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Fortschritt
Wellington hatte drei Assistenten, erfahrene Ermittlungsbeamte, die an politisch heikle Fälle, die höchste Diskretion verlangten, gewöhnt waren. Es war seine Aufgabe, Observierungsgebiete zu identifizieren und anschließend die von seinen Assistenten gesammelten Daten zu prüfen und in einen Zusammenhang zu bringen. Schwierig war, die Informationen zu sammeln, ohne daß die Zielperson davon erfuhr; im Fall Ryan, wie Wellington korrekt vermutete, ein besonders heikles Unterfangen, denn der DDCI war scharfsinnig. Sein früherer Posten als Chef der Aufklärung hatte ihn als einen Mann qualifiziert, der das Gras wachsen hörte und aus dem Kaffeesatz las. Wellington mußte also langsam vorgehen ... aber nicht zu langsam. Der junge Staatsanwalt ging von der Vermutung aus, daß er keine Beweise für ein Schwurgericht zu sammeln und deshalb etwas mehr Spielraum hatte. Er bezweifelte, daß Ryan so dumm gewesen war, bewußt gegen ein Gesetz zu verstoßen. Die Vorschriften der Börsenaufsicht waren gedehnt, vielleicht sogar gebogen worden, aber aus einer Prüfung der Ermittlungsakte ging hervor, daß Ryan in gutem Glauben und aus der Überzeugung heraus gehandelt hatte, keine Regel zu verletzen. Diese Einschätzung Ryans mochte eine reine Formsache gewesen sein, aber im Recht ging es nun mal um Formsachen. Die Börsenaufsicht hätte Druck ausüben und vielleicht sogar einen Prozeß anstrengen können, aber zu einer Verurteilung wäre es nie gekommen ... möglicherweise hätte man sich außergerichtlich einigen oder ihn zu der Erklärung zwingen können, daß er sich der Fragwürdigkeit seines Handelns bewußt gewesen war. Aber auch das bezweifelte Wellington. Ryan hätte ein solches Ansinnen glattweg abgelehnt. Er war ein Mann, der sich nicht herumschubsen ließ. Dieser Mann hatte Menschen getötet. Wellington schüchterte das nicht ein. Er sah darin nur einen Hinweis auf Ryans Charakterstärke. Ryan war ein harter Brocken, der ein Problem frontal anging, wenn’s sein mußte.
Und das ist sein schwacher Punkt, sagte sich Wellington.
Er greift an. Es mangelt ihm an Finesse. Ehrliche Menschen begingen diesen Fehler, und in der politischen Landschaft war das ein schweres Handicap.
Allerdings genoß Ryan politische Protektion. Trent und Fellows waren mit allen Wassern gewaschen.
Wellington sah sich vor zwei Aufgaben gestellt: Erstens mußte er Belastungsmaterial gegen Ryan finden und zweitens seine politischen Verbündeten neutralisieren.
Wellington klappte eine Akte zu und schlug eine andere auf: Carol Zimmer.
Zuerst sah er ein Lichtbild von der Einwanderungsbehörde, das Jahre alt war - damals bei der Einreise war sie im wahrsten Sinn des Wortes eine Kindbraut gewesen, ein zierliches Persönchen mit einem Puppengesicht. Ein neueres, von einem seiner Assistenten aufgenommenes Foto zeigte eine reife Frau von knapp vierzig, deren Gesicht nun einige Falten aufwies, die aber irgendwie noch schöner aussah als zuvor. Der schüchterne, fast gehetzte Ausdruck auf dem ersten Bild – verständlich, da es kurz nach ihrer Flucht aus Laos aufgenommen worden war – war dem einer Frau gewichen, die sich ihrer Stellung im Leben sicher sein konnte. Ein liebes Lächeln hat sie, dachte Wellington.
Der Jurist entsann sich einer Kommilitonin, Cynthia Yu, die sehr gut im Bett gewesen war und ähnliche Augen gehabt hatte... schelmisch, fast wie eine Kokotte.
Moment, dachte er, habe ich da etwas?
Ist die Sache so simpel?
Ryan war verheiratet. Ehefrau: Dr. med. Caroline Muller-Ryan, Augenchirurgin. Lichtbild: die typische Weiße angelsächsischer Abstammung, aber katholisch. Schlank, attraktiv, Mutter zweier Kinder.
Die Tatsache, daß ein Mann eine hübsche Frau hat, bedeutet noch nicht...
Ryan hatte Geld für die Ausbildung der Kinder von Carol Zimmer in eine Stiftung eingebracht ... Wellington schlug eine neue Akte auf, die eine Fotokopie der Urkunde enthielt.
Ryan hatte sie, wie er sah, allein unterzeichnet und von einem Anwalt und Notar in Washington – aber nicht seinem Hausanwalt! – beglaubigen lassen. Caroline Ryan hatte nicht mitunterschrieben ... war sie überhaupt informiert gewesen? Nach Aktenlage nicht.
Nun sah sich Wellington die Geburtsurkunde des jüngsten Kindes der Zimmers an. Der Ehemann war bei einem Manöverunfall ums Leben gekommen. . . der Zeitpunkt war nicht eindeutig. Sie konnte in der Woche, in der ihr Mann gestorben war, schwanger geworden sein ... oder auch nicht. Es war ihr siebtes Kind... oder das achte? Die Schwangerschaft mochte neun Monate oder weniger gedauert haben. Erstgeburten kamen oft verspätet, spätere Kinder gerne verfrüht. Geburtsgewicht: 2466 Gramm, etwas unter dem Durchschnitt. Aber sie war als Asiatin zierlich ... waren die Kinder solcher Frauen kleiner? Wellington machte sich Notizen und mußte feststellen, daß er eine Reihe von Vermutungen hatte, aber keine einzige Tatsache.
Aber suchte er überhaupt nach Fakten?
Ah, der Fall der beiden Skins. Ryans Leibwächter, Clark und Chavez, hatten einen durch die Mangel gedreht, wie sein Ermittler bei der Polizei des Anne Arundel County nachprüfen konnte. Die Ortspolizei hatte Clark seine Version des Hergangs abgenommen. Die Jugendlichen hatten zahlreiche Bagatelldelikte im Strafregister, ein paar Freiheitsstrafen auf Bewährung und ein paar Sitzungen bei der Beratungsstelle hinter sich. Die Polizei war mit dem Ausgang der Geschichte sehr zufrieden. »Meinetwegen hätte er den kleinen Drecksack auch abknallen können«, hatte ein Sergeant gesagt und gelacht, wie die Bandaufzeichnung des Ermittlers bewies. »Mit diesem Clark ist offenbar nicht zu spaßen, und sein Partner ist auch nicht viel anders. Wenn diese Kerle blöde genug waren, sich mit denen einzulassen, war das ihre eigene Schuld. Zwei andere Bandenmitglieder bestätigten die Aussagen von Clark und Chavez, und damit war der Fall für uns abgeschlossen.«
Aber warum hatte Ryan seine Leibwächter auf die Jugendlichen losgelassen?
Hatte er nicht getötet, um seine Familie zu schützen? Er ist kein Mann, der eine Bedrohung seiner Freunde oder seiner Familie hinnimmt ... seiner Geliebten?
Nicht ausgeschlossen.
»Hmmm ...«, brummte Wellington. Der DDCI ging also fremd. Das war nicht illegal, aber fragwürdig. Und ganz atypisch für den Doktor John Patrick Ryan mit dem Heiligenschein. Wenn eine Jugendbande seine Freundin belästigte, setzte er einfach seine Leibwächter auf sie an, wie ein capo der Mafia – und erweist der Gesellschaft einen Dienst, mit dem sich die Polizei schon lange nicht mehr abgibt.
Reichte das?
Nein.
Er brauchte etwas mehr, er brauchte irgendeinen Beweis. Der mußte nicht stichhaltig genug für ein Schwurgericht sein ... aber doch gut genug – wofür? Für ein Disziplinarverfahren, und solche Ermittlungen blieben nie ganz geheim. Man brauchte nur zu flüstern, ein paar Gerüchte zu streuen. Ganz einfach. Aber erst brauchte Wellington einen Ansatzpunkt.
»Manche sagen, dies könnte sich zu einer Vorschau auf die Superbowl entwikkein: In den ersten drei Wochen der Saison haben beide Mannschaften ein Spielverhältnis von 2:0. Beide Teams scheinen für die Spitze ihrer Conference bestimmt. Im Metrodome treten nun die San Diego Chargers gegen die Minnesota Vikings an«, erklärte der Sportreporter.
»Tony Wills hat seine erste Saison als Profi noch spektakulärer begonnen als seine Karriere im College-Football«, sagte der Ko-Kommentator. »In nur zwei Spielen war er 46mal im Ballbesitz und legte dabei 360 Yard im Sturm zurück - also jedesmal, wenn er den Ball berührte, 6,7 Yard, und das gegen die Chicago Bears und die Atlanta Falcons, beides Mannschaften mit starker Verteidigung. Wer kann Tony Wills stoppen?«
»Und er lief 125 Yard als Paßempfänger. Kein Wunder, daß man den Jungen die Säule der Mannschaft nennt.«
»Hinzu kommt, daß er in Oxford seinen Doktor gemacht hat«, meinte der Ko-Kommentator und lachte. »Guter Sportler, guter Student, Rhodes-Stipendiat und der Mann, der ganz allein das Team der Northwestern-Univcrsität wieder ins Endspiel in der Rose Bowl in Pasadena gebracht hat. Ist er wirklich schneller als eine Kugel?«
»Das wird sich zeigen. Maxim Bradley, der junge Linebacker der Chargers, ist der beste Verteidiger seit Dick Butkus und kommt aus Alabama – das ist die Schule, die Profis wie Tommy Nobis, Cornelius Bennett und andere Stars hervorgebracht hat. Man nennt ihn nicht umsonst den Verteidigungsminister.« Dieser gängige Witz in der Football-Liga NFL zielte auf den Besitzer der Mannschaft, Verteidigungsminister Dennis Bunker.
»Tim, das wird ein tolles Spiel!«
»Schade, daß ich nicht dabei bin«, bemerkte Brent Talbot. »Dennis sitzt in seiner Loge.«
»Wenn ich ihn nicht zum Football lasse, tritt er zurück«, sagte Präsident Fowler. »Außerdem hat er sein eigenes Flugzeug genommen.« Dennis Bunker besaß eine kleine Düsenmaschine und ließ sich zwar meist von anderen fliegen, absolvierte aber genug Flugstunden, um seinen Pilotenschein gültig zu halten. Ein Grund mehr für den Respekt, den er beim Militär genoß. Als ehemaliger und ausgezeichneter Kampfpilot konnte er so gut wie jede Maschine fliegen.
»Wie stehen die Wetten?« fragte Talbot.
»Drei Punkte Vorsprung für die Vikings«, antwortete der Präsident, »weil sie den Heimvorteil haben. Die Teams sind ungefähr gleich stark. Letzte Woche habe ich Wills gegen die Falcons erlebt und war ungeheuer beeindruckt.«
»Tony ist ein Prachtkerl. Intelligent, anständig, kümmert sich viel um junge Leute.«
»Sollen wir ihn zum Sprecher der Drogenkampagne machen?«
»Er arbeitet bereits in Chicago mit. Wenn Sie wollen, rufe ich ihn an.«
Fowler drehte sich um. »Tun Sie das, Brent.«
Hinter ihnen hatten Pete Connor und Helen D’Agustino es sich auf einer Couch bequem gemacht. Fowler wußte, daß sie Footballfans waren, und im Fernsehzimmer des Präsidenten war genug Platz.
»Mag jemand ein Bier?« fragte Fowler, der sich ohne Bier kein Spiel ansehen konnte.
»Ich geh’s holen«, sagte D’Agustino und ging ins Nebenzimmer, wo der Kühlschrank stand. Seltsam, dachte »Daga«, daß dieser komplexe Mann, der in Aussehen, Kleidung, Gang und Manieren wie ein Patrizier war und ein arroganter Intellektueller obendrein, sich vor dem Fernseher beim Football – Baseball sah er nur, wenn seine Amtspflichten es verlangten – in ein FFF-Mannsbild verwandelt, das ein paar Bier trank und Popcorn mampfte. Seine Frage: »Mag jemand ein Bier?« war sogar in diesem Kontext ein Befehl. Seine Leibwächter durften im Dienst nicht trinken, und Talbot rührte keinen Alkohol an. Daga holte sich ein Coke.
»Vielen Dank«, sagte Fowler, als sie ihrem Präsidenten das Glas reichte. Bei Footballspielen war er noch höflicher als gewöhnlich. Vielleicht hat er das früher mit seiner Frau so gehalten, dachte D’Agustino und fügte hinzu: Hoffentlich stimmt das, denn es verleiht ihm den menschlichen Zug, den er vor allem braucht.
»Donnerwetter! Bradley hat Wills so hart getackelt, daß wir es bis hier oben hören konnten.« Auf dem Bildschirm standen die Männer auf, und es sah so aus, als würden sie sich gegenseitig beschimpfen. Vermutlich lachten sie aber nur miteinander.
»Die sollen sich ruhig miteinander bekannt machen, Tim, denn sie werden noch oft genug aufeinandertreffen. Bradley ist ein gewitzter Linebacker. Er spielte aus der Mitte und stopfte die Lücke, als hätte er den Angriffszug geahnt.«
»Für einen Neuling hat er ein gutes Gespür, und dieser Center der Vikings spielte letztes Jahr im Pro-Turnier«, erklärte der zweite Kommentator.
»Der kleine Bradley hat ’nen knackigen Arsch«, bemerkte Daga leise.
»Da geht mir die Emanzipation aber zu weit, Helen«, gab Pete zurück und änderte seine Sitzposition auf der Couch, weil sein Dienstrevolver ihm in die Niere drückte.
Günther Bock und Marvin Russell standen unter Hunderten von Touristen, die fast alle das Weiße Haus fotografierten, auf dem Gehsteig. Sie waren am Abend zuvor in Washington angekommen und wollten morgen das Kapitol besichtigen. Beide trugen Baseballmützen zum Schutz gegen die Sonne. Bock hatte eine Kamera um den Hals, die an einem mit Mickymäusen verzierten Gurt hing. Aufnahmen machte er vorwiegend, um so zu wirken wie alle anderen Touristen auch. In Wirklichkeit observierte sein geübtes Auge. Das Weiße Haus war besser gesichert, als sich die meisten Leute vorstellen. Die Gebäude der Umgebung waren hoch und boten Scharfschützen hinter ihren Steinbrüstungen gute Verstecke. Er vermutete, daß er im Augenblick beobachtet wurde, aber den Amerikanern fehlte bestimmt die Zeit und das Geld, um sein Gesicht mit jedem Bild in den Fahndungsbüchern abzugleichen. Außerdem hatte er sein Äußeres so stark verändert, daß er sich keine Sorgen zu machen brauchte.
Der Hubschrauber des Präsidenten schwebte ein und landete nur hundert Meter von Bocks Position entfernt. Ein Mann mit einer tragbaren Luftabwehrrakete hätte eine gute Chance gehabt – wenn es da nicht praktische Erwägungen gäbe. Die Wahl des richtigen Zeitpunktes war schwieriger, als es den Anschein hatte. Am günstigsten wäre ein kleiner Lieferwagen mit einem Loch im Dach, durch das der Schütze seine Rakete abfeuern und dann die Flucht versuchen konnte. Leider aber war auf den Dächern der umstehenden Häuser mit Scharfschützen zu rechnen, über deren Treffsicherheit sich Bock keine Illusionen machte. Es stand zu erwarten, daß der Präsident von den besten Leuten beschützt wurde. Zweifellos hatten sich auch Agenten des Secret Service unter die Touristen gemischt, und es war unwahrscheinlich, daß er diese identifizieren konnte.
Die Bombe konnte man in einem Kastenwagen hierherbringen und detonieren lassen ... das hing von den Schutzmaßnahmen ab, vor denen Ghosn ihn gewarnt hatte. Oder er konnte die Bombe in die unmittelbare Nähe des Kapitols bringen, wenn der Präsident dort seine Ansprache zur Lage der Nation hielt... vorausgesetzt, die Waffe wurde rechtzeitig fertig. Das stand noch nicht fest, und es ging auch noch um die Frage der Verschiffung in die USA, die drei Wochen dauern sollte. Von Latakia nach Rotterdam, von dort aus weiter zu einem amerikanischen Hafen. Baltimore war der Hauptstadt am nächsten gelegen, gefolgt von Norfolk/Newport News. In beiden Häfen wurde viel Containerfracht umgeschlagen. Luftfracht schied aus, weil solche Sendungen oft geröntgt wurden; dieses Risiko konnten sie nicht eingehen.
Die Absicht war, den Präsidenten an einem Wochenende zu erwischen, denn nur an einem Wochenende konnte praktisch alles andere klappen. Bock wußte, daß er gegen sein wichtigstes Operationskonzept verstieß – Einfachheit. Aber wenn dieses Vorhaben gelingen sollte, mußte er mehr als einen Zwischenfall arrangieren, und das ging nur an Wochenenden. Diese aber verbrachte der Präsident sehr oft nicht im Weißen Haus, und es war nicht vorherzusagen, wann er sich in Ohio oder anderswo aufhielt. Man setzte die simpelste Sicherheitsmaßnahme ein, die es gibt: einen unregelmäßigen, in seinen Details geheimgehaltenen Reiseplan. Bei optimistischer Schätzung brauchte Bock mindestens eine Woche, um die anderen Ereignisse vorzubereiten – aber über sieben Tage hinweg ließ sich der Aufenthaltsort des Präsidenten nicht voraussagen. Die Planung eines Anschlags mit konventionellen Waffen wäre einfacher gewesen. Zum Beispiel hätte man ein kleines Flugzeug mit Luftabwehrraketen SA-7 bewaffnen können ... wahrscheinlich doch keine erfolgversprechende Idee, denn der Hubschrauber des Präsidenten war bestimmt mit den besten Infrarot-Störsendern ausgerüstet, die es gab.
Du hast nur eine einzige Chance, sagte sich Bock.
Und wenn wir geduldig sind? überlegte er weiter. Warum lassen wir die Bombe nicht einfach ein Jahr liegen und schaffen sie zur nächsten »Lage der Nation« ins Land? Es sollte ihnen nicht schwerfallen, die Bombe so dicht am Kapitol zu deponieren, daß es mit allen Menschen darin vernichtet wurde. Wie er gehört hatte – und morgen sehen sollte -, bestand der klassizistische Bau vorwiegend aus Stein und hatte nur wenige strukturelle Eisenverstärkungen. Vielleicht brauchten sie wirklich nur Geduld aufzubringen.
Doch das würde Kati nicht zulassen. Erstens ergab sich das Problem der Sicherheit, und zweitens glaubte Kati, kurz vor dem Sterben zu stehen. Geduld ist nicht gerade die Stärke von Todgeweihten.
Konnte die Sache überhaupt klappen? Wie scharf bewachten die Amerikaner Orte, von denen im voraus bekannt war, daß der Präsident sie besuchen wollte? Setzten sie radiologische Sensoren ein?
Ich an ihrer Stelle würde das tun, dachte Bock.
Also nur eine Chance. Eine Wiederholung war ausgeschlossen.
Mindestens eine Woche Vorwarnung, sonst wurde außer einem Massenmord nichts erreicht.
Es mußte ein Ort sein, an dem die Präsenz radiologischer Sensoren unwahrscheinlich war. Damit schied Washington aus.
Bock entfernte sich von dem schwarzen schmiedeeisernen Gitterzaun und ließ sich seinen Zorn nicht anmerken.
»Zurück ins Hotel?« fragte Russell.
»Warum nicht?« Beide waren nach dem langen Flug noch müde.
»Fein, dann können wir uns das Spiel ansehen. Das ist die einzige Sache, in der ich mit Fowler einig bin.«
»Wie bitte? Was?«
»Football. Russell lachte. »Amerikanischer Football. Warte, ich bring’ dir die Regeln bei.«
Fünfzehn Minuten später waren sie in ihrem Hotelzimmer, und Russell stellte den Fernseher an.
»Rasanter Angriff, Tim. Die Vikings konnten sechsmal ein drittes Down verwandeln, und zweimal mußte nachgemessen werden«, sagte der Sportreporter.
»Und eines war ungültig«, kommentierte Präsident Fowler.
»Das hat der Hauptschiedsrichter aber anders gesehen.« Talbot lachte.
»Sie lassen Tony Wills kaum drei Yard weit mit dem Ball vorankommen, aber er schaffte einmal zwanzig im Gegenzug, als die Chargers schliefen«, erklärte der Ko-Kommentator.
»Ein Haufen Arbeit für drei Punkte, Tim.«
»Und nun sind die Chargers im Ballbesitz und greifen an. Die Verteidigung der Vikings hat ihre Schwächen, weil zwei Linebacker wegen leichter Verletzungen ausgefallen sind. Wetten, die bedauern, daß sie heute nicht auf dem Spielfeld stehen?«
Der Quarterback der Chargers fing den ersten Snap, wich fünf Schrittezurück und warf einen schrägen Querpaß zu seinem Flanker, aber eine Hand fälschte den Ball ab, der dann im Gesicht des verdutzten Free Safety der Chargers landete. Dieser Backfieldspieler schnappte sich den Ball, lief los und wurde an der Vierzigyardlinie zu Fall gebracht.
Bock fand das Spiel irgendwie spannend, verstand aber die Regeln überhaupt nicht. Russells Erklärungsversuche halfen auch nicht viel. Günther tröstete sich mit einem Bier, streckte sich auf dem Bett aus und ging in Gedanken durch, was er heute gesehen hatte. Er wollte seinen Plan umsetzen, aber die exakten Details - besonders hier in Amerika – waren problematischer als erwartet. Wenn nur ...
»Was war das gerade?«
»›Verteidigungsminister‹ hat jemand gesagt«, antwortete Russell.
»Ist das ein Witz?«
Marvin drehte sich um. »Ja. Das ist der Spitzname des Middle Linebackers Maxim Bradley von der Alabama-Universität. Aber dem echten Verteidigungsminister gehört das Team – da sitzt er.« Die Kamera zeigte Bunker in seiner Loge.
Sehr interessant, dachte Bock.
»Was ist dieses Superbowl, von dem geredet wird?«
»Das Meisterschaftsspiel. Die erfolgreichsten Mannschaften treten in einer Ausscheidungsrunde gegeneinander an, und die beiden Finalisten treffen sich dann im Endspiel, das Superbowl heißt.«
»Ah, ähnlich wie die Fußball-WM.«
»Ja, aber das Superbowl wird jährlich ausgetragen. Nächstes Jahr Ende Januar findet es in einem neuen Stadion in Denver statt. Skydome heißt es, glaube ich.«
»Und man rechnet damit, daß diese beiden Mannschaften ins Endspiel kommen?«
Russell zuckte die Achseln. »Das sagen die Leute. Aber die reguläre Saison dauert noch sechzehn Wochen, die Playoff-Spiele weitere drei, und das Superbowl kommt dann eine Woche später. Bis dahin kann noch viel passieren.«
»Und wer geht zu diesem letzten Spiel?«
»Eine Menge Leute. Es ist das Spiel, da will jeder dabeisein. Karten sind unmöglich zu kriegen. Diese beiden Mannschaften hier haben die besten Aussichten, ins Endspiel zu kommen.«
»Ist Präsident Fowler footballbegeistert?«
»So heißt es. Er soll hier in Washington oft zu Spielen der Redskins gehen.«
»Wie sieht es mit den Sicherheitsmaßnahmen aus?« fragte Bock.
»Die sind sehr scharf. Fowler sitzt in einer speziellen Loge hinter Panzerglas.«
Was für ein Schwachsinn, dachte Bock. Ein Stadion war natürlich leichter zu sichern, als der oberflächliche Betrachter glauben mochte. Eine schwere Waffe, die von zwei Mann bedient werden mußte, konnte nur aus einem der Eingänge abgefeuert werden, und diese ließen sich relativ leicht überwachen. Andererseits aber...
Bock schloß die Augen. Seine Gedanken waren wirr; er schwankte zwischen konventionellen und unorthodoxen Methoden und konzentrierte sich auf einen falschen Aspekt. Die Idee, den amerikanischen Präsidenten zu töten, war natürlich attraktiv, aber nicht das Wichtigste. Entscheidend war, möglichst viele Menschen auf möglichst spektakuläre Weise zu töten und diesen Anschlag dann mit anderen Aktivitäten zu koordinieren, und das schürte dann ...
Streng deinen Kopf an! sagte er sich. Konzentriere dich auf das Wesentliche.
»Den Aufwand, mit dem das Fernsehen über diese Spiele berichtet, finde ich beeindruckend«, merkte Bock nach einer Minute an.
»Klar, ABC zieht alle Register und rollt mit Satellitenübertragungswagen und allem möglichen anderen Gerät an.« Russell konzentrierte sich auf das Spiel. Die angreifenden Vikings hatten mit dem Ball die Nullinie erreicht und somit einen Touchdown erzielt; es stand nun 10:0. Doch nun sah es so aus, als ginge das andere Team zum Gegenangriff über.
»Ist das Spiel schon einmal ernsthaft gestört worden?«
Marvin drehte sich um. »Was? Ach so, während des Golfkriegs waren die Sicherheitsmaßnahmen sehr scharf – und den Film über so was hast du bestimmt gesehen.«
»Welchen Film?«
»Schwarzer Sonntag hieß er, glaube ich. Typen aus dem Nahen Osten wollten das Stadion sprengen.« Russell lachte. »Alles schon dagewesen, jedenfalls in Hollywood. Sie griffen mit einem Kleinluftschiff an. Als wir gegen den Irak kämpften, durfte bei dem Superbowl der Fernsehblimp nicht an das Stadion heran.«
»Findet heute in Denver ein Spiel statt?«
»Nein, das ist erst morgen abend. Denver Broncos gegen Seattle Seahawks. Wird kein besonders interessantes Spiel, weil die Broncos in diesem Jahr eine neue Mannschaft aufbauen.«
»Aha.« Bock verließ das Zimmer und ließ sich vom Empfang zwei Flugscheine nach Denver buchen.
Cathy stand auf, um ihn zu verabschieden und machte ihm sogar das Frühstück. Ihre Fürsorglichkeit während der letzten Tage verbesserte Ryans Stimmung nicht – im Gegenteil. Aber sagen konnte er das natürlich nicht. Es war schon übertrieben, wie sie ihm an der Tür die Krawatte zurechtzog und ihm einen Kuß gab. Das Lächeln, der liebevolle Blick, dachte Ryan auf dem Weg zu seinem Wagen, alles für einen Ehemann, der keinen hochkriegt. Genau die Art von übertriebener Fürsorge, mit der man einen armen Teufel im Rollstuhl überschüttet.
»Guten Morgen, Doc.«
»Morgen, John.«
»Haben Sie gestern abend das Spiel Vikings – Chargers gesehen?«
»Nein, ich war mit meinem Sohn beim Baseball; Baltimore Orioles verloren 1 :6.« Der Mißerfolg rannte Jack hinterher, aber er hatte wenigstens sein Versprechen gehalten. Und das war immerhin etwas.
»24:21 nach Verlängerung. Dieser Wills ist sagenhaft. Weiter als 96 Yard ließen sie ihn nicht kommen, aber als es um die Wurst ging, knallte er den Ball über 20 Yard ins Tor«, berichtete Clark.
»Hatten Sie gewettet?«
»Ich hatte im Büro fünf Dollar auf die Vikings gesetzt, aber da ich nicht der einzige war, der auf drei Punkte Vorsprung gewettet hatte, ging mein Gewinn an die Ausbildungsstiftung.«
Nun hatte Ryan etwas zu lachen. Wetten war bei der CIA wie bei allen anderen Regierungsbehörden natürlich verboten. Doch wer versuchte, gegen das informelle Footballtoto vorzugehen, riskierte einen Aufstand – und zwar ebenso, da war Jack sicher, beim FBI, das für die Einhaltung der Bundesgesetze zum Glücksspiel zu sorgen hatte. Alle toten Wetten kamen also in die Ausbildungsstiftung im Haus, und da drückte selbst der Generalinspektor der CIA ein Auge zu – mehr noch, er wettete genauso gerne wie jeder andere.
»Sie sehen zur Abwechslung mal ausgeschlafen aus«, bemerkte Clark auf dem Weg zur Schnellstraße 50.
»Acht Stunden Schlaf hab’ ich erwischt«, sagte Jack. Er hatte es am Vorabend noch einmal probieren wollen, aber Cathys Reaktion war gewesen: »Lieber nicht, Jack. Du bist erschöpft und überarbeitet, das ist alles. Laß dir ruhig Zeit.«
Als war’ ich ein überlasteter Zuchthengst, dachte Jack.
»Find’ ich sehr gut«, meinte Clark. »Hat Ihre Frau vielleicht darauf bestanden?«
Ryan starrte durch die Windschutzscheibe. »Wo ist der Kasten?«
»Hier.«
Ryan schloß ihn auf und begann die Meldungen durchzusehen, die übers Wochenende eingegangen waren.
In der Früh nahmen sie einen Direktflug von Washington nach Denver. Das Wetter war vorwiegend klar, und Bock setzte sich ans Fenster und betrachtete die Landschaft. Wie die meisten Europäer war er von der Größe und Vielfalt überrascht, sogar tief beeindruckt. Die bewaldeten Berge der Appalachen, das platte, mit den von rotierenden Bewässerungsanlagen erzeugten Kreisen besprengte Farmland von Kansas; und dann der jähe Übergang vom Flachland in die Rocky Mountains; wo Denver in Sicht kam. Zweifellos würde Marvin irgendwann nach der Landung behaupten, dies alles habe einmal seinem Volke gehört, aber das war Quatsch. Die Indianer, nomadische Barbaren, waren nur den Bisonherden gefolgt, oder was sie sonst vor der Ankunft der Zivilisation getrieben haben mochten. Amerika war ein feindliches Land, aber ein zivilisiertes, und deshalb für ihn um so gefährlicher. Als die Maschine aufsetzte, konnte er seine Gier nach einer Zigarette kaum noch zügeln. In den USA herrscht auf Inlandflügen Rauchverbot. Die Luft in Denver war so dünn, daß es Bock schwindlig wurde. Sie befanden sich 1500 Meter über dem Meeresspiegel. Ein Wunder, daß man hier überhaupt Football spielt, dachte er.
Da sie nach der morgendlichen Rush-hour gelandet waren, hatten sie auf der Fahrt zum Stadion keine Probleme. Der neue Skydome südwestlich der Stadt war ein markantes, von riesigen Parkplätzen umgebenes Gebäude. Er stellte den Wagen in der Nähe einer Kasse ab und entschied sich für die einfachste Methode.
»Haben Sie noch zwei Karten für das Spiel heute abend?« fragte er die Verkäuferin.
»Natürlich, es sind noch ein paar hundert übrig. Wo möchten Sie sitzen?«
»Ich kenne das Stadion leider überhaupt nicht.«
»Dann müssen Sie hier neu sein«, sagte die Frau und lächelte freundlich. »Es ist nur noch auf dem Oberdeck etwas frei, Abteilung 66 und 68.«
»Dann hätte ich gerne zwei Karten. Kann ich bar bezahlen?«
»Aber sicher. Wo kommen Sie her?«
»Aus Dänemark«, erwiderte Bock.
»Ehrlich? Na, dann willkommen in Denver! Hoffentlich gefällt Ihnen das Spiel.«
»Kann ich mir unsere Plätze ansehen?«
»Eigentlich nicht, aber ich glaube, stören tut es niemanden. Gehen Sie ruhig rauf.«
»Vielen Dank.« Bock, dem das Gesäusel auf die Nerven ging, lächelte trotzdem zurück.
»Waren echt noch Karten übrig?« fragte Marvin Russell. »Da bin ich platt.«
»Komm, sehen wir nach, wo wir sitzen.«
Bock ging durch das nächste offene Tor. Nur wenige Meter weiter standen die großen Ü-Wagen des TV-Netzes ABC mit den Satellitenantennen für die Sendung am Abend. Er nahm sich für seine Inspektion Zeit und stellte fest, daß die Kabel für die TV-Anlagen im Stadion fest verlegt waren. Das bedeutete, daß die Ü-Wagen immer am selben Platz standen, an Tor 5. Innen sah er Techniker ihre Geräte aufbauen und ging dann eine Treppe hinauf, absichtlich in die falsche Richtung.
Das Stadion bot 60 000 Menschen Platz, vielleicht sogar noch mehr. Es hatte drei Ebenen: U, Mund 0, und darüber hinaus zwei Logenränge, die zum Teil recht luxuriös aussahen. Bock war von der Spannbetonkonstruktion beeindruckt. Alle oberen Ebenen waren freitragend, damit keine Säulen den Zuschauern den Blick versperrten. Ein großartiges Stadion, ein Superziel. Jenseits des Parkplatzes im Norden zogen sich endlos flache Apartmenthäuser hin. Im Osten stand ein Verwaltungsgebäude. Das Stadion lag nicht im Stadtzentrum, aber das war nicht zu ändern. Bock fand seinen Platz, setzte sich und begann sich zu orientieren. Den Standort des Fernsehteams fand er leicht, denn unter einer Presseloge hing eine Fahne mit dem ABC-Logo.
»He, Sie da!«
»Was ist?« Bock schaute nach unten und sah einen Wächter.
»Sie haben hier nichts verloren.«
»Verzeihung.« Er hielt seine Karten hoch. »Die hab’ ich gerade gekauft und wollte nur nachsehen, wo wir sitzen, damit ich weiß, wo ich parken muß. Ich war noch nie bei einem Footballspiel«, fügte er hinzu und betonte seinen Akzent. Er hatte gehört, daß Amerikaner zu Leuten mit europäischem Zungenschlag besonders nett sind.
»Sie parken am besten auf A oder B. Und kommen Sie nach Möglichkeit frühzeitig, am besten vor fünf. Der Berufsverkehr ist manchmal teuflisch.«
Günther nickte heftig. »Vielen Dank für den Hinweis. So, ich verziehe mich jetzt.«
»Schon gut, Sir. Es geht uns ja nur um Ihre Sicherheit. Wenn das Publikum hier herummarschiert, könnte sich jemand verletzen und uns verklagen.«
Bock und Russell gingen nach unten und um die ganze U-Ebene herum, damit Bock sich die komplette Anlage noch einmal einprägen konnte. Das war überflüssig, wie er feststellte, als er einen kleinen Lageplan des Stadions fand.
»Hast du gesehen, was dich interessiert?« fragte Russell am Auto.
»Kann sein.«
»Du, das find’ ich clever.«
»Was denn?«
»Das Fernsehen hochzujagen. Die meisten Revolutionäre sind blöd, weil sie die Psychologie übersehen. Eigentlich braucht man keinen Haufen Leute umzubringen. Es reicht schon, wenn man ihnen angst macht, stimmt’s?«
»Du hast viel gelernt, mein Freund.«
»Das ist ja stark«, meinte Ryan beim Durchblättern.
»Ich fand es auch nicht schlecht«, stimmte Mary Patricia Foley zu.
»Wie fühlen Sie sich?«
Die Augen der Agentin funkelten. »Clyde hat sich gesenkt. Ich warte jetzt nur noch, daß die Fruchtblase platzt.«
Ryan schaute auf. »Clyde?«
»So soll es heißen – ganz gleich, was es wird.«
»Machen Sie auch Ihre Übungen?«
»Klar, ich bin fitter als Rocky Balboa. Ed hat das Kinderzimmer gestrichen und das Bettehen aufgestellt. Alles ist bereit, Jack.«
»Wie lange wollen Sie sich freinehmen?«
»Vier Wochen, vielleicht auch sechs.«
»Bitte sehen Sie sich das zu Hause an«, sagte Ryan, der gerade bei Seite zwei hängengeblieben war.
»Kein Problem, solange ich dafür bezahlt werde«, versetzte Mary Pat lachend.
»Was halten Sie von der Sache, Mary Pat?«
»Ich finde, SPINNAKER ist unsere beste Quelle. Wenn er das sagt, stimmt es vermutlich.«
»Wir haben nirgendwo anders so einen Hinweis bekommen.«
»Sehen Sie, deshalb rekrutiert man hochplazierte Agenten.«
»Stimmt«, sagte Ryan.
Agent SPINNAKERs Bericht war zwar nicht gerade weltbewegend, aber vielleicht dem ersten Grummeln vergleichbar, das ein schweres Erdbeben ankündigt. Mit Beginn der Liberalisierung in der Sowjetunion war das Land politisch schizophren geworden – oder hatte das Syndrom der alternierenden Persönlichkeit entwickelt. Es gab fünf identifizierbare politische Gruppierungen: die überzeugten Kommunisten, die jede Abweichung vom marxistischen Pfad für einen Fehler hielten (manche nannten sie die Vorwärts-in-die-Vergangenheit-Fraktion); die progressiven Sozialisten, die einen menschlichen Sozialismus verwirklichen wollten (ein Modell, das in Massachusetts kläglich versagt hat, dachte Jack ironisch); die politische Mitte, die ein bißchen Marktwirtschaft mit einem dichten sozialen Netz wollte (also die Nachteile beider Welten, wie jeder Ökonom wußte); die Reformer, denen der Sinn nach einem grobmaschigen sozialen Netz und uneingeschränktem Kapitalismus stand (nur wußte außer dem rapide expandierenden kriminellen Sektor niemand, was freie Marktwirtschaft überhaupt war); und ganz rechts standen jene, die ein autoritäres Regime errichten wollten (wie es vor 70 Jahren mit dem Kommunismus eingeführt worden war). Im Kongreß der Volksdeputierten verfügten die beiden extremen Gruppen jeweils über rund zehn Prozent der Stimmen. Die restlichen 80 Prozent entfielen ziemlich gleichmäßig auf die drei anderen, gemäßigteren Positionen. Selbstverständlich brachten gewisse Themen die Loyalitäten durcheinander – um Fragen des Umweltschutzes wurde ganz besonders hitzig gekämpft –, aber am explosivsten war die Diskussion um den bevorstehenden Zerfall der Union, das Abdriften der Republiken, die schon immer das russische Joch hatten abschütteln wollen. Und schließlich hatte jede Fraktion noch ihre Untergrüppchen. Zum Beispiel ging bei der Rechten im Augenblick die Rede, man sollte einen Romanow, also einen Aspiranten auf den Zarenthron, zurück ins Land holen – nicht als Herrscher, sondern um sich bei ihm offiziell für die Ermordung seiner Vorfahren zu entschuldigen. So ging jedenfalls das Gerücht. Wer diese Idee ausgebrütet hat, dachte Ryan, ist entweder so naiv wie Alice im Wunderland oder ein gefährlicher Vereinfacher. Zum Glück meldete die CIA-Station Paris, der Fürst aller Reußen habe ein besseres politisches Gespür als seine Sponsoren und dächte nicht an eine solche Reise.
Negativ war, daß die politische und wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion völlig hoffnungslos aussah, und SPINNAKERs Bericht machte alles noch ominöser. Andrej Il’itsch Narmonow war verzweifelt. Er verlor Optionen, Verbündete, Ideen, Zeit und Spielraum. Er konzentrierte sich, wie der Agent meldete, viel zu sehr auf das Nationalitätenproblem und versuchte nun sogar, den Sicherheitsapparat fester in den Griff zu bekommen – Innenministerium (MWD), KGB und Militär –, um das Imperium mit Gewalt zusammenzuhalten. Aber das Militär, berichtete SPINNAKER, war weder mit diesem Auftrag noch mit den halbherzigen Maßnahmen, die Narmonow plante, glücklich.
Schon seit Lenins Zeiten waren über das sowjetische Militär und seine angeblichen politischen Ambitionen Spekulationen angestellt worden. Stalin hatte Ende der dreißiger Jahre mit der Sense in seinem Offizierskorps gewütet; man war allgemein der Auffassung, daß Marschall Tuchatschewski keine politische Bedrohung dargestellt hatte, sondern nur ein weiteres Opfer von Stalins bösartiger Paranoia geworden war. Auch Chruschtschow hatte in den späten fünfziger Jahren Säuberungen angeordnet, aber keine Massenhinrichtungen; er wollte weniger Geld für Panzer ausgeben und sich mehr auf Atomwaffen verlassen. Narmonow selbst hatte eine ganze Reihe von Generälen und Obersten in Pension geschickt; seine Absicht war ausschließlich die generelle Reduzierung der Rüstungsausgaben gewesen. Aber diesmal ging die Kürzung des Verteidigungshaushalts mit einer politischen Wiedergeburt des Militärs einher. Zum ersten Mal existierte im Land eine echte Opposition, und Tatsache war, daß die sowjetischen Streitkräfte über alle Waffen verfügten. Als Gegengewicht zu diesem bedenklichen Potential gab es seit Generationen das 3. Hauptdirektorat des KGB, dessen Mitglieder Uniformen trugen und das Militär überwachen sollten. Doch das 3. Hauptdirektorat war nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Militärs hatten Narmonow bewogen, es aufzulösen – das war die Vorbedingung für ihr Ziel einer neuen, wahrhaft professionellen und dem Land und der Verfassung verpflichteten Roten Armee.
Historiker beschreiben die Zeit, in der sie leben, unweigerlich als eine des Übergangs. Und damit haben sie zur Abwechslung einmal recht, dachte Jack. Als was sollte man die gegenwärtige Periode sonst bezeichnen? Die Sowjets balancierten wacklig zwischen zwei politischen und wirtschaftlichen Welten und waren noch nicht sicher, wohin sie sich wenden wollten. Und das machte sie verwundbar für... was? fragte sich Jack.
Für praktisch alles.
Laut SPINNAKER wurde Narmonow zu einer Übereinkunft mit dem Militär gedrängt, das, wie er sagte, zu Gruppe eins, zurück in die Vergangenheit, gehörte. Seiner Auffassung nach bestand die Gefahr, daß die Sowjetunion sich in einen quasi-militaristischen Staat zurückverwandelte, der seine progressiven Elemente unterdrückte. Narmonow habe offenbar die Nerven verloren, schloß der Agent.
»Er sagt, er hätte unter vier Augen mit Andrej Il’itsch gesprochen«, betonte Mary Pat. »Bessere Informationen gibt es wohl nicht.«
»Stimmt wieder«, entgegnete Jack. »Beunruhigend, nicht wahr?«
»Einen Rückfall in ein marxistisches Herrschaftssystem befürchte ich nicht. Sorgen macht mir eher...«
»Ich weiß – die Möglichkeit eines Bürgerkriegs.« Bürgerkrieg in einem Land mit dreißigtausend Atomsprengköpfen, dachte Ryan. Das kann ja heiter werden.
»Es war bisher unsere Position, Narmonow allen Spielraum zu geben, den er braucht«, meinte Mary Pat. »Aber wenn unser Mann recht hat, könnte diese Politik falsch sein.«
»Was meint Ed?«
»Er stimmt mir zu. Wir können Kadischow vertrauen. Ich habe ihn persönlich angeworben. Ed und ich haben jeden seiner Berichte gesehen. Der Mann bringt etwas. Er ist klug, gut plaziert, scharfsinnig und hat Mumm. Wann hat er uns jemals schlechtes oder falsches Material geliefert?«
»Meines Wissens niemals«, erwiderte Jack.
»Genau.«
Ryan lehnte sich zurück. »Wie ich diese Zwickmühlen liebe... ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll, Mary Pat. Als ich Narmonow damals begegnete, war er ein zäher, schlauer, agiler Mann, also alles andere als ein Schlappschwanz.« Jack hielt inne und dachte betreten: Was man von dir nicht behaupten kann.
»Wir haben alle unsere Grenzen. Auch die härtesten Typen werden manchmal weich.« Mrs. Foley lächelte. »Moment, falsche Metapher. Menschen verlieren den Schwung. Zu viel Streß, zu lange Arbeitstage. Die Realität kriegt uns alle klein. Warum, glauben Sie, nehme ich Mutterschaftsurlaub? Für mich ist die Schwangerschaft der perfekte Vorwand. Ein Neugeborenes im Haus ist zwar kein Honigschlecken, aber ich kann mich wenigstens einen Monat lang mit sinnvolleren Dingen beschäftigen als dem Mumpitz, den wir hier jeden Tag treiben. Das haben wir euch Männern voraus, Doc. Ihr kommt nicht so leicht aus der Tretmühle raus wie wir Frauen. Mag sein, daß das Andrej Il’itschs Problem ist. Wen kann er um Rat fragen? Wen um Hilfe bitten? Er ist schon lange im Amt. Die Lage verschlechtert sich, und ihm geht der Sprit aus. Das sagt SPINNAKER, und das stimmt auch mit den Fakten überein.«
»Nur hat bisher niemand anderes so etwas gemeldet.«
»Aber er ist unser bester Lieferant von Insiderinformationen«, beharrte Mary Pat.
»Womit wir wieder am Anfang der Diskussion wären, Mary Pat.«
»Doc, Sie haben den Bericht gelesen und meine Meinung gehört«, summierte Mrs. Foley.
»Richtig.« Jack legte das Dokument auf seinen Schreibtisch.
»Mit welcher Empfehlung leiten Sie das nun nach oben weiter?« »Oben« war die Spitze der Exekutive: Fowler, Elliot, Talbot.
»Ich nehme an, daß ich mich Ihrer Einschätzung anschließe. Es ist mir zwar nicht ganz wohl dabei, aber ich habe Ihrer Position nichts entgegenzusetzen. Außerdem: Als ich Ihnen das letzte Mal widersprach, stellte sich heraus, daß ich schiefgelegen hatte.«
»Sie sind ein sehr guter Chef, wissen Sie das?«
»Und Sie haben mir den Rückzug immer leichtgemacht.«
»Jeder hat mal einen schlechten Tag«, sagte Mrs. Foley und erhob sich mühsam. »So, ich watschle jetzt zurück in mein Zimmer.«
Jack stand ebenfalls auf und öffnete ihr die Tür. »Wann kommt das Kind?«
Sie lächelte ihm zu. »Am 31. Oktober, an Halloween also. Aber meine Kinder lassen sich immer Zeit und sind schwere Brocken.«
»Na, dann passen Sie mal gut auf sich auf.« Jack sah ihr nach und trat dann ins Büro des Direktors.
»Schauen Sie sich das einmal an.«
»Geht es um Narmonow? Wie ich höre, ist wieder etwas von SPINNAKER eingegangen.«
»Das ist richtig, Sir.«
»Wer schreibt die Beurteilung?« fragte Cabot.
»Ich«, erwiderte Jack. »Erst will ich aber einige Fakten überprüfen.«
»Ich fahre morgen rüber zum Präsidenten und hätte es bis dahin gern.«
»Bis heute abend ist es fertig.«
»Bestens. Vielen Dank, Jack.«
Das ist die richtige Stelle, sagte sich Günther schon nach der Hälfte des ersten Spielviertels. Im Stadion saßen 62720 Footballanhänger. Nach Bocks Einschätzung kamen rund tausend Leute dazu, die Speisen und Getränke verkauften. Es war eigentlich kein wichtiges Spiel, aber fest stand, daß die Amerikaner diesen Sport ebenso ernst nahmen wie die Europäer ihren Fußball.Erstaunlich viele Menschen hatten sich die Gesichter mit den Farben der Heimmannschaft geschminkt. Manche hatten sich sogar Footballtrikots mit den in Amerika üblichen riesigen Nummern auf die nackte Brust gemalt. Vom Geländer der oberen Ränge hingen Transparente mit anfeuernden Parolen. Auf dem Spielfeld tanzten hübsche junge Mädchen in knappen Kostümen – um die Fans in Stimmung zu bringen. Bock lernte auch die »Welle« kennen: Beginnend an einem Punkt des weiten Stadions hoben und senkten alle Zuschauer gleichzeitig die Arme; der Effekt war eine umlaufende Woge von Gliedern.
Er lernte auch die Macht des amerikanischen Fernsehens kennen. Diese gewaltige, laute Menge nahm lammfromm Spielunterbrechungen hin, damit ABC Werbespots senden konnte – das hätte selbst unter den gesittetsten europäischen Fußballzuschauern einen Aufstand ausgelöst. Auf dem Spielfeld standen mehrere Schiedsrichter in gestreiften Trikots, die von Fernsehkameras überwacht wurden; wie Russell erklärte, gab es sogar einen »Replay Official« genannten Unparteiischen, der bei umstrittenen Entscheidungen anhand der Zeitlupenwiederholung schlichtete. Diese wiederum erschien auf zwei riesigen Monitoren im Stadion, die alle Zuschauer sehen konnten. In Europa hätte so etwas bei jedem Spiel zu Mord und Totschlag unter Fans und Schiedsrichtern geführt. Bock fand die Kombination von wilder Begeisterung und zivilisiertem Verhalten erstaunlich. Das Spiel selbst war für ihn weniger interessant, aber Russell ging begeistert mit. Die wüste Gewalttätigkeit beim amerikanischen Football wurde immer wieder von langen Perioden unterbrochen, in denen sich nichts tat. Gelegentlich aufflammende Meinungsverschiedenheiten zwischen Spielern blieben dank der rüstungsartigen Schutzkleidung ohne Konsequenzen. Und was waren das für Hünen! Kein Mann dürfte weniger als hundert Kilo gewogen haben. Man hätte sie leicht grobe, ungeschlachte Klötze nennen können, aber die Runningbacks oder Angriffsspieler waren erstaunlich schnell und wendig. Bock, der sich nichts aus Zuschauersport machte und nur als Junge ein bißchen gekickt hatte, waren die Regeln völlig unverständlich.
Günther wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Stadion zu, einem mächtigen, eindrucksvollen Bau mit gewölbtem Stahldach. Auf den Sitzen lagen dünne Kissen. Es gab genug Toiletten und sehr viele Verkaufsstände, an denen es vorwiegend dünnes amerikanisches Bier gab. Rechnete man die Polizisten, Verkäufer und Fernsehteams mit, waren insgesamt 65 000 Personen anwesend. Und in den nahen Apartmenthäusern ... Bock erkannte, daß er sich erst über die Auswirkungen einer Kernexplosion informieren mußte, wenn er die Zahl der Opfer richtig schätzen wollte. Hunderttausend waren es bestimmt, wahrscheinlich noch mehr. Genug also. Er fragte sich, wie viele der nun Anwesenden zum Superbowl kommen würden. Vermutlich die meisten. Da hockten sie dann auf ihren bequemen Plätzen, soffen ihr dünnes Bier und stopften sich mit Hotdogs und Erdnüssen voll. Bock war an zwei Anschlägen auf Flugzeuge beteiligt gewesen. Eine Maschine war im Flug gesprengt worden, und der Versuch einer Entführung war fehlgeschlagen. Damals hatte er sich vorgestellt, wie die Opfer auf ihren gemütlichen Plätzen saßen, ihre mittelmäßigen Mahlzeiten verzehrten, sich einen Film anschauten und nicht ahnten, daß Unbekannte ihr Leben in der Hand hatten. Das genoß er besonders: daß sie nicht Bescheid wußten, er aber wohl. Wenn man eine solche Macht über Menschenleben hat, kommt man sich vor wie Gott, dachte Bock und ließ seinen Blick dabei über die Menge schweifen. Ein besonders grausamer und gefühlloser Gott zwar, aber die Geschichte war eben grausam und gefühllos.
Ja, sagte er sich, das ist der richtige Ort.