16

Öl ins Feuer

»Guten Abend, Frau Fromm«, sagte der Fremde.

»Und wer sind Sie?«

»Peter Wiegler vom Berliner Tagblatt. Darf ich Sie einmal kurz sprechen?«

»Worum geht es?« fragte sie.

»Bitte...« Er stand im strömenden Regen.

Sie erinnerte sich ihrer guten Erziehung; selbst zu Journalisten mußte man höflich sein.

»Sicher, kommen Sie rein.«

»Danke.« Er trat ins Haus und zog seinen Mantel aus, den sie an einen Haken hängte. Er war ein Hauptmann aus dem Ersten Hauptdirektorat (Ausland) des KGB, ein vielversprechender, gutaussehender, sprachbegabter Dreißigjähriger, der Psychologie und Ingenieurwissenschaft studiert hatte. Von Traudl Fromm hatte er sich schon ein Bild gemacht. Der neue Audi vor der Tür war komfortabel, aber kein Luxuswagen, ihre Kleidung, ebenfalls neu, wirkte präsentabel, aber nicht protzig. Er hielt sie für eine stolze, etwas geldgierige, aber auch sparsame Frau. Sie war neugierig, aber vorsichtig. Offenbar hatte sie etwas zu verbergen, wußte aber, daß sie mit jedem Vorwand, unter dem sie ihn wegschickte, nur noch mehr Verdacht erwecken würde. Er setzte sich in einen Polstersessel und wartete ab.

Sie bot ihm keinen Kaffee an, wollte die Begegnung kurz halten. Er fragte sich, ob diese dritte Person auf seiner Liste mit zehn Namen eine Meldung nach Moskau wert sein könne.

»Arbeitet Ihr Gatte im AKW Greifswald Nord?«

»Inzwischen nicht mehr. Wie Sie wissen, wird die Anlage abgeschaltet.«

»Richtig. Ich hätte nun gern gewußt, was Sie und Ihr Gatte davon halten. Ist Dr. Fromm zu Hause?«

»Nein«, antwortete sie beklommen. »Wiegler« ließ sich nichts anmerken.

»So? Darf ich fragen, wo er ist?«

»Auf Geschäftsreise.«

»Darf ich dann in ein paar Tagen vorbeikommen?«

»Vielleicht. Aber melden Sie sich bitte telefonisch an.« Ihr Tonfall verriet dem KGB-Offizier, daß sie etwas verheimlichte, und er konnte sich auch denken, was ...

Es klingelte wieder. Traudl Fromm ging an die Tür.

»Guten Abend, Frau Fromm«, sagte jemand. »Wir haben Ihnen etwas von Manfred auszurichten.«

Der Hauptmann hörte die Stimme und wurde mißtrauisch, beschloß aber, nicht zu reagieren. Hier in Deutschland drohte keine Gefahr. Vielleicht erfahre ich etwas, dachte er.

»Äh, ich habe gerade Besuch«, erwiderte Traudl.

Der nächste Satz wurde geflüstert. Der Hauptmann hörte Schritte näherkommen und drehte sich nur langsam um. Das war ein fataler Fehler.

Das Gesicht, das er sah, hätte leicht aus einem der zahllosen Kriegsfilme stammen können, mit denen er aufgewachsen war; es fehlte nur die silbern abgesetzte SS-Uniform. Ein strenges Gesicht mit ausdruckslosen hellblauen Augen. Ein professionell wirkender Mann mittleren Alters, der ihn nun so rasch abschätzte, wie er...

Es wurde Zeit, etwas ...

»Tag. Ich wollte gerade gehen.«

»Wer ist das?« Traudl kam gar nicht zu einer Antwort.

»Ich bin Reporter des ...« Zu spät. Wie aus dem Nichts tauchte eine Pistole auf. »Was wollen Sie hier?« herrschte er.

»Wo steht Ihr Auto?« fragte der Bewaffnete.

»Ein Stück weiter. Ich ...«

»Wo vor dem Haus Plätze frei sind? Reporter sind faul. Wer sind Sie?«

»Reporter des...«

»Das glaube ich nicht.«

»Und ich auch nicht«, sagte der zweite Mann, an dessen Gesicht der Hauptmann sich vage erinnern konnte. Nur keine Panik, dachte er. Auch das war ein Fehler.

»Aufgepaßt. Wir unternehmen jetzt eine kurze Fahrt. Wenn Sie keine Umstände machen, sind Sie in drei Stunden wieder hier. Andernfalls geht die Sache böse für Sie aus. Verstanden?«

Geheimdienstoffizierc, vermutete der Hauptmann, womit er richtig lag. Es mußten Deutsche sein, und die hielten sich an die Vorschriften. Diese Einschätzung war der letzte Fehler in seiner vielversprechenden Karriere.

 

Der Kurier kehrte pünktlich aus Zypern zurück und reichte das Paket an einem von fünf überwachten Übergabepunkten einem Mann, der zwei Straßen weit zu Fuß ging, dann seine Yamaha antrat und so schnell in die Landschaft donnerte, wie es in diesem Land der verrückten Motorradfahrer nur möglich ist. Zwei Stunden später, und nachdem er sichergestellt hatte, daß er nicht verfolgt worden war, lieferte er das Paket ab, fuhr noch eine halbe Stunde lang weiter und kehrte im weiten Bogen zu seinem Ausgangspunkt zurück.

Günther Bock nahm das Päckchen in Empfang und stellte verärgert fest, daß es dem Anschein nach eine Filmkassette enthielt und nicht, wie er gefordert hatte, ein ausgehöhltes Buch. Nun, vielleicht war auch eine Botschaft von Erwin auf dem Band. Bock schob die Kassette ins Gerät und sah die ersten Minuten von Chariots of Fire mit französischen Untertiteln. Bald erkannte er, wie fachmännisch Keitel seine Nachricht plaziert hatte. Er mußte bis ins letzte Viertel des Films vorspulen, ehe das Bild umsprang.

»Wer sind Sie?« fragte eine grobe Stimme aus dem Off.

»Ich heiße Peter Wiegler und bin Reporter beim ...« Der Rest war ein Schrei. Das Instrument war primitiv, nur ein Kabel, vielleicht von einer Lampe oder einem Elektrogerät, an dessen Ende die Isolierung abgeschnitten war. Nur wenigen ist klar, wie wirkungsvoll primitive Instrumente sein können, besonders, wenn der Benutzer sein Handwerk versteht. Der Mann, der sich Peter Wiegler nannte, brüllte wie ein Tier. Die Unterlippe hatte er sich im Versuch, Schweigen zu wahren, schon durchgebissen. Folter mit Elektroschock ist relativ unblutig, aber laut.

»Sie verhalten sich dumm. Ihr Mut beeindruckt uns, ist aber hier fehl am Platz. Mut hat nur dann Sinn, wenn Hoffnung auf Rettung besteht. Ihren Wagen haben wir schon durchsucht und Ihre Pässe gefunden. Wir wissen, daß Sie kein Deutscher sind. Was sind Sie also? Pole, Russe oder was sonst?«

Der junge Mann schlug die Augen auf und holte tief Luft. »Ich recherchiere für das Berliner Tagblatt.« Wieder setzten sie den blanken Kupferdraht an, und diesmal wurde er ohnmächtig. Bock sah, wie ein Mann, der ihm den Rücken zukchrte, sich dem Opfer näherte und Puls und Augen prüfte. Der Folterer schien einen Schutzanzug gegen chemische Kampfstoffe zu tragen, aber ohne Handschuhe und Kopfschutz. Der muß da drin ganz schön schwitzen, dachte Bock.

»Eindeutig ein ausgebildeter Nachrichtenoffizier, wahrscheinlich Russe. Unbeschnitten, Edelstahlplomben im Gebiß. Er gehört also zu einem Ostblockdienst. Schade, der Junge ist tapfer.« Bock fand den Tonfall bewundernswert nüchtern.

»Was steht an Medikamenten zur Verfügung?« fragte eine andere Stimme.

»Ein ziemlich guter Tranquilizer. Soll ich den jetzt geben?«

»Ja, aber keine zu hohe Dosis.«

»Gut.« Der Mann verschwand vom Bildschirm, kehrte mit einer Spritze vor die Kamera zurück, packte den Arm des Opfers und injizierte in eine Vene der Ellbeuge. Nach drei Minuten kam der KGB-Mann wieder zu sich. Inzwischen hatte das Medikament seine höheren Gehirnfunktionen beeinträchtigt.

»Tut mir leid, daß wir Ihnen das antun mußten. Sie haben die Prüfung bestanden«, sagte die Stimme, diesmal aber in Russisch.

»Was für eine Prüfung ...« rutschte es dem KGB-Mann auf russisch heraus. »Warum sprechen Sie Russisch?« fragte er dann.

»Weil wir wissen wollten, ob Sie das verstehen. So, das wär’s.«

Die Augen des Opfers weiteten sich, als eine kleine Pistole erschien, an seine Brust gesetzt und abgefeuert wurde. Die Kamera wich zurück und nahm nun mehr vom Raum auf. Der Boden war mit drei Kunststoffplanen abgedeckt, die Blut und Ausscheidungen auffangen sollten. Die Einschußwunde war von schwarzen Schmauchspuren umgeben und durch das Eindringen von Pulvergasen unter die Haut aufgequollen. Nur wenig Blut; typisch für Herzwunden. Nach wenigen Sekunden zuckte die Leiche nicht mehr.

»Mit etwas Geduld hätten wir noch mehr aus ihm herausholen können«, kam Keitels Stimme aus dem Off, »aber, wie ich später noch erklären werde, wir haben, was wir brauchen.«

»Nun zu Traudl...«

Man schleppte sie gefesselt, geknebelt und nackt herein. Ihre Augen waren vor Entsetzen riesengroß, und sie versuchte trotz des Knebels etwas zu sagen, aber niemand zeigte Interesse. Das Band war anderthalb Tage alt, wie Günther anhand der Abendnachrichten feststellte, die in einem Fernseher, der in einer Ecke des Raumes stand, gezeigt wurden. Das Ganze war eine professionelle Tour de force, um seinen Anforderungen gerecht zu werden.

Bock konnte sich nicht vorstellen, was der Mann nun dachte: Wie fange ich das am besten an? Nun bereute er einen Augenblick die Anweisung an Keitel. Aber der Beweis mußte eindeutig sein. Manchmal zogen Geheimdienste Zauberer und andere Illusionisten zu Rate, aber es gab Dinge, die sich nicht vortäuschen ließen, und er mußte sicher sein, daß er Keitel mit gräßlichen und gefährlichen Aufgaben betrauen konnte. Anschaulichkeit war eine objektive Notwendigkeit.

Ein anderer Mann warf ein Seil über einen Deckenbalken und zog sie an den Händen hoch. Dann drückte er ihr die Pistole in die Achselhöhle und schoß einmal. Wenigstens ist er kein Sadist, dachte Bock. Solche Typen sind unzuverlässig. Das Ganze war auch so schon traurig genug. Die Kugel hatte ihr Herz durchschlagen, aber sie kämpfte noch eine halbe Minute lang, rang nach Atem, versuchte zu sprechen ... Als sie schlaff hing, tastete jemand nach ihrer Halsschlagader und legte sie dann langsam auf den Boden. Man war so behutsam wie unter den Umständen möglich mit ihr umgegangen. Nun sprach der Schütze, ohne in die Kamera zu schauen.

»Ich hoffe, Sie sind zufrieden. Mir hat das keinen Spaß gemacht.«

»Das war auch nicht der Zweck der Übung«, sagte Bock zum Fernseher.

Der Russe wurde vom Stuhl gehoben und neben Traudl Fromm gelegt. Nun sprach Keitel; eine nützliche Ablenkung, denn das Bild wurde zunehmend grauenhafter. Bock war nicht gerade zart besaitet, aber das ganze belastete ihn psychisch. Notwendig oder nicht, es kam ihm überflüssig vor.

»Der Russewar, wie wir gesehen haben, eindeutig Geheimdienstoffizier. Sein Auto war in Berlin gemietet und wird morgen nach Magdeburg gefahren und zurückgegeben. Es stand in einiger Entfernung vom Haus geparkt, die selbstverständliche Maßnahme eines Profis, für den Fall einer Festnahme aber ein verräterischer Hinweis. Im Wagen fanden wir eine Liste von Personen, die allesamt in der Atomindustrie der DDR arbeiten. Es hat den Anschein, als interessierten sich unsere russischen Genossen plötzlich für Honeckers Bombenprojekt. Ich bedaure die Komplikationen, aber wir brauchten mehrere Tage, um die Entsorgung der Leiche zu arrangieren, und wir hatten auch keine Ahnung von Frau Fromms ›Gast‹, als wir bei ihr erschienen. Aber da war es natürlich zu spät. Übrigens regnete es, was die Entführung erleichterte.«

Die beiden Männer trugen Schutzanzüge und hatten nun Kapuzen und Masken aufgesetzt, wohl des Geruchs wegen, und um ihre Identität nicht preiszugeben. Wie in einem Schlachthaus war eimerweise Sägemehl ausgestreut worden, um das in Strömen fließende Blut aufzusaugen. Bock wußte aus eigener Erfahrung, was für eine Schweinerei bei einem Mord entstehen konnte. Die beiden arbeiteten flott, während Keitels Kommentar weiterlief. So etwas konnte niemand vortäuschen. Keitels Männer hatten ohne jeden Zweifel zwei Menschen ermordet, das bewiesen die laufenden Kameras; zweifellos machte dies auch die Entsorgung leichter. Die Leichen wurden säuberlich nebeneinandergelegt und in Plastik verpackt. Ein Mann fegte das blutgetränkte Sägemehl zusammen und schaufelte es in einen Müllsack.

»Die Leichen werden an zwei weit voneinander entfernt liegenden Stellen verbrannt. Bei Eingang des Bandes ist das längst erledigt. Ende der Meldung. Wir erwarten weitere Anweisungen.« Auf dem Bildschirm erschien wieder die Dramatisierung der Olympiade von 1920 – oder war es 1924? fragte sich Bock. Unwichtig.

 

»Was gibt’s?«

»Einer meiner Offiziere meldet sich nicht«, erwiderte ein Oberst des Direktorats T, der technischen Abteilung des Ersten Hauptdirektorats, ein Dr. ing., der sich auf Raketensysteme spezialisiert hatte und vor seiner Beförderung auf den jetzigen Posten in Amerika und Frankreich mit dem Ausspähen militärischer Geheimnisse befaßt gewesen war.

»Details?«

»Hauptmann Jewgenij Stepanowitsch Feodorow, 30, verheiratet, ein Kind, guter Offizier mit Anwartschaft auf den Majorsrang. Er war einer von drei Agenten, die ich auf Ihre Anweisung hin die atomaren Einrichtungen in Deutschland überprüfen ließ. Feodorow ist einer meiner besten Männer.«

»Seit wann wird er vermißt?« fragte Golowko.

»Seit sechs Tagen. Er flog letzte Woche mit guten deutschen Papieren und einer Liste verdächtiger Personen über Paris nach Berlin. Er hatte Anweisung, sich unauffällig zu verhalten und nur im Fall einer wichtigen Entdeckung Kontakt mit der Station Berlin aufzunehme – nun ja, mit dem, was davon dort noch übrig ist. Natürlich verabredeten wir, daß er sich in regelmäßigen Abständen zu melden hatte. Als er das versäumte, erhielt ich vierundzwanzig Stunden später die Alarmmeldung.«

»Ist das vielleicht nur Schlamperei?«

»Bei diesem Jungen? Ausgeschlossen«, sagte der Oberst mit Überzeugung. »Sagt Ihnen sein Name etwas?«

»Feodorow ... war sein Vater nicht ...?«

»Ja, Stefan Juriewitsch. Jewgenij ist sein jüngster Sohn.«

»Stefan hat mir das Handwerk beigebracht!« rief Golowko. »Besteht die Möglichkeit, daß er ...«

»Übergelaufen ist?« Der Oberst schüttelte zornig den Kopf.

»Nie im Leben. Seine Frau ist Mitglied des Opernchors. Die beiden lernten sich als Studenten kennen und heirateten trotz der Einwände beider Familien früh – eine Liebesche, so wie wir sie uns alle wünschen. Sie ist atemberaubend schön und hat die Stimme eines Engels. Ein schopnik, wer sie verließe. Außerdem ist da noch das Kind. Allen Berichten nach ist Feodorow ein guter Vater.« Golowko sah nun, worauf der Oberst hinauswollte.

»Meinen Sie, er ist verhaftet worden?«

»Ich habe keinen Pieps gehört. Vielleicht könnten Sie einmal nachforschen lassen. Ich befürchte das Schlimmste.« Der Oberst runzelte die Stirn und starrte auf den Teppich. Er wollte Natalia Feodorowa die Hiobsbotschaft nicht überbringen.

»Schwer zu glauben«, sagte Golowko.

»Sergej Nikolajewitsch, wenn unser Verdacht korrekt ist, muß dieses Programm, das wir ausspähen sollten, für die Deutschen von größter Wichtigkeit sein. Möglicherweise haben wir etwas bestätigt und den höchsten Preis dafür gezahlt.«

Generalleutnant Sergej Nikolajewitsch Golowko schwieg einige Sekunden lang. Das ist doch nicht mehr üblich, sagte er sich. Unter Nachrichtendiensten geht es inzwischen zivilisiert zu. Das Töten von Agenten gehört der finsteren Vergangenheit an, und wir haben das seit Jahren, Jahrzehnten nicht mehr getan ...

»Und es gibt keine glaubwürdigen Alternativen?«

Der Oberst schüttelte den Kopf. »Nein. Am wahrscheinlichsten ist, daß unser Mann zufällig auf etwas sehr Reales und Geheimes stieß und dafür mit dem Leben bezahlen mußte. Ein geheimes Atomwaffenprogramm wäre heikel genug, oder?«

»Könnte man sagen.« Golowko stellte fest, daß der Oberst seinen Leuten die Loyalität zeigte, wie sie beim KGB erwartet wurde. Außerdem erwog er die Alternativen und präsentierte seine beste Einschätzung der Lage.

»Haben Sie Ihre Techniker schon nach Surowa geschickt?«

»Nein, das Team fährt übermorgen los. Mein bester Mann kam gerade erst aus dem Krankenhaus – er fiel die Treppe hinunter und brach sich das Bein.«

»Lassen Sie ihn hintragen, wenn’s sein muß. Ich muß wissen, wieviel Plutonium im schlimmsten Fall in den Kernkraftwerken der DDR produziert worden ist. Schicken Sie einen Mann nach Kyschtym und lassen Sie ihn ein Gegengutachten einholen. Holen Sie die restlichen Agenten aus Deutschland zurück. Wir starten die Operation neu, diesmal aber mit mehr Vorsicht. Zweierteams, und der zweite Mann ist bewaffnet... hm, gefährlich«, sagte Golowko nach kurzem Nachdenken.

»General, die Ausbildung meiner Außendienstmitarbeiter kostet viel Zeit und Geld. Es wird zwei Jahre dauern, bis ich Ersatz für Feodorow habe, zwei volle Jahre. Man kann nicht einfach einen Offizier aus einer anderen Abteilung holen und in diese Branche stecken. Unsere Leute müssen wissen, worauf sie zu achten haben. Wertvolle Spezialisten wie diese sollte man schützen.«

»Da haben Sie recht. Ich kläre das mit dem Vorsitzenden ab und schicke erfahrene Offiziere ... vielleicht Leute von der Akademie... mit den Papieren deutscher Polizisten ...?«

»Das gefällt mir, Sergej Nikolajewitsch.«

»Gute Arbeit, Pavel Iwanowitsch. Und zum Fall Feodorow?«

»Vielleicht taucht er ja doch noch auf. Dreißig Tage nach der Vermißtmeldung werde ich zu seiner Frau gehen müssen. Nun gut, ich hole meine Leute zurück und beginne mit der Planung der nächsten Phase der Operation. Wann bekomme ich die Liste der Begleitoffiziere?«

»Morgen früh.«

»Vielen Dank für Ihre Zeit, General.«

Golowko verabschiedete den Mann mit Handschlag und blieb stehen, bis sich die Tür geschlossen hatte. Zehn Minuten bis zum nächsten Termin.

»Verdammt!« sagte er zu seiner Tischplatte.

 

»Schon wieder eine Verzögerung?«

Fromm konnte seine Entrüstung nicht ganz verbergen. »Unsinn, wir sparen Zeit! Das Material, das wir bearbeiten wollen, hat die Eigenschaften von Edelstahl. Außerdem müssen wir Gußformen herstellen. Hier, sehen Sie mal.«

Fromm entfaltete seine Zeichnungen.

»Hier haben wir einen gebogenen Zylinder aus Plutonium, umhüllt von Beryllium. Letzteres ist für unser Unternehmen eine Gottesgabe. Es ist sehr leicht und fest, läßt Röntgenstrahlen durch und reflektiert Neutronen. Leider ist es sehr schwer zu bearbeiten. Wir brauchen Schleifwerkzeuge aus Bornitrid, in der Härte etwa Industriediamanten vergleichbar. Werkzeuge aus Stahl oder Flußstahl würden nicht lange halten und zu viel Staub entwickeln. Wir müssen auch an unsere Gesundheit denken.«

»Beryllium ist ungiftig«, wandte Ghosn ein. »Ich habe nachgeschlagen.«

»Stimmt, aber der Staub verwandelt sich in Berylliumoxid, welches, wenn eingeatmet, die Verbindung Berylliumhydroxid eingeht, und das führt zur Berylliose, die tödlich verläuft.« Fromm machte eine Pause und starrte Ghosn wie ein strenger Lehrer an, ehe er fortfuhr.

»So, und das Beryllium umgibt ein Zylinder aus Wolfram-Rhenium, das wir wegen seiner Dichte brauchen. Wir kaufen zwölf Kilo in Pulverform und sintern dann Zylindersegmente. Wissen Sie, was Sintern ist? Das Verdichten hochschmelzender pulverförmiger Stoffe unter Druck- und Temperatureinwirkung unterhalb des Schmelzpunktes. Schmelzen und Gießen wäre zu schwierig und für unsere Zwecke auch nicht notwendig. Und das Ganze umhüllen wir dann mit der Implosionsladung. Das ist nur die Primärladung, Ghosn, nur ein knappes Viertel der insgesamt verfügbaren Energie.«

»Und der erforderliche Präzisionsgrad...«

»Genau. Stellen Sie sich vor, wir wollten den größten Ring oder die größte Halskette der Welt herstellen. Das Endprodukt muß so glatt poliert sein wie das schönste Schmuckstück – oder ein hochpräzises optisches Instrument.«

»Wo bekommen wir das Wolfram-Rhenium her?«

»Diese Legierung ist bei jedem großen Elektrokonzern erhältlich. Man stellt aus ihr unter anderem Glühfäden für Röhren her. Sie ist viel leichter zu verarbeiten als reines Wolfram.«

»Und das Beryllium – ah, das findet in Gyroskopen und anderen Instrumenten Anwendung. Wir brauchen wohl dreißig Kilo.«

»Exakt fünfundzwanzig, aber besorgen Sie lieber dreißig. Sie ahnen ja nicht, was wir für ein Glück haben.«

»Wieso?«

»Das israelische Plutonium ist mit Gallium stabilisiert. Plutonium ist unterhalb des Schmelzpunktes vierphasig und hat die merkwürdige Angewohnheit, bei bestimmten Temperaturen seine Dichte um über zwanzig Prozent zu ändern.«

»Mit anderen Worten eine subkritische Masse kann ...«

»Genau«, sagte Fromm. »Eine anscheinend subkritische Masse kann unter bestimmten Bedingungen kritisch werden. Sie explodierte zwar nicht, aber die Gamma- und Neutronenstrahlung wäre innerhalb eines Radius von zehn bis dreißig Metern tödlich. Diese Instabilität des Plutoniums im festen Aggregatzustand wurde von Wissenschaftlern des Manhattan-Projekts entdeckt. Und diese Leute ... nun, die hatten Pech. Sie waren brillante Forscher, die sofort die Eigenschaften des Plutoniums zu untersuchen begannen, als ein Gramm hergestellt war. Hätten sie abgewartet oder nur angenommen, daß hinter der Sache mehr steckte, als sie wußten – tja, dann ...«

»Davon hatte ich keine Ahnung«, sagte Ghosn.

»Nicht alles steht in den Büchern, junger Freund, oder sollte ich sagen, daß nicht alle Bücher alle Informationen enthalten? Wie auch immer, das Hinzufügen von Gallium macht das Plutonium zu einer stabilen Masse. Wir können unbesorgt damit arbeiten, solange wir die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen treffen.«

»Wir stellen also nach Ihren Spezifikationen Modelle aus Edelstahl her und daraus unsere Gußformen – wir gießen natürlich in verlorene Formen.«

»Richtig. Sehr gut, junger Mann.«

»Und nach dem Guß wird das Material bearbeitet ... ich verstehe. Nun, wir haben gute Maschinisten.«

Sie hatten zehn Männer »eingezogen« – so drückten sie sich aus, alles Palästinenser aus optischen Werkstätten – und an den Werkzeugmaschinen ausgebildet.

Die Maschinen hielten, was Fromm vorausgesagt hatte. Vor zwei Jahren hatten sie dem neuesten Stand der Technik und dem Gerät entsprochen, das die Amerikaner in ihrer Waffenfabrik Y-12 in Oak Ridge, Tennessee, benutzten. Laser-Interferometer maßen die Toleranzen, und die drei rotierenden Fräsköpfe wurden von Computern in drei Dimensionen und über fünf Bewegungsachsen gesteuert. Befehle wurden über Sensorbildschirme eingegeben. Die Maschine selbst war computergestützt entworfen worden, und die Konstruktionszeichnungen hatte ein Rechner angefertigt.

Ghosn und Fromm holten die Maschinisten herein und ließen sie an ihre erste Aufgabe gehen: die Herstellung des Edelstahlmodells für die Plutonium-Primärladung, die das thermonukleare Feuer entzünden sollte.

 

»Ich habe viel von Ihnen gehört«, sagte Bock.

»Hoffentlich nur Gutes«, erwiderte Marvin Russell mit einem reservierten Lächeln.

Das war das erste Mal, daß Bock einem Indianer begegnete, und irgendwie war er enttäuscht. Sah man mal von den Backenknochen ab, hätte man ihn für einen Weißen halten können, und selbst diese mochten auf einen Slawen mit einem Schuß Tatarenblut hingewiesen haben. Seine dunkle Hautfarbe verdankte er vorwiegend der Sonne. Aber der Mann war kräftig gebaut und offensichtlich bärenstark.

»Wie ich höre, haben Sie in Griechenland einem Polizisten den Hals gebrochen.«

»Ich verstehe die ganze Aufregung darüber nicht«, sagte Russell aufrichtig und gelangweilt. »War nur ein dürrer kleiner Scheißer. Kleinigkeit.«

Bock lächelte und nickte. »Ich verstehe, aber Ihre Methode war trotzdem beeindruckend. Ich habe viel Gutes über Sie gehört, Mr. Russell, und...«

»Sag doch Marvin zu mir. Das tun hier alle.«

»Wie du willst, Marvin. Ich heiße Günther. Besonders gut scheinst du dich mit Waffen auszukennen.«

»Ist doch nichts Besonderes«, meinte Russell erstaunt. »Schießen kann jeder lernen.«

»Wie gefällt es dir hier?«

»Prima. Die Leute hier – die haben noch Herz, die geben nicht auf. Die packen zu. Das finde ich gut. Und was sie für mich getan haben, Günther – die sind mir wie eine Familie.«

»Das sind wir auch, Marvin. Wir teilen alles, das Gute und das Schlechte. Und wir haben gemeinsame Feinde.«

»Stimmt, das hab’ ich gemerkt.«

»Marvin, es kann sein, daß wir deine Hilfe brauchen. Es geht um etwas sehr Wichtiges.«

»Okay«, erwiderte Russell nur.

»Was soll das heißen?«

»Das heißt ja, Günther.«

»Du hast noch nicht einmal gefragt, worum es geht«, mahnte der Deutsche.

»Okay.« Marvin lächelte. »Dann schieß mal los.«

»Du mußt in ein paar Monaten zurück nach Amerika. Ist das sehr gefährlich für dich?«

»Kommt drauf an. Wie du weißt, war ich dort im Knast. Die Bullen haben meine Abdrücke, aber nur ein altes Foto von mir. Seitdem hab’ ich mich verändert. Wahrscheinlich suchen sie mich oben in den Dakotas. Wenn ihr mich dort hinschicken wollt, könnte es heiß werden.«

»Du sollst ganz woandershin, Marvin.«

»Dann ist die Sache kein besonderes Problem. Kommt drauf an, was ihr von mir wollt.«

»Wie stehst du zum Töten? Es geht um Amerikaner.« Bock suchte in der Miene des Indianers nach einer Reaktion.

»Amerikaner!« schnaubte Marvin. »He, Mann, ich bin auch einer, klar? Du hast die falsche Vorstellung von meinem Land. Die Weißen haben mein Land gestohlen. Meinem Volk ging es genauso wie den Palästinensern hier. Was glaubst du denn, weshalb ich hier bin? Ich soll Leute für euch umlegen. Okay, mach’ ich, wenn ihr mir einen Grund sagt. Zum Spaß tu’ ich das nämlich nicht. Ich bin kein Spinner, aber wenn ihr mir sagt, warum, mach’ ich es.«

»Vielleicht mehr als eine Person ...«

»Ist mir längst klar, Günther. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen und weiß, daß es um mehrere geht. Seht nur zu, daß ein paar Bullen oder Schweine vom FBI dabei sind, die bügel’ ich euch alle platt. Nur eins müßt ihr wissen.«

»Was?«

»Die Bullen sind nicht dumm. Sie haben meinen Bruder erwischt. Die Kerle meinen es ernst.«

»Wir auch«, versicherte Bock.

»Das weiß ich, Mann. Was kannst du mir über den Job sagen?«

»Was meinst du?« fragte Bock so beiläufig wie möglich.

»Vergiß nicht, ich bin dort aufgewachsen und kenne das Land besser als ihr. Gut, ihr müßt an die Sicherheit denken und könnt mir jetzt noch nichts sagen. Soll mir recht sein. Aber später braucht ihr mich vielleicht. Die Jungs hier sind okay und clever, aber von Amerika haben sie keinen blassen Schimmer. Wer jagen will, muß das Revier kennen. Und das tu’ ich.«

»Deswegen haben wir dich ja auch um Hilfe gebeten«, sagte Bock, als hätte er diesen Aspekt bereits durchdacht. In Wirklichkeit war er ihm neu, und er fragte sich nun, als wieviel nützlicher sich dieser Mann noch erweisen mochte.

 

Andrej Iljitsch Narmonow verstand sich als Kapitän des größten Staatsschiffes der Welt. Das war die positive Seite. Negativ war, daß das Schiff ein Leck, Ruderschaden und unzuverlässige Maschinen hatte, von der aufsässigen Mannschaft ganz zu schweigen. Sein Dienstzimmer im Kreml war so groß, daß er darin versonnen spazierengehen konnte, und das tat er in letzter Zeit viel zu häufig. Er hielt das für ein Zeichen von Unsicherheit, und die konnte sich der Präsident der UdSSR nicht leisten – besonders dann nicht, wenn er einen wichtigen Besucher hatte.

Union der Souveränen Sowjetrepubliken, dachte er. Noch war die Namensänderung nicht offiziell, aber die Bürger begannen schon so zu denken. Und das war das Problem.

Das Staatsschiff drohte auseinanderzubrechen, und einen historischen Präzendenzfall gab es nicht. Manche zogen zum Vergleich die Auflösung des britischen Empires heran, aber das traf nicht ganz. Es gab auch keine andere Parallele. Die alte Sowjetunion war ein in seiner Art einzigartiger Universalstaat gewesen, und was sich nun dort entwickelte, war ebenfalls ohne Beispiel. Was ihn früher begeistert hatte, ängstigte ihn nun. Er war derjenige, der die schweren Entscheidungen treffen mußte, ohne ein historisches Modell zu haben, an dem er sich orientieren konnte. Er stand ganz allein und der größten Aufgabe gegenüber, die je ein Mensch zu lösen gehabt hatte. Im Westen wurde er als gerissener Taktiker gelobt, während er selbst sich von einer Krise zur anderen taumeln sah. War es nicht Gladstone, dachte er, der sagte, ein Premier sei wie ein Flößer, der in den Stromschnellen versucht, mit einer Stange die Felsen abzuwehren? Wie treffend. Narmonow und sein Land wurden von dem mächtigen Strom der Geschichte dahingetragen, flußabwärts einem gewaltigen Wasserfall entgegen, der alles zerstören konnte... aber er war viel zu sehr mit der Stange und den Felsen beschäftigt, um vorauszuschauen. Damit war der Taktiker in der Politik beschrieben. Er wandte seine ganze kreative Energie fürs tägliche Überleben auf und verlor die nächste Woche aus dem Auge... vielleicht sogar schon die nächsten drei Tage.

»Andrej Iljitsch, Sie haben abgenommen«, bemerkte Oleg Kirilowitsch Kadischow aus seinem Ledersessel.

»Spazierengehen ist gut fürs Herz«, erwiderte der Präsident ironisch.

»Wollen Sie etwa in unsere Olympiamannschaft?«

Narmonow hielt kurz inne. »Es wäre nett, zur Abwechslung mal gegen Ausländer anzutreten. Die halten mich nämlich für ein Genie. Leider sind unsere Bürger besser informiert.«

»Was kann ich für meinen Präsidenten tun?«

»Ich brauche Ihre Hilfe, oder, besser gesagt, die Hilfe der Rechten.«

Nun mußte Kadischow lächeln. Was das anging, herrschte bei der westlichen ebenso wie bei der sowjetischen Presse Verwirrung. LINKS standen in der Sowjetunion die kommunistischen Hardliner. Seit über achtzig Jahren waren die Reformen in diesem Land immer von der Rechten gekommen. Männer, die Stalin hingerichtet hatte, weil sie ein Minimum an persönlicher Freiheit verlangt hatten, waren als Rechtsabweichler verurteilt worden. Progressive im Westen aber waren grundsätzlich links angesiedelt, nannten ihre rekationären Gegner »Konservative« und identifizierten sie allgemein als der RECHTEN zugehörig. Eine Anpassung der ideologischen Polarität an neue politische Realitäten schien die Vorstellungskraft der westlichen Journalisten zu übersteigen, und ihre erst kürzlich von der Zensur befreiten sowjetischen Kollegen, die die westliche Begriffsverwirrung nachäfften, brachten die ohnehin schon chaotische politische Szene noch mehr durcheinander. Das traf natürlich auch auf »progressive« Politiker des Westens zu, die zahlreiche sowjetischen Experimente in ihren eigenen Ländern umzusetzen suchten – all jene Experimente, die bis zum äußersten getrieben worden waren und sich als böse Fehlschläge erwiesen hatten. Den vielleicht schwärzesten Humor der Welt zeigten Linke im Westen, die schon meckerten, es habe nicht der Sozialismus versagt, sondern die rückständigen Russen mit ihrer Unfähigkeit, ihn in eine menschliche Regierungsform umzusetzen – einer fortschrittlichen westlichen Gesellschaft gelänge das natürlich –, hatte Karl Marx das nicht selbst behauptet? Diese Leute, dachte Kadischow und schüttelte nachdenklich den Kopf, waren nicht weniger idealistisch als die Oktoberrevolutionäre, und genauso dusselig. Die Russen hatten lediglich revolutionäre Ideen bis an ihre logischen Grenzen getrieben und nur Leere und Katastrophen vorgefunden. Nun, da sie kehrtmachten – ein Schritt, der ein solches Maß an politischem und moralischem Mut verlangte, wie ihn die Welt selten gesehen hatte –, verstand man im Westen immer noch nicht, was sich eigentlich tat. Chruschtschow hatte recht, dachte der Parlamentarier. Politiker sind überall gleich.

Vorwiegend Idioten.

»Andrej Iljitsch, wir mögen uns nicht immer über die Methoden einig sein, aber was die Ziele betrifft, gingen wir immer konform. Ich weiß, daß Sie Schwierigkeiten mit unseren Freunden vom anderen Flügel haben.«

»Und mit Ihren Leuten«, versetzte Narmonow schärfer als nötig.

»Wohl wahr«, räumte Kadischow lässig ein. »Andrej Iljitsch, müssen wir Ihnen denn in allem folgen?«

Narmonow drehte sich um; seine Augen weiteten sich und funkelten zornig. »Bitte lassen wir das für heute.«

»Was können wir für Sie tun?»fragte Kadischow und dachte: Gehen die Gefühle mit dir durch, Genosse Präsident? Ein schlechtes Zeichen ...

»Ich brauche Ihre Unterstützung in der Nationalitätenfrage. Wir können nicht zulassen, daß die ganze Sowjetunion auseinanderbricht.«

Kadischow schüttelte heftig den Kopf. »Das ist unvermeidlich. Wenn wir die Balten und Aseris entlassen, ersparen wir uns eine Menge Probleme.«

»Wir brauchen Aserbaidschans Erdöl. Geben wir das auf, wird unsere wirtschaftliche Lage noch schlimmer. Lassen wir die Balten ziehen, verlangen die anderen Republiken ebenfalls die Unabhängigkeit.«

»Gut, wir verlören die Hälfte unserer Bevölkerung, aber kaum zwanzig Prozent der Fläche. Und einen Großteil unserer Probleme«, sagte Kadischow.

»Und was wird aus den Menschen in diesen Republiken? Wir geben sie dem Chaos und dem Bürgerkrieg preis. Wie viele Toten haben wir dann auf dem Gewissen?« herrschte der Präsident ihn an.

»Das geht mit dem Prozeß der Dekolonisation einher und läßt sich nicht vermeiden, und wenn wir es versuchen würden, hätte das nur zur Folge, daß der Bürgerkrieg in unseren Grenzen bliebe. Das wiederum zwänge uns, den Sicherheitsorganen zu große Vollmachten zu geben, und das wäre zu gefährlich. Dem Militär traue ich ebensowenig wie Sie.«

»Das Militär wird nicht putschen. In der Roten Armee gibt es keine Bonapartisten.«

»Dann haben Sie mehr Vertrauen in deren Loyalität als ich. Meiner Meinung nach sieht man dort eine einmalige historische Chance. Die Partei hat das Militär seit der Tuchatschewski-Affäre unter Kontrolle gehalten. Soldaten haben ein gutes Gedächtnis und mögen glauben, daß nun die Gelegenheit ...«

»Diese Leute sind doch alle tot! Und ihre Kinder auch!« konterte Narmonow ärgerlich. Immerhin lag die Säuberung über fünfzig Jahre zurück, und die, die noch eine direkte Erinnerung daran hatten, saßen nun im Rollstuhl oder lebten in Pension.

»Ihre Enkel aber nicht, und wir müssen auch an das kollektive Gedächtnis der Streitkräfte als Institution denken.« Kadischow lehnte sich zurück und erwog einen neuen Gedanken, der ihm gerade gekommen war. Könnte so etwas möglich sein? fragte er sich.

»Gewiß, das Militär hat sein Anliegen, und die unterscheiden sich etwas von meinen. Wir mögen unsere Differenzen haben, wie das Problem zu lösen ist, sind uns aber einig, daß der Prozeß kontrolliert ablaufen muß. Wenn ich auch am Urteilsvermögen der Militärs meine Zweifel habe, so bin ich mir seiner Loyalität ganz sicher.«

»Kann sein, daß Sie recht haben. Ich bin da nicht so optimistisch.«

»Mit Ihrer Hilfe können wir den Verfechtern der raschen Auflösung eine geeinte Front bieten. Das wird ihnen den Mut nehmen und uns ein paar Jahre zur Normalisierung geben. Dann können wir über eine geordnete Entlassung der Republiken in ein echtes Commonwealth – oder eine Gemeinschaft unabhängiger Staaten, wie Sie wollen – nachdenken, ein wirtschaftlich eng verflochtenes, politisch aber loses Gebilde.«

Der Mann ist verzweifelt, dachte Kadischow. Er bricht unter der Belastung zusammen. Der Mann, der durch die politische Arena tobt wie ein Hockeystürmer, wirkt erschöpft... kann er ohne meine Hilfe überleben?

Vermutlich ja, dachte Kadischow. Wahrscheinlich. Schade, sagte sich der jüngere Mann. Kadischow führte de facto die »Linke«, jene Kräfte also, die Union und Zentralregierung auflösen und den Rest der Nation mit der Russischen Föderation als Kern ins 21. Jahrhundert schleifen wollten. Wenn Narmonow stürzte, wenn er nicht mehr weiter wußte, wer...?

Ich natürlich, dachte Kadischow triumphierend.

Hätte ich die Unterstützung der Amerikaner?

Was blieb ihnen anderes übrig, als dem Agenten SPINNAKER von ihrer eigenen CIA Rückhalt zu geben?

Kadischow arbeitete für die Amerikaner, seit er vor sechs Jahren von Mary Pat Foley rekrutiert worden war, und sah darin keinen Verrat. Er arbeitete für die Entwicklung seines Landes – mit Erfolg, wie er glaubte. Den Amerikanern spielte er Interna aus der sowjetischen Regierung zu, teils sehr wertvolles Material, teils Informationen, die auch der Presse zu entnehmen waren. Er wußte, daß er bei den Amerikanern die wichtigste politische Quelle war, insbesondere seitdem er 40 Prozent der Stimmen im neuen Kongreß der Volksdeputierten kontrollierte. Nun ja, 39 Prozent, verbesserte er sich. Man muß ehrlich bleiben. Noch acht Prozent mehr, dann konnte er seinen Schritt wagen. Das politische Spektrum im 2500köpfigen Parlament hatte viele Schattierungen. Es gab echte Demokraten, russische Nationalisten der demokratischen und sozialistischen Richtung, Links- und Rechtsradikale und vorsichtige Vertreter der Mitte, die sich entweder um die Zukunft des Landes oder nur um die Erhaltung ihres politischen Status sorgten. An wie viele konnte er appellieren? Wie viele konnte er für sich gewinnen?

Noch nicht genug ...

Aber er hatte noch eine Karte in der Hand.

Da. War er kühn genug, sie auszuspielen?

»Andrej Iljitsch«, sagte er beschwichtigend, »Sie verlangen, daß ich von einem wichtigen Prinzip abweiche, um Ihnen auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ziel weiterzuhelfen – aber es ist ein Weg, dem ich nicht traue. Das ist eine sehr knifflige Angelegenheit. Ich bin nicht einmal sicher, daß ich die notwendige Unterstützung finde. Es ist möglich, daß sich meine Freunde von mir abwenden.« Das regte Narmonow nur noch mehr auf.

»Unsinn! Ich weiß, wie sehr man Ihnen und Ihrem Urteil traut.«

Meine Parteifreunde sind nicht die einzigen, die mir vertrauen, dachte Kadischow.

 

Wie die meisten Ermittlungen fand auch diese vorwiegend auf Papier statt. Ernest Wellington war ein ehrgeiziger junger Staatsanwalt. Als Volljurist und Mitglied der Anwaltskammer hätte er sich beim FBI bewerben und dort das Handwerk des Ermittlers richtig lernen können, aber erstens interessierte ihn die Rechtsprechung mehr als der Vollzug, und zweitens hatte er Spaß an der Politik – über die das FBI wenn immer möglich stolz erhaben blieb. Wellington hatte da keine Hemmungen. Politik hielt, wie er fand, die Regierungsmaschine in Gang und half auch beim raschen Aufstieg innerhalb und außerhalb der Regierung. Die Kontakte, die er nun knüpfte, würden seinen Wert bei Anwaltssozietäten »mit Beziehungen« um das Fünffache steigern und seinen Namen im Justizministerium zu einem Begriff machen. Bald stand eine Beförderung zum »Special Assistant« in Aussicht, und in fünf Jahren konnte er Abteilungsleiter werden, vielleicht sogar Bundesanwalt in einer Großstadt oder Chef eines Ermittlungsstabes beim Justizministerium. Damit stand ihm die Tür zur Politik offen, und Ernest Wellington war fest entschlossen, bei dem großen Spiel in Washington mitzumischen. Beste Aussichten also für einen ambitionierten 27jährigen Einserkandidaten von Harvards juristischer Fakultät, der lukrative Angebote angesehener Kanzleien abgelehnt hatte, um die Anfangsjahre seiner Karriere dem öffentlichen Dienst zu widmen.

Wellington hatte einen Stoß Akten vor sich auf dem Schreibtisch. Sein Büro befand sich praktisch im Dachgeschoß des Justizministeriums in der Mall, und das einzige Fenster bot Ausblick auf den Parkplatz im Innenhof des Gebäudes. Das Zimmer war klein, und die Klimaanlage funktionierte nicht richtig, aber es war sein eigen. Es ist weithin kaum bekannt, daß Anwälte sich um Auftritte vor Gericht ebenso eifrig drücken wie Prahlhänse um Anlässe, bei denen sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen müssen. Hätte er die Angebote der großen New Yorker Anwaltsfirmen angenommen – man hatte ihm bis zu 100000 Dollar im Jahr offeriert -, wäre seine echte Funktion die eines Korrektors gewesen, eigentlich eines glorifizierten Sekretärs, der Verträge auf Tippfehler und Gesetzeslücken untersuchte. Wer beim Justizministerium anfing, hatte ähnliche Aufgaben. Bei einer richtigen Staatsanwaltschaft hätte er im Gerichtssaal bestehen oder untergehen müssen, hier in der Zentrale aber studierte er Akten und suchte nach Ungereimtheiten, Nuancen und Formfehlern; es war, als redigierte er das Manuskript eines besonders guten Krimiautors. Wellington begann sich Notizen zu machen.

John Patrick Ryan. Stellvertretender Direktor der Central Intelligence Agency, nominiert vom Präsidenten und vor weniger als zwei Jahren vom Senat bestätigt. Fungierte zuvor nach dem Tod von Vizeadmiral James Greer als provisorischer Stellvertretender Direktor der analytischen Abteilung Intelligence. Davor war er Greers Assistent gewesen und hatte eine Zeitlang das Direktorat Intelligence in England vertreten. Ryan hatte an der Universität Georgetown studiert, an der Marineakademie Geschichte gelehrt und war bei der Filiale Baltimore von Merrill Lynch Börsenmakler gewesen. Ein Hubschrauberabsturz hatte seiner Dienstzeit beim Marinekorps ein rasches Ende gesetzt. Eindeutig ein Umsteiger, dachte Wellington und schrieb sich alle wichtigen Daten auf.

Privatvermögen. Die erforderliche Offenlegung seiner Vermögensverhältnisse lag ziemlich weit oben. Ryan war allerhand wert. Wo kam das ganze Geld her? Für diese Analyse brauchte Wellington mehrere Stunden. An der Börse hatte J. P. Ryan ein großes Rad gedreht. Als die Chicago and North Western Railroad von der Belegschaft übernommen wurde, hatte er über 100 000 Dollar eingesetzt und mehr als sechs Millionen eingefahren. Das war sein einziger großer Coup gewesen – Chancen von sechzig zu eins boten sich nur selten –, aber auch einige andere waren beachtenswert. Mit einem Nettovermögen von acht Millionen Dollar hatte er bei Merrill Lynch aufgehört und war zurück nach Georgetown gegangen, um in Geschichte zu promovieren. Als Amateur – der er eigentlich nicht mehr war – spekulierte er weiter an der Börse, bis er in den Regierungsdienst trat. Inzwischen wurde sein Portefeuille von mehreren Anlageberatern verwaltet, die ungewöhnlich konservativ agierten. Sein Nettovermögen schien mittlerweile 20 Millionen oder etwas mehr zu betragen. Seine Konten wurden blind geführt, das heißt, daß er nur die Quartalsabrechnungen zu sehen bekam und nicht wußte, wie sein Geld angelegt worden war. Diese Vorschrift, die Interessenkonflikte ausschließen sollte, ließ sich natürlich umgehen, aber hier auf dem Papier war alles strikt legal. Ein Verstoß war praktisch nicht nachzuweisen – es sei denn, man zapfte die Leitungen seiner Anlageberater an, und die Genehmigung dazu bekam man nicht so leicht.

Die Börsenaufsichtsbehörde SEC hatte gegen Ryan ermittelt, aber nur im Zuge eines Verfahrens gegen ein Unternehmen, an dem er sich beteiligt hatte. Das Resümee merkte in abgehackter Amtssprache an, eine Rechtsverletzung sei nicht nachzuweisen gewesen, aber Wellington gewann den Eindruck, daß die Sache nur der Form, nicht aber dem Inhalt nach in Ordnung gewesen war. Ryan hatte sich geweigert, eine Erklärung zu unterschreiben, derzufolge er sich der Unrechtmäßigkeit der Transaktion bewußt gewesen sei, und die Regierung hatte keinen weiteren Druck auf ihn ausgeübt. Das war nicht ganz verständlich, aber erklärbar, denn Ryan war nicht das eigentliche Ziel der Ermittlungen gewesen; offenbar war jemand zu dem Schluß gelangt, daß das Ganze wohl nur ein Zufall gewesen war. Ryan hatte das Geld allerdings aus seinem Portefeuille herausgenommen ... Gentlemen’s Agreement? schrieb Wellington auf seinen gelben Notizblock. Gut möglich. Wenn gefragt, mochte Ryan erklären, er hätte es aus übergroßen Skrupeln getan, um sein Gewissen zu erleichtern. Die Summe war in Pfandbriefen angelegt, die Zinsen reinvestiert worden und jahrelang unangetastet geblieben, bis das Geld auf einmal... Moment, dachte Wellington. Das ist ja interessant.

Ein treuhänderisch verwalteter Ausbildungsfonds? Für wen? Wer war Carol Zimmer? Warum kümmerte sich Ryan um ihre Kinder? Timing? Bedeutung?

Wie so oft verriet ein Berg Papier nur wenig. Das ist vielleicht der wahre Zweck der Regierungsarbeit, überlegte Wellington, mit Volumen den Anschein von Substanz zu erwecken und dabei so wenig wie möglich zu sagen. Er lachte in sich hinein. War das nicht auch der Sinn und Zweck der Juristerei? Für 200 Dollar die Stunde zankten sich die Anwälte nur zu gern über die Stellung von Satzzeichen und andere gewichtige Angelegenheiten. Ihm aber war etwas sehr Offenkundiges entgangen.

Ryan stand nicht in der Gunst der Fowler-Administration. Warum war er dann für das Amt des DDCI nominiert worden? Aus politischen Gründen? Nein, aus diesen wählte man Leute, die für ihr Amt eigentlich nicht qualifiziert waren. Hatte Ryan überhaupt politische Kontakte? Die Akte wies keine aus. Wellington blätterte und fand einen Brief, unterzeichnet von Alan Trent und Sam Fellows vom Aufsichtsausschuß des Repräsentantenhauses. Was für ein merkwürdiges Paar, ein Schwulerund ein Mormone. Ryans Ernennung hatte den Kongreß glatt passiert und viel rascher als die von Marcus Cabot oder die der Kabinettstars des Präsidenten, Bunker und Talbot. Zum Teil lag das daran, daß Ryan ein Mann der zweiten Ebene war, aber das erklärte nicht alles. Die Fakten wiesen auf beste politische Beziehungen hin. Aber zu wem? Worüber, in aller Welt, konnten sich Trent und Fellows einig sein?

Fest stand, daß Fowler und seine Leute etwas gegen Ryan hatten – sonst hätte nicht der Justizminister persönlich Wellington auf den Fall angesetzt. Fall? War das die richtige Bezeichnung für seine Aktivitäten? Wenn wirklich ein Fall vorlag, warum wurde er dann nicht vom FBI bearbeitet? Offenbar war wieder die Politik im Spiel. Ryan hatte öfters eng mit dem FBI zusammengearbeitet, aber...

William Connor Shaw, der Direktor des FBI, wurde als der ehrlichste Mann der Regierung gefeiert. Politisch war Shaw natürlich naiv, aber er triefte sozusagen vor Integrität, und das zierte den Chef einer Polizeibehörde. Jedenfalls war man im Kongreß dieser Ansicht und spielte sogar mit dem Gedanken, Sonderankläger abzuschaffen, weil das FBI so sauber geworden war – besonders, nachdem ein Sonderankläger im Fall Iran-Contra solchen Mist gebaut hatte. Mit dieser Affäre hatte das FBI nichts zu tun gehabt.

Ein interessanter Fall, an dem man sich seine Sporen verdienen konnte.