter- und Bauernstaat über sie gewußt hatte, und das war überraschend viel, war nun in den Händen der westdeutschen Behörden. Namen, Adressen, Telefonnummern, Fakten über sie, die zwanzig Jahre zurückreichten und die sie teils schon vergessen, und Fakten über Günther, die sie nie gewußt hatte. Das alles lag nun beim BKA.
Es war aus. Verloren.
Petra würgte und begann zu weinen. Selbst Erika und Ursel, ihre Zwillinge, ihr Vertrauen in die Zukunft, das Symbol ihrer Liebe zu Günther. Sie taten nun ihre ersten Schritte in einer fremden Wohnung und sagten »Mutti« zu einer Fremden – der Frau eines Polizeihauptmanns, wie man ihr gesagt hatte. Petra weinte eine halbe Stunde lang – aber stumm, weil sie wußte, daß es in diesem verfluchten weißen Kabuff, in dem sie keinen richtigen Schlaf fand, ein Mikrofon geben mußte.
Alles verloren.
Was war das hier für ein Leben? Als sie zum ersten und einzigen Mal mit anderen Häftlingen auf den Hof gelassen worden war, hatte man zwei von ihr wegzerren müssen. Noch heute klangen ihr die Schreie in den Ohren: Mörderin, Hure, Sau ... Sollte sie hier vielleicht über vierzig Jahre so dahinvegetieren, immer allein, auf den Wahnsinn warten, auf den körperlichen Verfall. Daß »lebenslang« in ihrem Falle Haft bis zum Tode bedeutete, war ihr klar. Eine Begnadigung kam nicht in Frage, das hatte ihr der Beamte deutlich gesagt. Kein Mitleid also, keine Freunde. Verloren und vergessen... nichts war ihr geblieben außer dem Haß.
Sie gelangte ruhig und gefaßt zu ihrem Entschluß. Wie Häftlinge überall auf der Welt kam auch sie an ein scharfes Stück Metall heran, in ihrem Fall die Klinge eines Rasierers, den sie alle vier Wochen zur Enthaarung ihrer Beine erhielt. Sie holte die Schneide aus ihrem Versteck und zog dann das weiße Laken von der zehn Zentimeter dicken, mit Drell bezogenen und am Rand mit einer Schnur eingefaßten Matratze. Nun machte sie sich daran, diese Einfassung mit der Rasierklinge abzutrennen. Nach drei Stunden und mehreren Verletzungen – die Klinge war so schmal, daß sie sich immer wieder in die Finger schnitt – hatte sie ein zwei Meter langes Seil. An einem Ende knotete sie eine Schlinge, und das andere befestigte sie an der Lampe über der Tür. Dazu mußte sie sich auf ihren Stuhl stellen, aber das war später ohnehin erforderlich. Beim dritten Versuch saß der Knoten richtig. Das Seil durfte nicht zu lang sein.
Als sie mit ihrer Arbeit zufrieden war, machte sie sich ohne Pause ans Werk. Petra Hassler-Bock zog Kleid und Büstenhalter aus, kniete sich mit dem Rücken zur Tür auf den Stuhl, legte sich die Schlinge um den Hals und zog sie zu. Dann zog sie die Beine hoch und band sie mit dem BH an der Tür fest. Sie wollte ihre Entschlossenheit, ihren Mut demonstrieren. Ohne ein Gebet oder eine Klage stieß sie den Stuhl mit den Händen um. Sie fiel vielleicht fünf Zentimeter, bis das Seil sich straffte, und an diesem Punkt begehrte ihr Körper auf. Ihre hochgezogenen Beine stemmten sich gegen die Fessel, doch dadurch wurde der Strangulierungseffekt nur noch stärker.
Der BKA-Beamte sah auf dem Fernsehschirm ihre Hände noch ein paar Sekunden lang zucken. Schade, dachte er. Sie war einmal hübsch gewesen, hatte aber aus freiem Willen gemordet und gefoltert und war nun aus freiem Willen gestorben. Nun, wieder einmal ein Beweis, daß die brutalsten Menschen im Grunde feige sind.
»Der Fernseher hier ist kaputt«, sagte er und schaltete das Gerät aus. »Besorgen Sie Ersatz.«
»Das wird eine gute Stunde dauern«, erwiderte der Aufseher.
»Das reicht.« Der Ermittler nahm eine Kassette aus dem Gerät, auf dem er auch die rührende Familienszene abgespielt hatte, und tat sie in seine Aktentasche. Er lächelte zwar nicht, sah aber zufrieden aus. Es war nicht seine Schuld, daß Bundestag und Bundesrat nicht in der Lage waren, ein simples und effektives Gesetz zur Einführung der Todesstrafe zu verabschieden. Der Grund waren natürlich die Exzesse der Nazis, versluchte Barbaren. Aber nicht alles, was diese Barbaren eingeführt hatten, war falsch gewesen. Die Autobahnen hatte man nach dem Krieg ja auch nicht aufgerissen. Und unter den Opfern der Nazis waren auch gemeine Mörder gewesen, die jedes andere zivilisierte Land auch hingerichtet hätte. Und wenn jemand den Tod verdiente, dann Petra Hassler-Bock. Sie hatte einen Menschen zu Tode gefoltert und war jetzt selbst durch den Strick gestorben. Recht so, dachte der Kriminalbeamte, der den Fall Manstein von Anfang an bearbeitet hatte. Er hatte dem Pathologen bei der Untersuchung der Leiche zugesehen, war auf der Beerdigung gewesen und nachts noch lange von den grausigen Bildern verfolgt worden. Vielleicht konnte er jetzt Ruhe finden. Der Gerechtigkeit war endlich Genüge getan. Mit ein bißchen Glück würden die beiden niedlichen Mädchen zu ordentlichen Bürgerinnen heranwachsen, und niemand sollte erfahren, wer und was ihre leibliche Mutter gewesen war.
Der Beamte verließ die Anstalt und ging zu seinem Wagen. Er wollte nicht im Haus sein, wenn die Leiche entdeckt wurde. Fall erledigt.
»Hey, Mann.«
»Tag, Marvin. Man hört, daß du ein Scharfschütze bist«, sagte Ghosn zu seinem Freund.
»Kleinigkeit, Mann. Ich hab’ mir schon als Kind das Abendessen geschossen.«
»Du hast unseren besten Ausbilder übertroffen«, sagte der Ingenieur.
»Eure Zielscheiben sind größer als Kaninchen und bewegen sich nicht. Mit meinem Kleinkalibergewehr hab’ ich sogar fliehende Hasen erwischt. Wenn man sich von der Jagd ernähren muß, lernt man schnell zielen. Was machst du mit dieser Bombe da?«
»Ein Haufen Arbeit, bei der so gut wie nichts rauskommt.«
»Vielleicht kannst du aus dem elektronischen Kram ein Radio bauen.«
»Oder sonst etwas Nützliches.«