34
Plazierung
Ryan stellte überrascht fest, daß es immer noch schneite. Auf dem Balkon vor seinem Büro im obersten Stock lag ein halber Meter Schnee, und die Räumtrupps waren über Nacht überhaupt nicht nachgekommen. Ein starker Wind fegte den Schnee rascher über die Straßen und Parkplätze, als er beseitigt werden konnte, und selbst das, was zu Haufen zusammengeschoben war, wurde weggeblasen und bildete anderswo wieder hinderliche Wehen. So einen Schneesturm hatte Washington seit Jahren nicht mehr erlebt. Die Stimmung der Bürger reicht von Panik bis Verzweiflung, dachte Jack. Bald mußte die Klaustrophobie einsetzen, und es würde nicht einfach sein, die Regale der Supermärkte aufzufüllen. Schon musterten Frauen und Männer ihre Ehepartner und spekulierten, wie man sie kulinarisch verwerten könnte... Endlich mal was zu lachen, dachte Jack, als er Wasser für die Kaffeemaschine holte. Im Vorzimmer packte er Ben Goodley an der Schulter und rüttelte ihn wach.
»Aus den Federn, Dr. Goodley.«
Die Augen öffneten sich langsam. »Wie spät ist es?«
»Zwanzig nach sieben. Wo in Neuengland sind Sie aufgewachsen?«
»In Littleton, das liegt im Norden von New Hampshire.«
»Dann schauen Sie mal aus dem Fenster; das wird Sie an die Heimat erinnern.«
Als Jack mit frischem Wasser zurückkam, stand der junge Mann am Fenster. »Ein halber Meter oder ein bißchen mehr. Na und? Bei uns daheim ist so was ein Schneegestöber.«
»Für Washingtoner Begriffe ist das die Eiszeit. In ein paar Minuten ist der Kaffee fertig.« Ryan beschloß, die Sicherheit unten in der Eingangshalle anzurufen. »Wie sieht es aus?«
»Viele Leute rufen an und sagen, daß sie es nicht zur Arbeit schaffen. Kein Wunder, fast die ganze Nachtschicht kann nicht heim. Der George Washington Parkway ist gesperrt, der Ostabschnitt der Ringautobahn auch, und die Wilsonbrücke ist schon wieder zu.«
»Großartig. Achtung, ein wichtiger Hinweis. Jeder, der zur Arbeit erscheint, ist zwangsläufig KGB-trainiert. Auf der Stelle erschießen.« Goodley konnte aus drei Metern Entfernung das Gelächter am anderen Ende hören. »Halten Sie mich über die Wetterlage auf dem laufenden. Und reservieren Sie mir ein Allradfahrzeug für den Fall, daß ich aus dem Haus muß – den GMC.« Jack legte auf und schaute Goodley an. »Rang bringt Privilegien.«
»Und die Leute, die unbedingt zur Arbeit müssen?«
Jack sah zu, wie der Kaffee aus der Maschine zu tröpfeln begann. »Wenn Ring und Parkway zu sind, schaffen es zwei Drittel unseres Personals nicht. Jetzt wissen Sie, warum die Russen soviel für Programme zur Wetterbeeinflussung ausgeben.«
»Trifft man hier im Süden denn keine Vorkehrungen?«
»Ach wo, hier tut man so, als käme Schnee nur auf Skipisten vor. Wenn es nicht bald zu schneien aufhört, ist die Stadt bis Mittwoch früh lahmgelegt.«
»So chaotisch ist das hier?«
»Warten Sie ab, Sie werden es erleben, Ben.«
»Und ich hab’ meine Langlaufski in Boston gelassen.«
»So hart war die Landung auch wieder nicht«, wandte der Major ein.
»Sir, der Sicherungskasten ist anderer Meinung«, erwiderte der Chief und drückte eine Sicherung hinein. Die kleine schwarze Kunststoffplatte verharrte kurz und sprang dann wieder heraus. »Diese hier bedeutet: kein Funkgerät, und ohne die andere dort funktioniert die Hydraulik nicht. Wir sitzen leider für eine Weile am Boden fest.«
Die Bolzen für das Fahrwerk waren beim zweiten Versuch um zwei Uhr nachts eingetroffen. Der erste Versuch mit einem Pkw blieb erfolglos, und jemand hatte beschlossen, ein Militärfahrzeug einzusetzen. Gebracht hatte die Teile schließlich ein HMMWV, und selbst der war auf dem Weg von Washington nach Camp David mehrmals von liegengebliebenen Fahrzeugen aufgehalten worden. Mit der nicht so schwierigen Reparatur sollte in einer Stunde begonnen werden, aber nun sah alles viel komplizierter aus.
»Nun?« fragte der Major.
»Wahrscheinlich ein paar lose Kabel da drin, Sir. Ich muß den ganzen Kasten ausbauen und durchprüfen. Das dauert mindestens einen ganzen Arbeitstag. Ich schlage vor, daß man eine Ersatzmaschine warmlaufen läßt.«
Der Major schaute nach draußen. An so einem Tag flog er sowieso nicht gerne. »Wir sollen ja erst morgen früh zurückfliegen. Wann ist der Schaden behoben?«
»Wenn ich sofort anfange... um Mitternacht herum.«
»Frühstücken Sie erst einmal. Ich kümmere mich um eine Ersatzmaschine.«
»Roger, Major.«
»Ich lasse Ihnen ein Kabel für einen Heizlüfter rüberziehen und schicke Ihnen auch ein Radio.« Der Major wußte, daß sein Chief aus dem warmen San Diego stammte und bestimmt das Spiel hören wollte.
Er stapfte zurück ins Blockhaus. Der Hubschrauber stand auf einer Kuppe, von der der Wind den Schnee verwehte, so daß dort nur 15 Zentimeter lagen. Weiter unten waren die Wehen bis zu einen Meter tief. Die Marines im Wald freuen sich bestimmt, dachte er.
»Wie ernst ist es?« fragte der Pilot, der sich gerade rasierte.
»Im Sicherungskasten ist etwas faul. Der Chief meint, er bräuchte für die Reparatur den ganzen Tag.«
»So hart war die Landung doch gar nicht«, wandte der Colonel ein.
»Das sagte ich auch schon. Soll ich Ersatz anfordern?«
»Ja, tun Sie das. Haben Sie auf die Gefahrenkonsole geschaut?«
»Ja, Sir. Auf der Welt herrscht Frieden, Sir.«
Die »Gcfahrenkonsole« war nur ein Ausdruck und existierte als solche nicht. Der Bereitschaftsgrad diverser Regierungsbehörden hing von dem erwarteten Ausmaß von Spannungen in der Welt ab. Je größer die mögliche Gefahr, desto mehr Personal und Einrichtungen wurden in Bereitschaft gehalten. Und da im Augenblick den Vereinigten Staaten keine Gefahr zu drohen schien, wurde für den VH-3 des Präsidenten nur eine Ersatzmaschine bereitgehalten. Der Major rief in Anacostia an.
»Halten Sie Strich-Zwo warm. Strich-Eins ist wegen Problemen mit der Elektrik flugunfähig... nein, das können wir hier regeln. Um Mitternacht sollte er wieder startklar sein. Gut. Wiederhören.« Gerade, als der Major auflegte, betrat Pete Connor das Blockhaus.
»Was gibt’s?«
»Der Vogel ist kaputt«, verkündet der Colonel.
»So hart haben wir doch gar nicht aufgesetzt«, wandte Connor ein.
»Damit ist es offiziell«, bemerkte der Major. »Der einzige, der glaubt, daß wir aufgeknallt sind, ist der Hubschrauber.«
»Die Ersatzmaschine wird in Bereitschaft gehalten«, sagte der Colonel und beendete seine Rasur. »Tut mir leid, Pete. Kupferwurm in der Elektrik, hat vielleicht überhaupt nichts mit der Landung zu tun. Der Ersatzvogel kann binnen 35 Minuten hier sein. Keine Anzeige auf der Gefahrenkonsole. Ist etwas vorgefallen, von dem wir noch nichts wissen?«
»Nein, Ed. Von einer Bedrohung ist uns nichts bekannt.«
»Ich kann die Ersatzmaschine rüberbringen lassen, aber da wäre sie dem Wetter ausgesetzt. In Anacostia ist sie sicherer. Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Sir.«
»Lassen wir sie fürs erste mal dort unten stehen.«
»Plant der Chef nach wie vor, sich das Spiel hier oben anzusehen?«
»Ja. Wir haben alle miteinander den Tag freibekommen. Start nach Washington morgen um 6.30 Uhr. Schaffen Sie das?«
»Kein Problem. Bis dahin sollte der Vogel repariert sein.«
»Gut.« Connor ging hinaus und zurück zu seinem Blockhaus.
»Wie ist’s da draußen?« fragte Daga.
»So eisig, wie’s aussieht«, versetzte Pete. »Und der Hubschrauber ist kaputt.«
»Die hätten besser aufpassen sollen«, bemerkte Helen D’Agustino, die sich gerade kämmte.
»Die Crew konnte nichts dafür.« Connor nahm den Hörer ab und wählte die Nummer der Befehlszentrale des Secret Service, die sich einige Straßen südlich des Weißen Hauses befindet. »Hier Connor. Der Hubschrauber ist defekt. Die Ersatzmaschine bleibt wegen der Witterung in Anacostia. Irgend etwas auf der Konsole, das ich wissen sollte?«
»Nein, Sir«, erwiderte der junge Agent. Laut Leuchtdiodenanzeige auf seiner Konsole befand sich der President of the United States (»POTUS« auf dem Display) in Camp David. Der für die First Lady – »FLOTUS« – vorgesehene Raum war leer. Der Vizepräsident war zusammen mit seiner Familie in seiner Dienstvilla auf dem Gelände des Marineobservatoriums an der Massachusetts Avenue. »Von hier aus gesehen ist alles schön friedlich.«
»Wie ist das Wetter bei euch?« fragte Pete.
»Fürchterlich. Alle Suburbans sind unterwegs, um Personal einzusammeln.«
»Zum Glück gibt’s Chevrolet.« Wie das FBI setzte auch der Secret Service den Chevrolet Suburban, einen gigantischen Kombi in der gepanzerten Version, mit Allradantrieb ein. Das Gefährt war mit seinem 7,4-Liter-V8 so sparsam, aber auch so geländegängig wie ein Panzer. »Na, hier ist’s schön gemütlich.«
»Bloß die Marines frieren sich bestimmt die Eier ab.«
»Wie sieht’s auf Dulles International aus?«
»Der japanische PM soll um 18 Uhr eintreffen. Die Jungs sagen, auf Dulles sei eine Landebahn geräumt. Bis zum Nachmittag soll alles frei sein. Hier läßt der Schneesturm endlich nach. Komisch, bei uns...«
»Jaja.« Den Rest brauchte Connor nicht zu hören. Komisch war, daß solches Wetter dem Secret Service die Arbeit erleichterte. »Okay, Sie wissen ja, wo wir zu erreichen sind.«
»Ja. Bis morgen dann, Pete.«
Connor hörte ein Geräusch und schaute aus dem Fenster. Ein Marine saß auf einem Schneepflug und versuchte, die Wege zwischen den Blockhäusern zu räumen. Seltsam: Das Fahrzeug war im Waldtarnmuster des US-Militärs lakkiert, aber der Marineinfantrist trug Weiß. Selbst die Gewehre M-16A2 hatten weiße Überzüge. Wer heute hier eindringen wollte, würde zu spät erkennen, daß die Wachmannschaft völlig unsichtbar war und sich aus gefechtserfahrenen Soldaten zusammensetzte. An Tagen wie heute konnte sich selbst der Secret Service entspannen, und das kam selten genug vor. Es klopfte. Daga ging an die Tür.
»Die Morgenzeitungen«, sagte ein Corporal der Marines.
»Zeitungsausträger«, meinte Daga, nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, »sind die einzigen Leute, auf die man sich wirklich verlassen kann.«
»Und die Marines?« fragte Pete lachend.
»Die sind auch zuverlässig.«
»Aspektänderung bei Sierra-16!« rief der Sonarmann. »Ziel bewegt sich nach links.«
»Verstanden«, erwiderte Dutch Claggett. »Mr. Pitney, Sie übernehmen die Zentrale.«
»Aye aye, Sir«, bestätigte der Navigator, als der IA in den Sonarraum ging. Die Männer vom Feuerleittrupp hoben die Köpfe und warteten auf Angaben, um neue Berechnungen vorzunehmen.
»Da ist er, Sir«, sagte der Sonarmann und tippte mit seinem Stift auf den Schirm. »Scheint jetzt querab zu liegen. Zentrale, hier Sonar. Richtung nun eins-sieben-null, Ziel bewegt sich nach links. Schallpegel konstant, geschätzte Fahrt unverändert.«
Das war nun der dritte Haken, den der Kontakt schlug, nachdem sie ihn aufgefaßt hatten. Der Russe fuhr in seinem Patrouillengebiet ein sehr methodisches, konservatives und geschicktes Suchmuster – so, wie es die 688 taten, wenn sie nach russischen Booten Ausschau hielten. Der Abstand zwischen den »Sprossen« seiner Leiter schien rund 23 Meilen zu betragen.
»IA, ihre neue Umwälzpumpe ist erstklassig«, merkte der Sonarmann an. »Obwohl sie laut Feuerleittrupp zehn Knoten fahren, ist das Reaktorgeräusch viel schwächer als früher.«
»Passen Sie auf, in zwei Jahren fangen die Kerle an, uns Kummer zu machen.«
»Achtung, mechanischer Lärm von Sierra-16, Richtung nun eins-sechs-vier, driftet weiter nach links. Fahrt konstant.« Der Maat kreiste den Leuchtfleck auf dem Schirm ein. »Mag sein, Sir, aber die haben noch eine Menge zu lernen.«
»Distanz zum Ziel nun 26 Meilen.«
»Mr. Pitney, vergrößern wir den Abstand ein wenig. Steuern Sie nach rechts«, befahl der Erste Offizier.
»Aye, Ruder an fünf rechts, neuer Kurs zwei-null-vier.«
»Schlägt er wieder einen Haken?« Captain Ricks betrat den Sonarraum.
»Ja, das scheint er ziemlich regelmäßig zu tun, Captain.«
»Unser Freund ist methodisch.«
»Er änderte den Kurs zwei Minuten vor unserer Zeitschätzung«, erwiderte Claggett. »Ich ließ gerade rechts steuern, um Distanz zu halten.«
»Gut so.« Ricks genoß dieses Spiel. Seit seiner ersten Fahrt als stellvertretender Chef einer Abteilung auf einem Jagd-U-Boot, das war 15 Jahre her, hatte er nicht mehr mit einem Russen Fangen gespielt. Wenn er sie, was selten genug vorkam, überhaupt gehört hatte, hatte er immer die gleiche Maßnahme ergriffen: das andere Boot so lange verfolgen, bis sein Kurs bestimmt werden konnte, dann im rechten Winkel abdrehen und wegfahren, bis sich seine akustische Signatur im Hintergrundlärm verlor.
Gezwungenermaßen hatte man die Taktik ein wenig ändern müssen, denn die russischen Unterseeboote wurden leiser. Was vor wenigen Jahren noch ein störender Trend gewesen war, entwickelte sich nun zu einem echten Problem, das die amerikanische Marine vielleicht zum Umdenken zwingen würde.
»Was, wenn das zur Standardtaktik wird, JA?«
»Wie meinen Sie das, Captain?« Claggett kam nicht ganz mit.
»Diese Kerls werden so leise, daß dies vielleicht ein geschickter Schachzug ist...«
»Wie bitte?« Claggett verstand immer noch nicht.
»Wenn man diesen Kerl verfolgt, weiß man wenigstens immer, wo er ist. Man kann sogar eine Funkboje ausstoßen und mit ihr Hilfe herbeiholen, um ihn auszuschalten. Denken Sie darüber einmal nach. Die Russen werden recht leise. Wenn man den Kontakt gleich nach der Ortung wieder abbricht, ist trotzdem nicht garantiert, daß er einem nicht noch mal in die Quere kommt. Statt dessen verfolgen wir ihn über eine sichere Entfernung und behalten ihn im Auge.«
»So weit, so gut, Captain. Aber was wird, wenn das andere Boot uns auffaßt oder einfach auf Gegenkurs geht und mit großer Fahrt auf uns losrauscht?«
»Gutes Argument. So, und aus diesem Grund verfolgen wir ihn nicht in seiner Kiellinie, sondern leicht seitlich versetzt... da ist eine zufällige Gegenortung unwahrscheinlich. Sich direkt gegen einen Verfolger zu wenden ist zwar eine logische Defensivmaßnahme, aber er kann ja nicht andauernd Löcher in den Ozean bohren, oder?«
Himmel noch mal, Ricks definiert die Taktik neu, dachte Claggett. »Sir, sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie das OP-02 verkauft haben.«
»Anstatt ihm direkt hinterherzufahren, bleibe ich seitlich versetzt auf seiner Nordseite. In dieser Position ist auch unser Schleppsonar effektiver. Das sollte sicherer sein.«
Wenigstens dieser Aspekt klingt vernünftig, dachte Claggett. »Wie Sie meinen, Captain. Distanz bleibt bei 27 Meilen?«
»Ja. Sehen wir uns weiterhin vor.«
Wie vorhergesagt, hatte der zweite Sturm nicht viel ausgerichtet, stellte Ghosn fest. Eine dünne Schneeschicht lag auf den Autos und dem Parkplatz. Für hiesige Verhältnisse eigentlich nichts Besonderes, aber es entsprach dem schwersten Schneesturm, den er im Libanon erlebt hatte.
»Sollen wir was frühstücken?« fragte Marvin. »Ich arbeite nicht gern mit leerem Magen.«
Ein erstaunlicher Mann, dachte Ibrahim, der hat Nerven wie Drahtseile. Entweder ist er sehr tapfer oder ... Oder was? fragte sich Ghosn. Er hatte den griechischen Polizisten getötet, ohne mit der Wimper zu zucken, hatte einem Ausbilder der Organisation eine brutale Lektion erteilt, sein Geschick als Schütze bewiesen und beim Ausgraben der israelischen Bombe keine Spur von Angst gezeigt. Irgend etwas fehlt diesem Mann, schloß Ghosn. Er war völlig furchtlos, und das war nicht normal. Er lernte nicht etwa wie die meisten Soldaten, mit seiner Angst zu leben – nein, er schien überhaupt keine zu empfinden. War das echt, oder wollte er nur seine Umgebung beeindrucken? Vermutlich echt, dachte Ghosn, und wenn das der Fall ist, muß dieser Mann wirklich geistesgestört sein und war somit eher gefährlich als nützlich. Dieser Gedanke erleichterte Ghosns Gewissen ein wenig.
Das Motel hatte nur eine kleine Frühstücksbar und keinen Zimmerservice. Die drei mußten also hinaus in die Kälte. Auf dem Weg zum Frühstückszimmer kaufte Russell eine Zeitung, um sich über das Spiel zu informieren.
Kati und Ghosn fanden schon auf den ersten Blick einen weiteren Grund, die Amerikaner zu hassen. Die Ungläubigen fraßen Eier mit Frühstücksspeck oder Schinken und Pfannkuchen mit Wurst – in allen drei Fällen Produkte vom unreinsten aller Tiere, dem Schwein. Beide Moslems fanden den Anblick und Geruch ekelerregend, und Marvin machte alles noch schlimmer, indem er sich den Frühstücksspeck mit der gleichen Selbstverständlichkeit bestellte wie seinen Kaffee. Der Kommandant ließ Haferbrei kommen, wie Ghosn feststellte. Aber mitten während der Mahlzeit wurde er plötzlich blaß und verließ den Tisch.
»Was ist eigentlich mit ihm los?« fragte Russell. »Ist er krank?«
»Ja, Marvin, er ist sehr krank.« Ghosn betrachtete den fetten Speck auf Russells Teller. Er wußte, daß Kati von dem Geruch übel geworden war.
»Hoffentlich kann er fahren.«
»Das schafft er bestimmt.« Ghosn fragte sich, ob diese Einschätzung korrekt war. Natürlich, dachte er, der Kommandant hat schon Schwereres durchgestanden – und vor anderen sein Gesicht gewahrt. Aber diese Situation nun war einmalig, und der Kommandant würde bestimmt tun, was getan werden mußte. Russell zahlte in bar und legte ein großzügiges Trinkgeld auf den Tisch, weil die Bedienung wie eine Indianerin aussah.
Kati war immer noch blaß, als er zurückkam; er wischte sich den Mund, weil er sich offenbar erbrochen hatte.
»Kann ich Ihnen etwas bestellen?« fragte Russell. »Etwas für den Magen, Milch vielleicht?«
»Danke, im Augenblick nicht.«
»Wie Sie wollen.« Marvin schlug die Zeitung auf. In den nächsten paar Stunden gab es nichts zu tun außer Warten. Wie er sah, schätzte das Blatt die Gewinnchancen für Minnesota auf sechseinhalb zu eins. Auch er hätte auf die Vikings getippt.
Special Agent Walter Hoskins, stellvertretender Chef der Abteilung OK&K (Organisierte Kriminalität und Korruption) in Denver, hatte gewußt, daß er es nicht zum Spiel schaffen würde, und die Karte, die ihm seine Frau zu Weihnachten geschenkt hatte, für 200 Dollar an den SAC verkauft. Hoskins hatte viel zu tun, denn eine Vertrauensperson hatte am Vorabend bei dem alljährlichen Empfang des NFL-Vorsitzenden etwas aufgeschnappt. Dieses Fest zog – ähnlich wie die Veranstaltungen vor dem Kentucky Derby – immer die Reichen, Mächtigen und Prominenten an. Gestern waren beide Senatoren der Staaten Colorado und Kalifornien erschienen, eine Horde Kongreßabgeordnete, die Gouverneure der beiden Staaten und schätzungsweise 300 andere Gäste. Seine VP hatte mit dem Gouverneur von Colorado, Senatoren und der Kongreßabgeordneten aus dem 3. Wahlbezirk an einem Tisch gesessen – gegen alle diese Personen ermittelte er wegen Korruption. Der Alkohol war geflossen, und der vino hatte die übliche Menge veritas enthalten. Gestern abend war man übereingekommen: Der Damm sollte gebaut werden. Auch über die Schmiergelder war man sich einig. Selbst der Vorsitzende des Ortsverbands des grünen Sierra Clubs kungelte mit. Für eine großzügige Spende von einem Bauunternehmer und die Bereitschaft des Gouverneurs, einen neuen Naturpark auszuweisen, waren die Umweltschützer bereit, ihre Einwände gegen das Projekt zu dämpfen. Traurig nur, dachte Hoskins, ist die Tatsache, daß die Gegend das Wasserprojekt wirklich braucht. Es war gut für alle Bürger, einschließlich der Angler. Aber es wurden Bestechungsgelder gezahlt, und das machte die Sache illegal. Er konnte fünf Bundesgesetze anwenden, darunter den vor 20 Jahren verabschiedeten, sehr scharfen »RICO Act«, der organisiertes Verbrechen und Korruption mit hohen Strafen belegte. Einen Gouverneur hatte er bereits hinter Gitter eines Bundesgefängnisses gebracht, und diese vier gewählten Volksvertreter sollten ihm bald Gesellschaft leisten. Der Skandal würde die politische Landschaft des Staates Colorado verheeren. Hoskins’ Informantin war die persönliche Referentin des Gouverneurs, eine idealistische junge Frau, die vor acht Monaten entschieden hatte, daß das Maß voll sei. An einer Frau lassen sich Abhörgeräte leicht anbringen, ganz besonders dann, wenn es sich, wie bei dieser VP, um ein vollbusiges Geschöpf handelt. Das Mikrofon verschwand im Büstenhalter und war dort akustisch günstig plaziert. Dieser Platz war auch sicher, weil der Gouverneur ihre Reize bereits gewogen und für zu leicht befunden hatte. Die alte Weisheit stimmte: Es hat die Hölle nicht den Haß eines verschmähten Weibes.
»Nun?« fragte Murray. Er war ungehalten, weil er wieder einmal einen Sonntag im Büro verbringen mußte. Die U-Bahn, mit der er gekommen war, fuhr inzwischen auch nicht mehr, und es war gut möglich, daß er den ganzen Tag hier festsaß.
»Dan, wir haben zwar genug Beweise, um Anklage zu erheben, aber ich warte lieber ab und schlage erst zu, wenn das Geld übergeben wird. Meine VP hat erstklassige Arbeit geleistet. Ich transkribiere das Band gerade.«
»Faxen Sie mir das rüber?«
»Sowie ich fertig bin. Dan, jetzt haben wir sie am Kragen, alle miteinander.«
»Walt, vielleicht setzen wir Ihnen noch ein Denkmal«, sagte Murray, der seinen Ärger vergessen hatte. Wie die meisten hohen Polizeibeamten haßte er Korruption fast so sehr wie Entführer.
»Dan, die Versetzung hierher war für mich ein Glücksfall.« Hoskins lachte am Apparat. »Vielleicht sollte ich mich um einen der verwaisten Senatssitze bewerben.«
»Colorado könnte einen schlechteren Mann abkriegen«, merkte Dan an und dachte: Dann läufst du wenigstens nicht mehr mit ’ner Waffe rum. Er wußte, daß das ungerecht war. Im direkten Einsatz taugte Walt nichts, aber er hatte sich – wie von Murray im Vorjahr prophezeit – zu einem brillanten Ermittler gemausert, einem Schachmeister, der sogar Bill Shaw das Wasser reichen konnte. Bloß eine Festnahme konnte er nicht ordentlich durchziehen. Nun, räumte Murray ein, solche Künste sind in diesem Fall ja nicht gefragt. Politiker verstecken sich hinter Anwälten und Pressesprechern, nicht hinter Waffen. »Was halten Sie von dem Bundesanwalt?«
»Er ist ein tüchtiger, aufgeweckter junger Mann, der gute Teamarbeit leistet. Ein bißchen Unterstützung vom Justizministerium könnte nicht schaden, aber der Junge schafft es notfalls auch allein.«
»Gut, dann senden Sie mir die Niederschrift rüber, sobald sie fertig ist.« Murray drückte auf einen Knopf und rief Shaw zu Hause in Chevy Chase an.
»Ja?«
»Bill, hier Dan«, sagte Murray über die sichere Leitung. »Hoskins hat gestern abend ins Schwarze getroffen und sagt, er hätte alles auf Band – die fünf Hauptverdächtigten bekakelten beim Roastbeef, wer welchen Schnitt macht.«
»Ihnen ist wohl klar, daß wir den Kerl nun womöglich befördern müssen«, meinte der FBI-Direktor lachend.
»Machen Sie ihn zum zweiten stellvertretenden Direktor«, schlug Dan vor.
»Das hat Sie auch nicht aus den Schwierigkeiten rausgehalten. Muß ich rüberkommen?«
»Nicht nötig. Wie sieht’s bei Ihnen aus?«
»Ich überlege gerade, in der Einfahrt eine Sprungschanze zu bauen. Die Straßen sehen wüst aus.«
»Ich kam mit der U-Bahn, aber die hat jetzt wegen vereister Schienen den Betrieb eingestellt.«
»In Washington herrscht Panik«, versetzte Shaw. »Nun denn. Ich habe vor, es mir gemütlich zu machen und mir das Spiel anzusehen, Mr. Murray.«
»Und ich, Mr. Shaw, verzichte auf mein Vergnügen und arbeite weiter für den Ruhm des FBI.«
»Vorzüglich. Engagierte Untergebene sehe ich gern. Außerdem habe ich meinen Enkel hier«, meldete Shaw, der zusah, wie seine Schwiegertochter dem Kleinen das Fläschchen gab.
»Was macht der Kenny junior?«
»Na, aus dem wird vielleicht mal ein Agent. Also, Dan, wenn Sie mich nicht unbedingt brauchen...«
»Viel Spaß mit dem Kleinen, aber vergessen Sie nicht, ihn zurückzugeben, wenn er die Windeln vollgemacht hat.«
»Keine Angst. Halten Sie mich auf dem laufenden. Kann sein, daß ich mit diesem Fall persönlich zum Präsidenten muß.«
»Rechnen Sie dort mit Problemen?«
»Nein. Wenn es um Korruption geht, ist der Mann beinhart.«
»Ich melde mich wieder.« Murray legte auf und ging aus seinem Büro zur Kommunikationsabteilung. Draußen traf er Inspektor Pat O’Day, der das gleiche Ziel hatte.
»Sind das Ihre Schlittenhunde in der Durchfahrt, Pat?«
»Es gibt hier auch Leute, die vernünftige Autos fahren.« O’Day besaß einen Pickup mit Allradantrieb. »Die Schranke an der Einfahrt Ninth Street ist übrigens in geöffneter Stellung eingefroren. Ich habe Anweisung gegeben, die andere geschlossen zu halten.«
»Warum sind Sie hier?«
»Ich habe Dienst in der Befehlszentrale. Meine Ablösung wohnt draußen in Frederick; die bekomme ich vor Donnerstag nicht zu sehen. Und die I-270 wird wohl erst im Frühjahr wieder aufgemacht.«
»Schlaffe Stadt. Wenn’s hier mal schneit, läuft überhaupt nichts mehr.«
»Wem sagen Sie das?« O’Day war zuletzt in Wyoming eingesetzt gewesen und vermißte die Jagd immer noch.
Murray informierte das Personal in der Kommunikationsabteilung darüber, daß das erwartete Fax aus Denver geheim und fürs erste nur für ihn bestimmt sei.
»Diesen einen Treff kann ich nicht abgleichen«, sagte Goodley kurz nach dem Mittagessen.
»Welchen?«
»Den ersten, der uns aufrüttelte – halt, Verzeihung, den zweiten. Ich kann Narmonows und SPINNAKERs Zeitpläne nicht in Einklang bringen.«
»Das muß nicht unbedingt etwas bedeuten.«
»Ich weiß. Merkwürdig ist nur der Ton der Meldungen. Erinnern Sie sich noch an das, was ich über den Stil sagte?«
»Ja, aber mit meinem Russisch ist es nicht so weit her. Ich erkenne die Nuancen nicht so gut wie Sie.«
»In dieser Meldung taucht die Änderung zum ersten Mal auf, und das fragliche Treffen ist auch das erste, das ich nicht verifizieren kann.« Goodley machte eine Pause. »Ich glaube, da bin ich auf etwas gestoßen.«
»Vergessen Sie nicht, daß Sie die Rußlandabteilung überzeugen müssen.«
»Das wird nicht so einfach sein.«
»Genau«, stimmte Ryan zu. »Untermauern Sie Ihre Theorie mit weiteren Indizien, Ben.«
Ein Mann vom Sicherheitsdienst half Clark, den Kasten mit den Flaschen in die Maschine zu tragen. Clark füllte die Bar auf und ging dann mit den restlichen vier Flaschen Chivas zum Oberdeck. Chavez trottete mit den Blumen hinterher. John Clark stellte die Flaschen an ihren Platz und überzeugte sich, daß in der Kabine alles seine Ordnung hatte. Er rückte einige kleine Gegenstände zurecht, um zu demonstrieren, daß er seine Arbeit ernst nahm. Da die Flasche mit dem Sender-Empfänger einen gesprungenen Hals hatte, konnte er sicher sein, daß niemand versuchen würde, sie zu öffnen. Clever, die Jungs von W&T, dachte er. Die simpelsten Tricks klappten gewöhnlich am besten.
Die Blumenarrangements, die vorwiegend aus schönen weißen Rosen bestanden, mußten befestigt werden, und zwar mit den grünen Stäben, die, wie Chavez fand, genauso aussahen, als seien sie einzig und dafür gemacht. Ding ging nach unten in die vorderen Toiletten, wo er ein sehr kleines japanisches Tonbandgerät in einen Abfalleimer legte, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß es auch richtig arbeitete. Am Fuß der Wendeltreppe traf er sich mit Clark, und die beiden verließen das Flugzeug. Der Voraustrupp der Sicherheit traf gerade ein, als sie in der unteren Ebene des Empfangsgebäudes verschwanden.
Drinnen suchten sich die beiden Männer einen abschließbaren Raum, in dem sie sich umzogen. Heraus kamen sie wie Geschäftsleute gekleidet, anders frisiert und mit Sonnenbrille.
»Sind Operationen immer so einfach, Mr. Clark?«
»Nein.« Die beiden marschierten nun zum anderen Ende des Gebäudes. Sie waren dort etwa 800 Meter von der 747 der JAL entfernt, hatten sie aber immer noch im Blick. Außerdem sahen sie einen Business-Jet Gulfstream-IV, der als Privatflugzeug markiert war. Dieser sollte kurz vor dem japanischen Passagierflugzeug abheben und dann einen Parallelkurs mit ihm halten. Clark nahm einen Sony Walkman aus der Aktentasche, legte eine Kassette ein und setzte den Kopfhörer auf. Er vernahm das Murmeln der Leute von der Sicherheit in der Maschine, das nun von dem in einem Taschenbuch versteckten Tonbandgerät aufgenommen wurde. Schade, daß ich kein Japanisch kann, dachte Clark. Jetzt begann das untätige Warten, das fast immer einen Großteil von verdeckten Operationen ausmacht. Clark hob den Kopf und beobachtete, wie der rote Teppich ausgerollt wurde, die Ehrenkompanie sich aufstellte und das Rednerpult herangetragen wurde. Was für ein bescheuerter Job für die armen Kerle, dachte er.
Nun aber kam Bewegung auf. Der mexikanische Präsident begleitete den japanischen Premier höchstpersönlich zu seinem Flugzeug und schüttelte ihm an der Treppe herzlich die Hand. Na, haben wir da schon einen Beweis? fragte sich Clark, der frohgemut war, weil die Operation gut zu laufen schien, aber auch traurig, weil es so heimtückische Abmachungen überhaupt geben konnte. Die Japaner gingen die Stufen hinauf, die Tür wurde geschlossen, die Treppe weggerollt, und dann liefen die Triebwerke der 747 an.
Clark hörte, wie die Unterhaltung auf dem Oberdeck der Maschine begann. Sobald die Triebwerke liefen, fiel die Tonqualität drastisch ab. Nun rollte die Gulfstream an. Zwei Minuten später setzte sich die Boeing in Bewegung. Der Zeitvorsprung hatte einen guten Grund: Man flog nicht hinter einem Jumbo her, weil die Turbulenzschleppe dieses Großraumflugzeugs sehr gefährlich sein konnte. Die beiden CIA-Leute blieben auf der Aussichtsterrasse, bis die 747 abgehoben hatte. Damit war ihre Arbeit getan.
Die Gulfstream stieg auf ihre Reiseflughöhe von 13 000 Meter und ging auf Kurs null-zwei-sechs in Richtung New Orleans. Auf Anweisung der Männer hinter ihm nahm der Pilot die Schubhebel etwas zurück. Weit rechts von ihnen hatte die Boeing die gleiche Höhe erreicht und flog nun Kurs zwei-drei-eins. Die Whiskyflasche in dem Riesenvogcl sendete ihr Signal auf EHF durchs Fenster, das Antennen in der Gulfstream empfingen. Die sehr günstige Datenbandbreite garantierte ein sehr gutes Signal. Für die beiden Seitenbandkanäle lief je ein Bandgerät. Der Pilot flog die Gulfstream so nahe heran, wie er sich traute, und als die beiden Maschinen über dem Meer waren, drehte er nach links ab. Nun ging ein zweites Flugzeug, eine EC-135, die vom Luftstützpunkt Tinker in Oklahoma herangeeilt war und in der Gegend gewartet hatte, 50 Kilometer östlich und 600 Meter hinter der Boeing in Position.
Die Gulfstream landete in New Orleans, wo die Männer mit ihren Geräten von Bord gingen, tankte auf und flog wieder zurück nach Mexico City.
Dort war Clark in der amerikanischen Botschaft. Zu seinem Team für diese Operation gehörte auch ein Mann vom Direktorat Intelligence, der das Japanische beherrschte. Clark war zu dem Schluß gekommen, daß sich mit einem Testempfang die Effektivität des Systems ermitteln ließ und daß es auch besser sei, die abgehörten Gespräche gleich übersetzen zu lassen. Wenn das mal keine operative Initiative ist, dachte er. Der Sprachkundige ließ sich Zeit und hörte sich das Band dreimal an, ehe er zu tippen begann. Daß Clark ihm dabei über die Schulter sah, störte ihn.
»›Wenn es doch bloß so einfach wäre, mit der parlamentarischen Opposition zu einer Übereinkunft zu kommen‹«, las Clark laut. »›Wir brauchten nur noch einige seiner Partner zu versorgen.‹«
»Da haben wir wohl, was wir wollen«, bemerkte der Übersetzer.
»Wo ist Ihr Kommunikationsmann?« fragte Clark den Stationschef.
»Das sende ich selbst.« Das war in der Tat einfach genug. Der Stationschef gab die zwei Schreibmaschinenseiten in einen Computer ein, der mit einem Gerät verbunden war, das einem Videogerät ähnelte. Auf der großen Platte waren nach dem Zufallsprinzip Milliarden digitaler Zahlen gespeichert. Jeder Buchstabe, den er eingab, wurde ebenfalls nach dem Zufallsprinzip transponiert, dann nach Langley gesendet und dort im MERCURY-Raum aufgezeichnet. Ein Kommunikationstechniker holte die entsprechende Dechiffrier-CD aus dem streng bewachten Archiv, schob sie in sein Abspielgerät und drückte auf einen Knopf. Binnen Sekunden kamen zwei Seiten Klartext aus einem Laserdrucker. Der Techniker tat sie in einen Umschlag, den er versiegelte und einem Boten übergab. Dieser eilte zum Büro des stellvertretenden Direktors im sechsten Stock.
»Dr. Ryan, hier ist die Meldung, auf die Sie gewartet haben.«
»Vielen Dank.« Jack bestätigte den Empfang mit seiner Unterschrift. »Dr. Goodley, Sie müssen mich einen Augenblick entschuldigen.«
»Kein Problem.« Ben ging zurück zu seinen Papierbergen.
Ryan nahm die beiden Seiten heraus und las sie zweimal aufmerksam und langsam durch. Dann griff er zum Telefon und bat um eine sichere Leitung nach Camp David.
»Befehlszentrale«, meldete sich jemand.
»Hier Dr. Ryan in Langley. Ich muß den Chef sprechen.«
»Moment, Sir«, erwiderte der Maat von der Navy. Ryan steckte sich eine Zigarette an.
»Fowler«, sagte eine neue Stimme.
»Mr. President, hier Ryan. Ich habe ein Bruchstück der Konversation in der 747.«
"Jetzt schon?«
»Es wurde vor dem Anlassen der Triebwerke abgehört. Eine unidentifizicrtc Stimme, die vermutlich dem Ministerpräsidenten gehört, sagt, daß der Handel zustande gekommen ist.« Jack las drei Zeilen vor.
»Dieser Hund!« grollte Fowler. »Mit einem solchen Beweis könnte ich hier jemanden vors Gericht bringen.«
»Ich dachte mir, daß Sie das so bald wie möglich hören wollten, Sir. Die Niederschrift kann ich Ihnen per Fax schicken. Mit der Gesamttranskription ist um 21 Uhr zu rechnen.«
»Gut, da hab’ ich nach dem Spiel was zu lesen. Faxen Sie es rüber.« Es wurde aufgelegt.
»Gern geschehen, Sir«, sagte Jack ins Telefon.
»Es ist soweit«, sagte Ghosn.
»Okay.« Russell stand auf und zog seine dicke Jacke an. Der Wetterbericht hatte eine Mindesttemperatur von – 14 Grad vorhergesagt, und die war noch nicht erreicht. Aus Nebraska, wo es noch kälter war, kam ein eisiger Wind. Wenigstens brachte diese Wetterlage einen klaren Himmel mit sich. Auch Denver hatte unter Smog zu leiden, den die im Winter häufig auftretenden Inversionen noch verschlimmerten. Heute aber war keine Wolke am Himmel. In der Ferne konnte Marvin sehen, wie der Schnee in weißen Bannern von den Gipfeln der Front Range geweht wurde. Das mußte ein gutes Omen sein, und das klare Wetter bedeutete auch, daß ihr Flug pünktlich und nicht, wie er befürchtet hatte, mit witterungsbedingter Verspätung abging. Er ließ den Motor des Transporters an, wiederholte, was er zu sagen hatte, und ging, während er die Maschine warmlaufen ließ, noch einmal den Plan durch. Marvin drehte sich um und betrachtete die Ladung. Fast eine Tonne hochbrisanter Sprengstoff, dachte er. Die Leute werden ganz schön sauer sein. Dann ließ er den Mietwagen an und drehte die Heizung auf. Schade, daß es dem Kommandanten so schlechtgeht, dachte Russell. Vielleicht sind es die Nerven.
Wenige Minuten später kamen sie heraus. Ghosn stieg neben Marvin ein. Auch er wirkte nervös.
»Alles klar?«
»Ja.«
»Okay.« Russell legte den Rückwärtsgang ein und fuhr vom Parkplatz. Dann begann er vorwärts zu fahren, überzeugte sich durch einen Blick in den Rückspiegel, daß der Mietwagen auch folgte, und hielt weiter auf die Straße zu.
Die Fahrt zum Stadion verlief ohne Zwischenfälle und dauerte nur wenige Minuten. Ein großes Polizeiaufgebot war da, und er sah, daß Ghosn die Polizisten argwöhnisch beäugte. Marvin machten sie keinen Kummer, denn er wußte, daß sie nur zur Verkehrsregelung da waren und nun, da der große Ansturm noch nicht begonnen hatte, einfach nur herumstanden. Das Spiel begann erst in sechs Stunden. Er bog von der Straße ab zum Tor des Parkplatzes, der für die Medien reserviert war. Dort stand ein Polizist, mit dem er reden wollte. Kati hatte sich bereits von ihm getrennt und fuhr ein paar Straßen weiter ums Viereck. Marvin hielt an und kurbelte die Scheibe herunter.
»Guten Tag«, sagte er zu dem Beamten.
Pete Dawkins von der Denver-Polizei war ein Einheimischer, fror aber trotzdem schon. Er hatte die Aufgabe, das Tor für die Medien und die Prominenz zu bewachen, und war nur auf diesen Posten gestellt worden, weil er noch sehr jung war. Die höheren Dienstränge hatten wärmere Plätze.
»Wer sind Sie?« fragte Dawkins.
»Von der Technik«, erwiderte Russell. »Das ist das Tor für die Medien, oder?«
»Stimmt, aber Sie stehen nicht auf meiner Liste.« Auf dem VIP-Parkplatz war nur eine begrenzte Zahl von Plätzen frei, und Dawkins konnte nicht jeden einlassen.
»Bei der ›A‹-Einheit da drüben ist eine Bandmaschine kaputtgegangen«, erklärte Russell mit einer Geste. »Wir mußten Ersatz ranschaffen.«
»Davon hat mir niemand etwas gesagt«, meinte der Beamte.
»Davon hab’ ich auch erst gestern abend um sechs erfahren. Wir mußten das verdammte Ding von Omaha rüberkarren.« Russell winkte vage mit seinem Blockhalter. Ghosn wagte kaum zu atmen.
»Warum hat man es nicht eingeflogen?«
»Weil Federal Express sonntags nicht arbeitet und weil der Brocken nicht durch die Tür des Learjets paßt. Aber wissen Sie, ich beklage mich nicht. Ich bin in Chicago Techniker beim Sender und kriege für diesen Job das Dreieinhalbfache meines Lohns – von wegen Sonntagsüberstunden, Reisezuschlag und so weiter.«
»Klingt anständig«, meinte der Polizist.
»Dabei kommt für mich mehr raus als sonst in der ganzen Woche. Reden Sie ruhig weiter.« Russell grinste. »Im Augenblick verdiene ich nämlich 1,25 Dollar pro Minute.«
»Sie müssen eine starke Gewerkschaft haben.«
»Stimmt.« Marvin lachte.
»Wissen Sie, wohin Ihre Ladung soll?«
»Klar, Sir.« Russell fuhr an. Ghosn atmete erleichtert auf, als der Wagen sich wieder bewegte. Er hatte alles mitbekommen und eine Katastrophe befürchtet.
Dawkins sah dem Transporter nach, schaute auf die Uhr und machte sich eine Notiz auf seinem Blockhalter. Aus unerfindlichen Gründen wollte der Captain wissen, wer wann eintraf. Dawkins kam das überflüssig vor, aber Captains hatten manchmal einfach unsinnige Ideen. Erst nach einer Weile ging ihm auf, daß der Wagen in Colorado zugelassen war. Seltsam, dachte er, als ein schwerer Lincoln vorfuhr. Dieses Fahrzeug stand auf seiner Liste; es brachte den Vorsitzenden der American Conference der NFL. Wahrscheinlich kommen die VIPs früher, dachte Dawkins, damit sie es sich in ihren Logen gemütlich machen und eher zu saufen anfangen können. Er hatte am Vorabend beim Empfang des FNL-Vorsitzenden Dienst geschoben und mit angesehen, wie sich alle reichen Clowns des Staates mit diversen Politikern und anderen VIPs – alles Arschlöcher, dachte der junge Beamte – aus ganz Amerika einen angedudelt hatten. F. Scott Fitzgerald hatte doch recht, dachte er: Sehr Reiche sind in der Tat anders als du und ich.
Russell hielt 200 Meter weiter, zog die Handbremse an und ließ den Motor laufen. Das Spiel sollte um 16.20 Uhr Ortszeit beginnen. Ghosn kniete hinten vor dem Timer. Er ging davon aus, daß der Anpfiff, der bei so wichtigen Begegnungen immer verspätet erfolgt, um halb fünf kam. Der Zeitpunkt der Detonation war schon vor Wochen eingestellt worden: 17.00 Uhr Rocky-Mountain-Standardzeit, exakt zur ersten vollen Stunde nach Spielbeginn.
Die Sicherung der Zündeinrichtung war recht primitiv. An den Luken waren Klammern angebracht, aber für komplexe Vorrichtungen war keine Zeit mehr gewesen. Um so besser, dachte Ghosn, denn der böige Nordwestwind ließ das Fahrzeug schaukeln und hätte einen empfindlichen Kippschalter womöglich ausgelöst.
Was das betraf, erkannte er erst jetzt, hätte nur das Zuschlagen einer Fahrzeugtür ... Was hast du sonst noch nicht bedacht? fragte sich Ghosn und ging dann rasch alle seine Arbeitsschritte durch. Alles war mehr als hundertmal geprüft worden. Alles war bereit. Selbstverständlich war es bereit. Hatte er sich monatelang sorgfältig auf diesen Augenblick vorbereitet?
Der Ingenieur prüfte zum letzten Mal seine Testschaltungen. Sie funktionierten einwandfrei, und die Kälte hatte den Ladungszustand der Batterien nicht zu sehr beeinträchtigt. Nun schloß er die Kabel an den Zeitzünder an – oder versuchte das zumindest. Seine Hände waren steif von der Kälte und zitterten, weil er nervös war. Ghosn hielt innc, sammelte sich kurz und hatte beim zweiten Mal Erfolg. Zuletzt zog er die Muttern fest.
Damit, entschied er, war es getan. Ghosn schloß die Luke, aktivierte die simple Sicherung und wich von dem Apparat, der nun eine scharfe Bombe war, zurück.
»Fertig?« fragte Russell.
»Ja, Marvin«, antwortete er leise und kletterte auf den Beifahrersitz.
»Dann verschwinden wir.« Marvin wartete, bis der jüngere Mann ausgestiegen war, und verriegelte dann die Beifahrertür. Anschließend sprang er heraus und schloß das Fahrzeug ab. Sie gingen nach Westen, vorbei an den großen Übertragungswagen mit den riesigen Parabolantennen. Die müssen Millionen gekostet haben, dachte Marvin, und bald werden alle ruiniert sein, zusammen mit den Scheißern vom Fernsehen, die aus dem Tod meines Bruders einen Medienzirkus gemacht haben, eine Sportveranstaltung. Daß die draufgehen mußten, rührte ihn nicht im geringsten. Bald erreichten sie den Windschatten des Stadions, gingen vorbei an den ersten Fans und den Autoschlangen, die sich auf den Parkplatz wanden. Viele Wagen kamen aus Minnesota und waren mit Anhängern der Vikings besetzt, die warm angezogen waren und die Mützen ihres Teams trugen, manche sogar mit Hörnern besetzt.
Kati wartete mit dem Mietwagen in einer Seitenstraße. Wortlos rutschte er vom Fahrersitz und ließ Marvin ans Steuer. Da der Verkehr nun dichter wurde, wählte Russell einen Schleichweg, den er in den vergangenen Tagen ausgekundschaftet hatte.
»Eigentlich eine Schande, daß wir das Spiel verderben.«
»Was soll das heißen?« fragte Kati.
»Die Vikings haben es jetzt fünfmal geschafft, ins Endspiel zu kommen, und diesmal sieht es so aus, als würden sie gewinnen. Der junge Wills ist der beste Stürmer seit Sayers, und unseretwegen wird niemand die Aktion mitkriegen. Schade.« Russell schüttelte den Kopf und grinste über die Ironie der Situation. Weder Kati noch Ghosn ließen sich zu einer Antwort herab, aber Russell hatte auch keinen Kommentar erwartet. Den Burschen fehlte halt jeder Sinn für Humor. Der Parkplatz des Motels war fast leer. Alle Gäste müssen Fans der einen oder anderen Mannschaft sein, dachte Marvin, als er die Tür öffnete.
»Ist alles gepackt?«
»Ja.« Ghosn tauschte einen Blick mit dem Kommandanten,. Eigentlich schade, aber da war nichts zu machen.
Das Zimmermädchen war noch nicht da gewesen, aber das war kein Problem. Marvin ging ins Bad und machte die Tür hinter sich zu. Als er wieder herauskam, sah er, daß die beiden Araber aufgestanden waren.
»Ist alles soweit?«
»Ja«, sagte Kati. »Könnten Sie meinen Koffer runterholcn, Marvin?«
»Klar.« Russell drehte sich um und griff nach dem Gepäckstück auf dem Stahlregal. Die Eisenstange, die ihn ins Genick traf, hörte er nicht. Der kleine, aber stämmige Mann fiel auf den schäbigen Teppichboden aus Synthetik. Kati hatte fest zugeschlagen, aber nicht fest genug, wie er nun erkannte. Der Kommandant wurde von Tag zu Tag schwächer. Ghosn half ihm, den Bewußtlosen ins Bad zu schleifen, wo sie ihn auf den Rücken drehten. Das Bad des billigen Motels war zu klein für ihre Zwecke. Sie wollten Russell in die Badewanne legen, aber da für sie beide nicht genug Platz war, kniete sich Kati einfach neben den Amerikaner. Ghosn zuckte enttäuscht die Achseln und nahm ein Handtuch vom Halter.
Dieses wickelte er um Russells Hals. Der Indianer war eher benommen als bewußtlos und begann die Hände zu bewegen. Ghosn mußte rasch handeln. Kati reichte ihm ein Steakmesser, das er am Vorabend beim Essen hatte mitgehen lassen. Ghosn bohrte es dicht unter dem Ohr tief in Russells Hals. Blut schoß heraus wie aus einem Schlauch, und Ibrahim drückte das Handtuch wieder auf die Wunde, damit nichts auf seine Kleidung spritzte. Dann durchtrennte er die linke Halsschlagader.
In diesem Augenblick riß Marvin die Augen auf. Sein Blick war voller Unverständnis, und er hatte nicht mehr genug Zeit, zu begreifen, was geschah. Er versuchte, die Arme zu bewegen, aber die beiden stürzten sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf, um den Amerikaner an jeder Gegenwehr zu hindern. Russell öffnete den Mund, sagte aber nichts, und nach einem letzten vorwurfsvollen Blick auf Ghosn wurden seine Augen verträumt und verdrehten sich dann. Inzwischen waren Kati und Ghosn zurückgewichen, um nicht mit dem Blut, das durch die Fugen zwischen den Fliesen rann, in Berührung zu kommen. Ibrahim zog das Handtuch weg. Die Blutung war nun nur noch ein Rinnsal, nichts, worum man sich noch kümmern mußte. Der Stoff aber hatte sich vollgesogen. Ghosn warf das Frotteehandtuch in die Badewanne. Kati reichte ihm ein neues.
»Hoffentlich ist Allah ihm gnädig«, sagte Ghosn leise.
»Er war ein Heide.« Für gegenseitige Beschuldigungen war es nun zu spät.
»War es denn sein Fehler, daß er nie einem Gottesmann begegnete?«
»Waschen wir uns«, versetzte Kati. Vor dem Bad gab es zwei Waschbecken. Die beiden seiften sich gründlich die Hände ein und prüften ihre Kleidung auf Blutflecken. Alles sauber.
»Was passiert hier, wenn die Bombe hochgeht?« fragte Kati.
Darüber dachte Ghosn erst nach. »So nahe ... wird das Motel zwar nicht vom Feuerball verschlungen, aber -« Er trat ans Fenster und zog die Vorhänge ein paar Zentimeter weit auf. Das Stadion befand sich in Sichtweite, und damit war leicht vorherzusagen, was geschehen würde. »Die Hitzewelle setzt es in Brand, und die Druckwelle reißt es um. Von dem Gebäude bleibt nichts übrig.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut. Die Auswirkungen der Bombe lassen sich leicht vorhersagen.«
»Gut.« Kati entledigte sich aller Ausweise, die er und Ghosn bis zu diesem Zeitpunkt benutzt hatten. Sie hatten noch eine Zollkontrolle vor sich und das Schicksal schon genug herausgefordert. Die überflüssigen Dokumente flogen in den Papierkorb. Ghosn nahm beide Koffer und trug sie hinaus zum Auto. Nachdem sie das Zimmer noch einmal überprüft hatten, setzte sich Kati in den Wagen. Ghosn schloß zum letzten Mal die Tür und hängte das Schild »Nicht stören« an den Knopf. Die Fahrt zum Flughafen, wo ihre Maschine in zwei Stunden starten sollte, war kurz.
Das Gelände füllte sich rasch. Bereits drei Stunden vor Spielbeginn war der VIP-Parkplatz zu Dawkins’ Überraschung schon voll. Die traditionelle Schau vor dem Spiel hatte gerade begonnen. Ein Fernsehteam schlenderte mit einer Handkamera auf dem Platz herum, dessen eine Hälfte die Anhänger der Vikings in einen gigantischen Picknickplatz verwandelt hatten. Von den Holzkohlengrills stieg weißer Dampf auf. Dawkins wußte, daß die Fans der Vikings ein bißchen verrückt waren, aber das hier war der Gipfel. Sie brauchten doch einfach nur ins Stadion zu gehen, wo es +20 Grad hatte und es alle möglichen Speisen und Getränke gab, die sie dann auf gepolsterten Sitzen zu sich nehmen konnten. Aber nein – sie wollten beweisen, was für harte Burschen sie waren, indem sie bei – 15 Grad im Freien grillten. Dawkins fuhr Ski und hatte sich als Student bei der Sicherheitspatrouille auf den Pisten bei Aspen etwas hinzuverdient. Er kannte also die Kälte und wußte Wärme zu schätzen. Kälte und Wind waren erbarmungslos und auch mit solchem Imponiergehabe nicht zu beeindrucken.
»Wie läuft’s, Pete?«
Dawkins drehte sich um. »Keine Probleme, Sergeant. Alle Positionen auf der Liste sind abgehakt.«
»Ich löse Sie für ein paar Minuten ab. Gehen Sie rein und wärmen Sie sich auf. Am Sicherheitsposten gleich hinter dem Tor gibt’s Kaffee.«
Dawkins, der ein warmes Getränk vertragen konnte, bedankte sich und ging. Er wußte, daß er die ganze Spielzeit auf Streife im Freien verbringen mußte, um sicherzustellen, daß niemand etwas stahl. Beamte in Zivil hielten nach Taschendieben und Schwarzhändlern Ausschau, durften sich aber später drinnen das Spiel anschauen. Dawkins hingegen hatte nur ein Radio. Kein Wunder, er war erst seit drei Jahren bei der Polizei und war fast noch ein Rekrut. Der junge Beamte ging die leichte Anhöhe zum Stadion hinauf und vorbei an dem weißen Transporter, den er durchgelassen hatte. Er schaute hinein und sah das Gerät von Sony. Seltsam, es schien nicht angeschlossen zu sein. Er fragte sich, wo die beiden Techniker waren, aber die Lust auf Kaffee war größer als seine Neugierde. Selbst Unterwäsche aus Polypropylen hielt nur begrenzt warm, und Dawkins fror wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Kati und Ghosn gaben den Mietwagen zurück und ließen sich mit dem kostenlosen Bus zur Abflughalle bringen, wo sie ihr Gepäck aufgaben und sich dann bei der Abfertigung nach ihrem Flug erkundigten. Dort erfuhren sie, daß ihre MD-80 der American Airlines nach Dallas-Fort Worth wegen schlechten Wetters in Texas Verspätung hatte. Nach dem Schneesturm, der Denver in der vergangenen Nacht nur gestreift hatte, waren die Startbahnen vereist, wie die Frau am Schalter erklärte.
»Ich muß unbedingt pünktlich nach Mexiko. Könnten Sie mich über eine andere Stadt umbuchen?« fragte Ghosn.
»Wir haben einen Flug nach Miami, der um die gleiche Zeit abgeht wie Ihr geplanter nach Dallas. In Miami hätten Sie dann Anschluß...« Sie gab die Daten in ihren Computer ein. »Dort hätten Sie eine Stunde Aufenthalt. Ah, gut, da kämen Sie nur 15 Minuten später in Mexico City an.«
»Könnten Sie das bitte buchen? Ich habe einen Termin in Mexiko.«
»Soll ich beide Flugscheine umbuchen?«
»Natürlich, Verzeihung.«
»Kein Problem.« Die junge Frau lächelte ihren Computer an. Ghosn fragte sich, ob sie die Explosion überleben würde. Die riesige Glasscheibe würde der Druckwelle ausgesetzt sein ... nun, dachte er, wenn sie sich rasch genug duckt ... Aber da hatte sie der Atomblitz schon geblendet. Schade, sie hatte so schöne, dunkle Augen. »Bitte sehr. Ich werde dafür sorgen, daß Ihr Gepäck umgeladen wird«, versprach sie. Ghosn nahm das nicht ganz für bare Münze.
»Ich danke Ihnen.«
»Ihr Ausgang ist dort drüben.«
»Noch einmal herzlichen Dank.«
Die Frau sah ihnen nach. Der Jüngere ist niedlich, dachte sie, aber sein älterer Bruder – oder sein Chef? – ist ein Sauertopf. Na, vielleicht fliegt er nicht gerne.
»Nun?« fragte Kati.
»Der Verbindungsflug paßt so ziemlich in unseren Zeitplan und verkürzt unsere Wartezeit in Mexiko um 15 Minuten. Schlechtes Wetter herrscht nur in Texas. Es sollte also keine weiteren Schwierigkeiten geben.«
Die Abflughalle war fast leer. Wer Denver verlassen wollte, wartete offenbar auf spätere Flüge, um sich das Spiel im Fernsehen anzusehen. Es warteten kaum 20 Leute auf ihren Abflug.
»Und hier kann ich die Terminpläne auch nicht in Einklang bringen«, sagte Goodley. »Ich würde fast sagen, daß wir es mit einem rauchenden Revolver zu tun haben.«
»Wie kommt’s?« fragte Ryan.
»Letzte Woche war Narmonow nur am Montag und am Freitag in Moskau. Dienstag, Mittwoch und Donnerstag befand er sich in Lettland, Litauen und der Westukraine. Anschließend flog er nach Wolgograd, um das Fußvolk bei Laune zu halten. Freitag fällt aus, denn an diesem Tag ging SPINNAKERs Meldung ein. Unser Freund aber verbrachte praktisch den ganzen Montag im Parlamentsgebäude. Ich bezweifle, daß sie sich letzte Woche getroffen haben, doch sein Brief deutet eine Begegnung an. Ich glaube, er lügt.«
»Zeigen Sie mir das mal«, sagte Jack.
Goodley breitete sein Blatt mit den Daten auf Ryans Schreibtisch aus. Gemeinsam gingen sie Termine und Pläne durch.
»Das ist ja hochinteressant«, meinte Ryan ein paar Minuten später. »Dieses Schlitzohr.«
»Finden Sie das überzeugend?« fragte Goodley.
»Völlig, meinen Sie?« Der stellvertretende Direktor schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Und warum nicht?«
»Weil die Möglichkeit besteht, daß Ihre Daten nicht korrekt sind. Es könnte ja sein, daß sie sich heimlich getroffen haben, am Sonntag vielleicht, als Andrej Iljitsch in seiner Datsche war. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer«, sagte Jack mit einer Kopfbewegung nach draußen. »Das muß in allen Einzelheiten geprüft werden, ehe wir es weitergeben. Aber Ihre Entdeckung ist hochinteressant, Ben.«
»Verdammt –«
»Ben, in solchen Fällen geht man behutsam vor. Wegen unklarer Daten wirft man nicht gleich die Arbeit eines wertvollen Agenten weg. Und das ist doch wohl nicht eindeutig, oder?«
»Strenggenommen nicht. Glauben Sie, daß er umgedreht wurde?«
»Zum Doppclagcnten gemacht?« Ryan grinste. »Sie fangen an, den Jargon aufzuschnappen, Dr. Goodley. Beantworten Sie die Frage doch einmal.«
»Hm, wenn man ihn umgedreht hätte, würde er uns nicht Daten dieser Art liefern. Es kann den Russen wenig daran gelegen sein, uns solche Signale zu senden – es sei denn, Elemente im KGB ...«
»Durchdenken, Ben«, warnte Jack.
»Klar, natürlich, dann wären diese Kreise ja auch kompromittiert. Sie haben recht, diese Möglichkeit ist unwahrscheinlich. Als Doppelagent würde er andere Informationen liefern.«
»Genau. Wenn Sie recht haben und er uns in die Irre geführt hat, ist das Motiv, das Sie isoliert haben, das wahrscheinlichste. Er kann von Narmonows Abgang nur profitieren. In unserem Gewerbe ist es nützlich, wenn man wie ein Kriminalbeamter denkt. Wer profitiert – wer hatte ein Motiv? Diesen Test wendet man hier an. Das übernimmt am besten Mary Pat.«
»Holen wir sie?« fragte Goodley.
»Bei diesem Wetter?«
Kati und Ghosn bestiegen gleich nach dem ersten Aufruf die Maschine, nahmen auf ihren Sitzen in der ersten Klasse Platz und schnallten sich an. Zehn Minuten später löste sich die Maschine vom Flugsteig und rollte hinaus an den Start. Ghosn glaubte, eine kluge Entscheidung getroffen zu haben, denn der Flug nach Dallas war immer noch nicht aufgerufen worden. Zwei Minuten später hob das Flugzeug ab und ging bald auf Südostkurs, dem milden Klima Floridas entgegen.
Das Zimmermädchen hatte ohnehin schon einen schlechten Tag. Die meisten Gäste waren spät abgereist, so daß sie mit ihrem Pensum nicht hinterherkam. Sie schnalzte mißbilligend, als sie das Schild »Nicht stören« an einer Tür hängen sah, stellte dann aber fest, daß es an der Tür des angrenzenden und verbundenen Zimmers fehlte. Die grüne Rückseite des Schildes bedeutete, daß das Zimmer gereinigt werden sollte, und die Gäste hängten es oft aus Versehen verkehrt herum auf. Zuerst ging sie ins Nebenzimmer. Dort hatte sie nicht viel zu tun, weil nur ein Bett benutzt worden war. Betten abziehen und wieder überziehen ging ihr schnell von der Hand – das machte sie mehr als 50mal am Tag. Dann reinigte sie das Bad, tauschte die schmutzigen Handtücher gegen frische aus, legte ein neues Stück Seife in die Schale und leerte den Abfalleimer in einen Sack, der an ihrem Wagen hing. Nun mußte sie sich entscheiden, ob sie gleich im Nebenzimmer saubermachte oder nicht. Laut Schild an der Tür durfte sie das nicht, aber warum hatte man sich dann nicht auch für das Zimmer, in dem sie stand, jede Störung verbeten? Sie beschloß, einen Blick zu riskieren und sich rasch zurückzuziehen, wenn das Zimmer noch belegt war. Das Zimmcrmädchen schaute durch die offenstehende Verbindungstür und sah nur zwei zerwühlte Betten. Auf dem Boden lagen keine Kleider. Sie steckte den Kopf durch die Tür und schaute hinüber zum Waschbecken. Dort war ebenfalls alles normal. So entschied sie, auch in diesem Zimmer aufzuräumen. Das Zimmermädchen schob den Wagen durch die Tür, machte flink die Betten und ging dann weiter –
Wie konnte sie das übersehen haben? Zwei Männerbeine. Was? Sie ging darauf zu und –
Der Manager mußte sie eine Minute lang beruhigen, ehe er verstehen konnte, was sie sagte. Zum Glück sind in diesem Flügel keine anderen Gäste, dachte er, die sind alle beim Spiel. Der junge Mann holte tief Luft, ging an der Frühstücksbar vorbei nach draußen und zur Rückseite des Gebäudes. Die Tür, die sich inzwischen automatisch geschlossen hatte, öffnete er mit seinem Hauptschlüssel.
»Mein Gott!« hauchte er nur. Wenigstens war er auf den gräßlichen Anblick gefaßt gewesen. Er rührte nichts an, sondern verließ den Schauplatz durch die Verbindungstür und das Nebenzimmer. Neben dem Telefon am Empfang klebte eine kleine Karte mit den Notrufnummern. Er tippte die zweite ein.
»Polizei.«
»Ich muß einen Mord melden«, sagte der Manager so ruhig wie möglich.
Präsident Fowler legte das Fax auf den Ecktisch und schüttelte den Kopf. »Diese Unverfrorenheit ist unglaublich.«
»Was wirst du nun unternehmen?« fragte Liz.
»Nun, wir werden das natürlich erst verifizieren müssen, aber das dürfte uns gelingen. Brent kommt in der Nacht vom Spiel zurück. Ich will mich gleich morgen früh mit ihm beraten. Aber für mich steht schon jetzt fest, daß wir den Japaner mit dieser Schweinerei konfrontieren. Und wenn ihm das nicht paßt, hat er Pech gehabt. Das sind ja Zustände wie bei der Mafia!«
»Und so was kannst du nicht vertragen, stimmt’s?«
Fowler machte eine Flasche Bier auf. »Einmal Staatsanwalt, immer Staatsanwalt. Und Gauner bleibt Gauner.«
Die 747 der JAL landete drei Minuten früher als geplant auf dem Dulles International Airport. Wegen der Witterung und mit Zustimmung des japanischen Botschafters wurde die Empfangszeremonie abgekürzt. Abgesehen davon war ein formloser Empfang ein eindeutiges Indiz für die Ankunft eines sehr wichtigen Besuchers in Washington, eine Eigenheit, die der Botschaftcr dem Amtsvorgänger des derzeitigen Premiers hatte erklären müssen. Nach einer kurzen, aber freundlichen Begrüßung durch den stellvertretenden Außenminister Scott Adler bestiegen der Regierungschef und sein Gefolge von der Botschaft kurzfristig beschaffte Geländewagen und wurden zu dem nur wenige Straßen vom Weißen Haus entfernt gelegenen Madison Hotel gebracht. Der Präsident, so hörte der Japaner, war noch in Camp David und sollte am nächsten Morgen nach Washington zurückkehren. Dem Ministerpräsidenten, der noch unter den Nachwirkungen der Zeitverschiebung litt, war das sehr recht, und er beschloß, ein paar Stunden länger zu schlafen. Noch ehe er den Mantel abgelegt hatte, ging ein Reinigungstrupp an Bord der 747. Ein Mann holte die noch ungeöffneten Whiskyflaschen aus der Maschine, darunter die mit dem gesprungenen Hals. Ein anderer leerte die Abfalleimer der Toiletten in einen großen Müllsack. Bald waren die beiden unterwegs nach Langley. Mit Ausnahme einer Maschine landeten alle Begleitflugzeuge auf dem Luftstützpunkt Andrews, wo die Besatzungen die vorgeschriebenen Ruhepausen einlegten – in diesem Fall im Offizierskasino. Die Aufzeichnungen wurden nach Langley gebracht und trafen dort später ein als das kleine Bandgerät von Dulles. Da sich herausstellte, daß die Kassette aus dem Flugzeug die beste Tonqualität hatte, begannen die Techniker mit dieser.
Die Gulfstream kehrte ebenfalls pünktlich nach Mexico City zurück. Die kleine Düsenmaschine rollte ans Terminal, und die dreiköpfige Besatzung – Air-Force-Personal in Zivil – ging ins Gebäude, um zu Abend zu essen. Auch sie mußten nun ihre Ruheperiode einhalten. Clark war noch in der Botschaft und wollte sich wenigstens das erste Viertel der Begegnung in Denver ansehen, ehe er nach Washington und in den verdammten Schnee zurückflog.
»Tu langsam, sonst schläfst du während des Spiels ein«, warnte die Sicherheitsberaterin.
»Ich bin doch erst beim zweiten Bier«, gab Fowler zurück.
Neben dem Sofa stand eine Kühlbox, und auf dem Tisch stand ein Silbertablett mit Häppchen. Liz Elliot konnte immer noch nicht begreifen, daß J. Robert Fowler, Präsident der Vereinigten Staaten, ein intelligenter und entschlossener Mann, sich plötzlich zum fanatischen Footballfan gemausert hatte und fressend und saufend vor der Glotze hockte wie Archie Bunker.
»Einen Schaltkreis hab’ ich repariert, aber im anderen steckt der Kupferwurm«, meldete der Chief. »Ich krieg’ einfach nicht raus, wo’s hängt, Colonel.«
»Kommen Sie lieber mal rein und wärmen sich auf«, sagte der Pilot. »Sie sind schon viel zu lange hier draußen.«
»Wetten, daß da wieder ein Drogendeal schiefgegangen ist?« meinte der jüngere Kriminalbeamte.
»Dann waren Amateure am Werk«, merkte sein Partner an. Der Fotograf hatte die üblichen vier Rollen Film verschossen, und nun legte man Russell für den Transport ins Leichenschauhaus in einen schwarzen Kunststoffsack. Die Todesursache stand zweifelsfrei fest. Ein ganz besonders brutaler Mord, dachte der ältere Beamte; die Täter – es mußten zwei gewesen sein – hatten dem Opfer die Arme festgehalten, ihm die Halsschlagadern durchtrennt und dann mit zugesehen, wie es verblutete. Mit dem Handtuch hatten sie verhindert, daß ihre Kleider beschmutzt wurden. Vielleicht waren hier Schulden irgendwelcher Art eingetrieben worden. Möglicherweise hatte das Opfer sie gelinkt, oder es war eine alte Rechnung beglichen worden. Diese grausame und berechnende Tat war eindeutig nicht im Affekt begangen worden.
Die Beamten stellten aber bald fest, daß sie Glück hatten. Das Opfer trug noch seine Brieftasche, die alle seine Papiere enthielt, und man fand, was noch besser war, die kompletten Ausweise zweier anderer Personen, die nun überprüft wurden. Wie üblich am Empfang des Motels waren die Kennzeichen der Fahrzeuge in Verbindung mit den beiden Zimmern aufgeschrieben worden, und diese glich man nun über den Computer der Zulassungsstelle ab.
»Das ist ein Indianer«, sagte ein Mann aus dem Stab des Coroners. »Verzeihung, heute sagt man ja politisch korrekt ›amerikanischer Ureinwohner‹.«
Irgendwo hab’ ich das Gesicht schon mal gesehen, dachte der jüngere Beamte. »Moment mal.« Etwas stach ihm ins Auge. Als er das Hemd des Mannes aufknöpfte, kam die obere Hälfte einer Tätowierung zum Vorschein.
»Der hat gesessen«, sagte der Ältere. Die primitive, mit Tintenstift und Spucke angefertigte Tätowierung zeigte ein Motiv, das er schon einmal gesehen hatte. »Moment, das bedeutet etwas...«
»Warrior Society!«
»Genau. Er stand auf der Fahndungsliste des FBI... im Zusammenhang mit der Schießerei in Norddakota?« Der ältere Beamte dachte kurz nach. »Wenn wir die Daten von der Zulassungsstelle haben, schicken wir das gleich nach Washington. Gut, schaffen Sie ihn jetzt weg.« Die Leiche wurde aufgehoben und hinausgetragen. »Holen Sie jetzt das Zimmermädchen und den Manager herein.«
Inspektor Pat O’Day hatte das Glück, zum Dienst in der Befehlszentrale des FBI Zimmer 5005 im Hoover Building, eingeteilt worden zu sein. Der seltsame Raum hatte die Form eines groben Dreiecks. In seinen Winkeln standen die Tische des Kommunikationsstabs; die Seiten säumten Bildschirme. Da heute nicht viel los war – das halbe Land litt unter schlechtem Wetter, und das war für kriminelle Aktivitäten weitaus hinderlicher als die Polizei -, saß er vor dem Fernseher und schaute auf die beiden Mannschaften, die sich aufgestellt hatten und auf das Los warteten. Gerade als die Vikings den Münzwurf gewonnen und sich für die Offensive entschieden hatten, kam eine junge Frau aus der Kommunikationsabteilung herein und brachte zwei Faxe von der Polizei in Denver.
»Ein Mordfall, Sir. Man meint, wir könnten das Opfer kennen.«
Die Qualität eines Automatenpaßbilds kann einen Profi nun nicht gerade beeindrucken, und schon gar nicht dann, wenn man es stark vergrößert und als Fax schickt. O’Day starrte das Bild ein paar Sekunden lang an und war fast schon zu dem Schluß gelangt, daß er den Mann nicht kannte, als ihm etwas aus seiner Dienstzeit in Wyoming einfiel.
»Den habe ich doch schon mal gesehen... ist das ein Indianer? Marvin Russell?« Er wandte sich an einen anderen Agenten. »Stan, kennen Sie den?«
»Nein.«
O’Day sah sich den Rest der Meldung an. Wer immer der Mann auch war, er hatte den Hals aufgeschnitten bekommen und lebte nicht mehr. »Mord, vermutlich im Zusammenhang mit Rauschgifthandel«, war die erste Einschätzung der Mordkommission in Denver. Plausibel: John Russell hatte auch mit Drogen gehandelt. Ferner war der Meldung zu entnehmen, daß am Tatort weitere Ausweise gefunden worden waren, sehr geschickte Fälschungen, wie es hieß. Auf das Opfer war ein Transporter zugelassen, und zum Motel war es mit einem Mietwagen gekommen, den es sich unter dem Namen Robert Fricnd, auf den auch sein Führerschein ausgestellt war, genommen hatte. Die Polizei suchte nun nach den Fahrzeugen und bat das FBI um sachdienlichc Hinweise zum Opfer und seinen möglichen Partnern.
»Faxen Sie zurück, daß man uns auch die Paßbilder der beiden anderen schicken soll.«
»Wird gemacht, Sir.«
Pat sah die beiden Mannschaften zum Kickoff aufs Spielfeld gehen und griff dann zum Telefon. »Dan? Hier Pat. Würden Sie bitte einmal herunterkommen? Ein alter Freund von uns ist gerade tot aufgefunden worden... Nein, so ein Freund nicht.«
Murray erschien gerade rechtzeitig zum Anspiel, und das hatte Vorrang vor den Telekopien. Minnesota schaffte den Ball bis zur 24-Yard-Linie und begann die Offensive. Die Fernsehanstalt kleisterte den Bildschirm sofort mit allen möglichen überflüssigen Informationen zu, so daß die Fans die Spieler nicht mehr sehen konnten.
»Finden Sie auch, daß der wie Marvin Russell aussieht?« fragte Pat.
»Allerdings. Wo ist er?«
O’Day wies auf den Bildschirm. »Ob Sie es glauben oder nicht – in Denver. Man fand ihn vor 90 Minuten mit aufgeschlitzter Kehle. Die Polizei dort mutmaßt, er sei im Zusammenhang mit einem Drogendeal ermordet worden.«
»Nun, das hat seinen Bruder ja auch das Leben gekostet. Was sonst?« Murray nahm O’Day die Seiten aus der Hand.
Tony Wills ergatterte seinen ersten Ball und trug ihn fünf Yard weiter nach vorne – fast sogar noch weiter. Beim zweiten Down sahen Murray und O’Day ihn einen Kurzpaß fangen und über 20 Yard verwandeln.
»Der Junge ist phänomenal«, sagte Pat. »Ich erinnere mich an ein Spiel, in dem Jimmy Brown ...«
Bob Fowler hatte sich gerade an das dritte Bier dieses Nachmittags gemacht und bedauerte nun, nicht nach Denver gefahren zu sein. Natürlich wäre der Secret Service im Dreieck gesprungen und hätte die Sicherheitsmaßnahmen im Stadion so weit verschärfen müssen, daß die Zuschauer gerade noch eingelassen wurden. Und das wäre politisch unklug gewesen, oder? Liz Elliot, die neben dem Präsidenten saß, stellte auf einem anderen Fernseher HBO ein, um sich einen Film anzusehen, und setzte Kopfhörer auf, weil sie den großen Häuptling nicht stören wollte. Geht überhaupt nicht zusammen, dachte sie. Wie kann sich dieser Mann für so eine Kinderei begeistern?
Als letzte Pflicht vor Spielbeginn sperrte Pete Dawkins sein Tor mit einer Kette ab. Wer nun aufs Gelände wollte, mußte eine der beiden anderen bewachten Zufahrten benutzen, die noch offen waren. Bei der letzten Superbowl hatte eine sehr gerissene Diebesbande auf dem Parkplatz Gegenstände im Wert von 200000 Dollar abgeräumt, vorwiegend Autoradios. Das durfte in Denver nicht passieren. Er begann mit drei anderen Beamten seinen Streifengang. Sie waren übereingekommen, sich nicht auf bestimmte Gebiete zu konzentrieren - dafür war es zu kalt -, sondern um den Parkplatz herumzugehen. Die Bewegung sollte sie wenigstens einigermaßen warm halten. Dawkins’ Beine waren stocksteif; Laufen würde die Muskeln lockern. Im Grunde rechnete er gar nicht damit, Straftaten verhindern zu müssen. Welcher Autodieb war schon dumm genug, bei siebzehn Grad minus herumzutigern? Plötzlich befand er sich in dem Gebiet, das die Fans aus Minnesota besetzt hatten. Ein ordentlicher Haufen, das mußte er ihnen lassen. Sie hatten ihre »Heckklappen-Parties« pünktlich beendet und gründlich aufgeräumt. Abgesehen von ein paar gefrorenen Kaffeelachen wies nichts darauf hin, daß hier ein Fest stattgefunden hatte. Vielleicht waren die Anhänger der Vikings doch besser als ihr Ruf.
Dawkins hatte ein Radio mit Ohrhörer dabei. So ein Spiel im Rundfunk mitzuverfolgen ist wie Sex in voller Kleidung, dachte er, aber zumindest wußte man, warum gejubelt wird. Minnesota schaffte den ersten Touchdown, den Wills über 15 Yard über die linke Flanke erzielte. Der erste Vorstoß der Vikings hatte nur sieben Spielzüge und vier Minuten, fünfzehn Sekunden in Anspruch genommen. Minnesota schien heute sehr stark zu sein.
»Mann, muß Dennis sich mies fühlen«, merkte Fowler an. Liz, die sich auf ihren Film konzentrierte, hörte ihn nicht. Gleich darauf hatte der Verteidigungsminister Anlaß, sich noch mieser zu fühlen. Angespielt wurde an der 5-Yard-Linie, und der Running Back von der Reservebank der Chargers schaffte es 35 Yard weiter, als er plötzlich – ohne angegriffen worden zu sein – den Ball verlor, auf den sich natürlich sofort ein Viking warf.
»Es hieß ja, daß Marvin ein gerissener Hund ist. Sehen Sie sich die Nummern der beiden anderen Führerscheine an. Abgesehen von den ersten vier Ziffern sind sie mit seiner identisch. Wetten, daß er – oder sonst jemand – sich einen Ausweisdrucker beschaffte?« sagte Murray.
»Ja, sogar Reisepässe«, erwiderte O’Day und sah zu, wie Tony Wills wieder die Reihen der Verteidiger durchbrach und den Ball acht Yard weiter trug. »Die Chargers müssen diesen Jungen stoppen, sonst ist das Spiel gelaufen.«
»Was für Pässe?«
»Hat man mir nicht mitgeteilt. Ich habe um weitere Informationen gebeten. Sie wollen mir die Bilder faxen, wenn sie wieder im Dienst sind.«
In Denver liefen die Computer auf Hochtouren. Nachdem die Autovcrmictung identifiziert worden war, ließ sich anhand ihres Computers feststellen, daß der Wagen erst vor wenigen Stunden am Stapleton International Airport zurückgegeben worden war. Das war eine heiße Spur. Nachdem die Kriminalbeamten im Motel die Aussagen der beiden ersten »Zeugen« aufgenommen hatten, fuhren sie sofort zum Flughafen. Die Personenbeschreibungen der zwei anderen Motelgäste stimmten mit den Bildern in ihren Pässen überein, und diese Fotos waren bereits unterwegs zum Polizeipräsidium. Das FBI war absolut scharf auf Informationen; das Ganze klang mehr und mehr nach einem großen Drogenfall. Die beiden Leute von der Kriminalpolizei fragten sich, was aus dem Transporter des Opfers geworden war.
Gerade als Dawkins seine erste Runde ums Stadion beendete, erzielte Minnesota den zweiten Touchdown. Wieder hatte Wills die Hand im Spiel gehabt, diesmal mit einem Paß über vier Yard. Das junge Talent hatte bereits 51 Yard stürmend zurückgelegt und zwei Pässe verwandelt. Dawkins’Blick fiel auf den ABC-Wagen, den er durchgelassen hatte. Warum war er in Colorado zugelassen? Der Techniker hatte behauptet, er arbeite in Chicago und habe das Bandgerät aus Omaha hierhertransportiert. Der Transporter trug aber das Logo der überregionalen Fernsehanstalt. Lokalsender gehörten nicht dem Netzwerk, sondern übernahmen nur Programmaterial von ABC, und ihre Fahrzeuge waren nur mit ihren Kennbuchstaben beschriftet. Dawkins beschloß, seinen Sergeant zu fragen, kreiste die Eintragung auf seinem Blockhalter ein und malte ein Fragezeichen daneben. Dann ging er ins Stadion hinein und zum Wachhäuschen.
»Wo ist der Sergeant?«
»Draußen auf dem Parkplatz«, erwiderte ein Kollege. »Der Depp hat 20 Dollar auf die Chargers gesetzt und hält’s im Kopf nicht aus.«
»Mal sehen, ob ich ihn überreden kann, noch was draufzulegen«, versetzte Dawkins grinsend. »In welche Richtung ist er gegangen?«
»Nach Norden, glaube ich.«
»Danke.«
Beim Spielstand 14:0 führten die Vikings wieder einen Kickoff aus. Ein Verteidiger der Chargers fing den Ball in der Endzone auf, ignorierte den Rat eines Kameraden und stürmte wie der Blitz in der Mitte des Spielfelds los. An der 16-Yard-Linie wehrte er einen Störversuch ab und umging eine klassische Verteidigungsformation des Gegners. 15 Yard weiter war klar, daß ihn nur noch der Kicker stoppen konnte, aber der war zu langsam. Dieser Gegenzug über 103 Yard war der längste in der Geschichte der Superbowl. Der Punkt war gültig, und nun stand es 14:7.
»Na, Dennis, fühlen Sie sich jetzt wohler?« fragte der Außenminister den Verteidigungsminister.
Bunker stellte seine Kaffeetasse ab. Er hatte beschlossen, keinen Alkohol zu trinken, weil er stocknüchtern sein wollte, wenn er vom Vorsitzenden der NFL die Lombardi-Trophäe entgegennahm.
»Ja. Jetzt müssen wir bloß noch Ihren Wunderknaben stoppen.«
»Viel Glück.«
»Er ist toll, Brent. Läuft wie der Wind.«
»Aber er ist mehr als nur ein guter Sportler. Der Junge hat Köpfchen und ein gutes Herz.«
»Wenn er Sie als Lehrer hatte, muß er gewitzt sein«, gestand Bunker großzügig zu. »Aber im Augenblick wäre es mir am liebsten, wenn seine Achillessehne risse.«
Wenige Minuten später fand Dawkins seinen Sergeant. »Hier stimmt was nicht«, sagte er.
»Was wäre das?«
»Es geht um den weißen Transporter, der da drüben neben den schweren Ü-Wagen von ABC steht. Er trägt das Logo von ABC und ist in Colorado zugelassen, soll aber aus Chicago oder Omaha stammen. Ich ließ ihn durch; der Fahrer sagte, er brächte Ersatz für eine defekte Bandmaschine, aber als ich vor ein paar Minuten vorbeiging, war das Gerät nicht angeschlossen, und der Fahrer war verschwunden.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Sergeant.
»Ich finde, wir sollten uns das Fahrzeug einmal genauer ansehen.«
»Gut, ich melde das und gehe mal vorbei.« Der Sergeant machte auf seinem Blockhalter das Kennzeichen des verdächtigen Fahrzeugs aus. »Ich wollte gerade den Leuten von Wells Fargo an der Laderampe helfen. Übernehmen Sie das für mich?«
»Klar, Sergeant.« Dawkins entfernte sich.
Der Sergeant hob sein Funktelefon. »Lieutenant Vernon, hier Sergeant Yankevich. Können wir uns bei den Ü-Wagen treffen?«
Yankevich wandte sich vor dem Stadion zurück nach Süden. Er hatte ein kleines Radio dabei, aber keinen Ohrhörer. San Diego blockte die Vorstöße der Vikings an den Downs ab. Ein Spieler der Mannschaft aus Minnesota ließ den Ball überraschend fallen und trat ihn aus der Luft in die Hälfte der Chargers, wo er an der 30-Yard-Linie mit knapper Not gefangen wurde. Na, vielleicht schafft meine Mannschaft den Ausgleich, dachte Yankevich. Diesen Wills sollte man erschießen.
Dawkins ging zum Nordende des Stadions und sah einen Geldtransporter von Wells Fargo an der unteren Laderampe stehen. Ein Mann mühte sich damit ab, Säcke, die vermutlich Münzen enthielten, hinauszuwuchten.
»Wo hakt’s?«
»Der Fahrer hat sich das Knie aufgeschlagen und läßt sich gerade verarzten. Packen Sie mal mit an?«
»Drinnen oder draußen?« fragte Dawkins.
»Reichen Sie mir die Säcke raus. Aber seien Sie vorsichtig, die Dinger sind schwer.«
»Kapiert.« Dawkins sprang in den Laderaum. Das Innere des gepanzerten Fahrzeugs war von Regalen gesäumt, in denen zahllose Säcke mit Kleingeld, offenbar vorwiegend Vierteldollarmünzen, lagen. Er hob einen Beutel an und stellte fest, daß er tatsächlich viel wog. Der Beamte schob sich den Blockhalter unter den Gürtel und ging an die Arbeit, reichte die Säcke hinaus auf die Laderampe, wo der Mann von Wells Fargo sie auf einem zweirädrigen Karren stapelte. Typisch, daß mir der Sergeant so was zuschiebt, dachte Dawkins.
Yankevich traf den Lieutenant am Tor für die Medien und ging mit ihm auf das verdächtige Fahrzeug zu. Der Lieutenant schaute durchs Fenster. »Ein großer Kasten, auf dem ›Sony‹ steht... Moment, laut Aufdruck ist das ein Videobandgerät.«
Sergeant Yankevich wiederholte, was Dawkins berichtet hatte. »Ist wahrscheinlich harmlos, aber...«
»Genau – aber. Ich gehe den Chef des ABC-Teams suchen und verständige den Bombenräumtrupp. Sie warten hier und behalten das Fahrzeug im Auge.«
»Ich habe ein Brecheisen im Wagen. Wenn Sie wollen, knacke ich den Transporter.« Auf so etwas verstehen sich alle Polizisten.
»Wird wohl nicht erforderlich sein. Darüber sollen sich die Sprengstoffexperten den Kopf zerbrechen. Außerdem haben wir es wahrscheinlich wirklich nur mit einem Bandgerät zu tun. Vielleicht wurde das ursprünglich defekte Gerät repariert, und dieses hier ist jetzt überflüssig.«
»Okay, Lieutenant.« Yankevich holte sich noch einen Kaffee und ging dann zurück ins Freie, wo er sich so gerne aufhielt. Hinter den Rocky Mountains ging die Sonne unter, und das war trotz der arktischen Temperaturen und des eisigen Winds ein herrliches Schauspiel. Der Polizist ging an den SatellitenÜbertragungswagen vorbei, um die orangeglühende Scheibe hinter den Schleiern wehenden Schnees versinken zu sehen. Es gab noch schönere Dinge als Football. Als die Sonne hinter dem Kamm verschwunden war, machte er kehrt, um sich den Kasten in dem Transporter noch einmal anzusehen. Er sollte ihn nicht erreichen.